Montag, 23. Dezember 2013

Über das Glück

von Lew Tolstoi

Die Situation des Menschen, der vorwärtsschreitet, einem Glück entgegen, das sich immer wieder von ihm entfernt, lässt sich mit dem vergleichen, was man, wie mir erzählt wurde, mit störrischen Pferden macht. Vorn an der Deichsel wird ein Stück Brot mit Salz so befestigt, dass das Pferd es wittert, aber nicht erreichen kann. Und nun streckt und bewegt es sich, um an das Brot heranzukommen, doch gerade diese Bewegung schiebt das Brot weiter fort, und so bis in alle Ewigkeit. Ebenso ist es bei den Menschen.
Das Glück lässt sich nie erreichen, denn beim Erreichen einer Glücksstufe wird sogleich eine neue sichtbar. Glück aber ist die unendliche Vollkommenheit, wie Gott.
Was folgt daraus?
Nur das eine: Der Mensch kann und muss wissen; das Glück seines Lebens liegt nicht im Erreichen eines vor ihm stehenden Zieles, sondern in der Bewegung um des höchsten, ihm unzugänglichen Zieles willen.

Gute Nacht!

Donnerstag, 19. Dezember 2013

Ist die Geschichte gerecht?

von Stefan Zweig

»Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird genommen, auch was er hatte.«
Dieses Wort, obzwar 2000 Jahre alt, gilt unvermindert auch in der Gegenwart. Wo Erfolg, da strömt Erfolg zu, wo Reichtum, da neues, frisches, quellendes Gold und überdies noch die Anbetung vor dem Golde, der freiwillige Enthusiasmus der Mitläufer und matten Seelen, denn Macht ist die geheimnisvolle Materie der Welt. Magnetisch zieht sie den einzelnen, suggestiv die Masse an, die selten fragt, wo diese Macht gewonnen und wem sie weg genommen ist, sondern nur ihr Dasein als eine Steigerung ihrer eigenen Existenz blind hingegen empfindet. Immer war es die gefährlichste Eigenschaft der Völker, sich selbst freiwillig unter das Joch zu stellen, sich begeistert in die Knechtschaft zu stürzen. Und am liebsten unter eine des Erfolges.
Jeder Gegenwart gilt dies grausame Wort, daß dem, der da hat, noch gegeben wird. Aber sonderbarer als dies: auch die Geschichte, auch sie, die leidenschaftslos sein sollte, klarsinnig und gerecht, auch sie hat die Neigung, nachträglich dem recht zu geben, der im wirklichen Leben äußerlich recht behalten hat; auch sie neigt sich, wie die meisten Menschen, zur Seite des Erfolges, auch sie vergrößert noch nachträglich die Großen, die Sieger, und verkleinert oder verschweigt die Besiegten. Auf die Berühmten häuft sie zu ihrem tatsächlichen Ruhm noch die Legende, und jeder Große erscheint in der Optik der Geschichte fast immer noch größer, als er wirklich gewesen — den unzähligen Kleinen wird genommen, was dem Großen zugetan wird.
Auf die Monarchen wird der Fleiß und der Heroismus ihrer Untertanen gehäuft, immer nimmt die Geschichte aus der Notwendigkeit der Verkürzung auf wenige Namen und Gestalten Unzähligen ihre Tat und schiebt sie dem Stärkeren zu, denn: »Wer nicht hat, dem wird genommen, was er hatte.« Darum tut es not, Geschichte nicht gläubig zu lesen, sondern neugierig mißtrauisch, denn sie dient, die scheinbar unbestechliche, doch der tiefen Neigung der Menschheit zur Legende, zum Mythos — sie heroisiert bewußt oder unbewußt einige wenige Helden zur Vollkommenheit und läßt die Helden des Alltags, die heroischen Naturen des zweiten und dritten Ranges ins Dunkel fallen. Legende aber ist immer, gerade durch das Verführerische, durch den Abglanz von Vollkommenheit, der gefährlichste Feind der Wahrheit.


Gute Nacht!

Montag, 16. Dezember 2013

Exegi momentum

von Alexander Puschkin
 
Ein Denkmal baut ich mir, wie Hände keins erheben,
Des Volkes Pfad zu ihm wächst niemals zu; es wagt
Unbänd'gen Hauptes höher himmelan zu streben,
Als Alexanders Säule ragt.

 
Nein, ganz vergeh ich nicht - im heil`gen Klang der Saiten
Lebt unverweslich, wenn der Leib zerfiel, mein Geist -
Lebendig wird ich sei, solang auf Erdenbreiten
Man einen einzigen Dichter preist.


So weit sich Russland dehnt, kennt jeder meine Muse,
Es nennt mich jedes Volk, das unser Reich umspannt:
Der Slawen stolzer Spross, der Finne, der Tunguse
Und der Kalmück am Steppenrand.


Und lang wird liebend mich das Volk im Herzen tragen,
Weil Edles ich erweckt mit meiner Leier Klang,
Weil ich die Freiheit pries in unsren strengen Tagen
Und Nachsicht mit den Opfern sang.


Dem Gott gehorsam, Muse, bleib auf deinen Pfaden,
Gleichmütig, ob man gut, ob bös man von dir spricht;
Verlange keinen Kranz und scheue keinen Schaden
Und wider Dummheit streite nicht.

Gute Nacht!

Dienstag, 10. Dezember 2013

Über die Lebenskunst

von Christoph Martin Wieland

Genieße was du hast, als ob du noch heute sterben solltest,
aber spar es auch, als ob du ewig lebtest.
Der allein ist weise, der, beides eingedenk, im Sparen zu genießen, im Genuss zu sparen weiß.

und Baruch de Spinoza

Die Vernunft ist mein Genuss, und das Ziel, wonach ich in diesem Leben strebe, ist die Freude und die Heiterkeit. Die Freude kann niemals schlecht sein, sofern sie durch das Gesetz unseres wahren Nutzens geregelt ist. Das tugendhafte Leben ist kein trauriges und düsteres Leben voll Entbehrungen und Strenge. Wie könnte die Gottheit am Schauspiel meiner Schwäche Gefallen finden, mir Tränen, Schluchzen und Schrecken zugute rechnen, die Zeichen einer ohnmächtigen Seele?
Ja, ein weiser Mensch soll die Dinge des Lebens benützen und sich ihrer soviel als möglich erfreuen, sich durch mäßige und angenehme Nahrung kräftigen, seine Sinne durch den Duft und die grünende Pracht der Pflanzen entzücken, selbst seine Kleidung schmücken, sich der Musik erfreuen, durch Spiele und Theater, durch alle Belustigungen, welche ein jeder sich gönnen kann, ohne Schaden für seine Person.
 
Gute Nacht!

Sonntag, 1. Dezember 2013

Erotisches Varieté

von Alfred Lichtenstein


Auf offner Straße in der Nacht
Entkleidet sich ein Kneipenwirt.
Ein Ingenieur ist aufgebracht,
Der sich bei seinem Weib verirrt.


Nach gleichgesinnten Viechern schielt
Ein homosexueller Hund.
Ein Greis, der mit sich selber spielt,
Merkt: Allzuviel ist ungesund.


In schmutzig grüner Tunke hockt
Ein blauer Syphilitiker.
Ein Boxer bebt. Ein Baby bockt.
Verstiert fault ein Zylinderherr.


Ein Auto bringt ein Fräulein um.
Ein Junge bricht ein Mädchen an.
Verbittert ist ein Mensch. Warum?
Weil er nicht coitieren kann.

Gute Nacht!

Dienstag, 26. November 2013

Über die Sprache

von Robert Musil

»Blech reden« ist ein mit Genie erfundenes Wort. Es enthält: das Glänzende, das nicht Gold ist; den durchdringend unangenehmen Klang; das Lebhafte, das Auswalzbare. Würde man »Blech schreiben« sagen, wie viele wichtige zeitgenössische Erscheinungen ließen sich damit erklären! Aber der Gebrauch dieses Worts ist in Abnahme begriffen. Irgendwann wird es wie »Aar« und »hehr« sein. Spätere Schriftstellergenerationen werden dann in Festreden sagen: »Die Väter haben Blech geschrieben«, und ein ungläubiger Schauer wird die Zuhörer ergreifen.
Warum kann die Sprache solche vollendeten Bildungen nicht festhalten? Wie man für alles Häßliche ein schmeichelhaftes Wort hat, nennt man dieses Sterben das Leben der Sprache. Also warum lebt die Sprache? Sie ist dabei doppelt so umständlich und lang geworden, als sie es vor einigen Jahrhunderten war, ohne dementsprechend an Ausdrucksfähigkeit zu gewinnen. Wir lassen die Artikel weg, wir lassen Zeitworte weg, wir lassen die Bedeutung weg; wir treten ihr vorne auf den Kopf und hinten auf den Schwanz, aber es nutzt nichts mehr, sie wird immer länger. Wir fühlen deutlich, daß sie immer häßlicher wird, ohne es ändern zu können. Es gibt da etwas, das wir beklagen, aber offenbar trotzdem unausgesetzt tun. Wenn irgend etwas ein Hundeleben heißen darf, so ist es das der Sprache!
Ich habe unlängst eine Hundeausstellung besucht, und dabei sind mir einige ihrer Teilnehmer aufgefallen, die verblüffend genau der Vorstellung entsprachen, die ich mir zeitlebens von dem Begriff »Köter« gemacht habe. Man nennt wohl so etwas, das vorn wie ein Windhund aussieht und hinten wie ein Dackel, rechts wie ein Bulldogg und links wie ein Terrier, eine »Promenadenmischung«.
Von solcher Rasse ist entwicklungsgesetzlich auch die menschliche und namentlich die deutsche Sprache. Die Sprachen der Kanzleien, der Zeitungen, der Studenten, der Gauner, der benachbarten Völker, der katholischen Kirche und des Römischen Imperiums haben im Guten wie im Schlechten ihre Spuren darin hinterlassen, und wenn man schon gegen das Gute nichts einwenden darf, warum tut man es dann nicht wenigstens gegen das Böse? Die berühmten Entwicklungsgesetze sagen uns leider, daß man es gegen das Böse am wenigsten tut. Aber auch die Sprachgewohnheiten sind Gewohnheiten; und warum nimmt man also mit besonderer Vorliebe schlechte Gewohnheiten an? Da mündet die Sprache, die dem Menschen aus dem Mund kommt, wieder in ihn und fährt von ihrer Ausgangsstellung einwärts bis an Herz und Nieren.
Denn die Vorliebe für schlechte Gewohnheiten ist ein bestimmter Grad des Vertrauens in die Aufgaben der Menschheit. Man nimmt sie an, weil der, der sie hat, das große Wort führt. Weil er imponiert. Weil sie Mode sind. Weil man sie täglich sieht und hört. Weil sie bequem sind und man selbst nicht gern nachdenkt. Aber in erster Linie nimmt man sie wohl doch nur deshalb an, weil sie eben keine guten sind. Wir fühlen uns erst, wenn wir uns recht schlecht aufführen, einigermaßen sicher, daß wir uns nicht geziert betragen.

Gute Nacht!

Sonntag, 17. November 2013

Tragische Geschichte

von Adelbert von Chamisso
 
's war einer, dem's zu Herzen ging,
Daß ihm der Zopf so hinten hing,
Er wollt es anders haben.

So denkt er denn: wie fang ich's an?
Ich dreh mich um, so ist's getan –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Da hat er flink sich umgedreht,
Und wie es stund, es annoch steht –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Da dreht er schnell sich anders 'rum,
's wird aber noch nicht besser drum –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Er dreht sich links, er dreht sich rechts,
Es tut nichts Guts, es tut nichts Schlechts –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Es dreht sich wie ein Kreisel fort,
Es hilft zu nichts, in einem Wort –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Und seht, er dreht sich immer noch,
Und denkt: es hilft am Ende doch –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Gute Nacht!

Sonntag, 10. November 2013

Über Toleranz

von Albert Einstein

Wenn ich nun darüber nachdenke, was eigentlich Toleranz sei, fällt mir die drollige Definition ein, die der humorvolle Wilhelm Busch von der Enthaltsamkeit gegeben hat:

Enthaltsamkeit ist das Vergnügen 
An Dingen, welche wir nicht kriegen.

So möchte ich sagen: Toleranz ist das menschenfreundliche Verständnis für Eigenschaften, Auffassungen und Handlunge anderer Individuen, die der eigenen Gewohnheit, der eigenen Überzeugung und dem eigenen Geschmack fremd sind. Toleranz heiß also nicht Gleichgültigkeit gegen das Handeln und Fühlen des oder der andern; es muss auch Verständnis und Einfühlung dabei sein…
Das Große und Edle kommt von der einsamen Persönlichkeit, sei es ein Kunstwerk oder eine bedeutende schöpferische wissenschaftliche Leistung. Die europäische Kultur erlebte ihren wichtigsten Aufschwung aus dumpfem Verharren heraus, als die Renaissance dem Individuum Möglichkeiten zur freien Entfaltung bot.
Die wichtigste Art der Toleranz ist deshalb die der Gesellschaft und des Staates gegen das Individuum. Der Staat ist gewiss nötig, um dem Individuum die Sicherheit für seine Entwicklung zu geben, aber wenn er zur Hauptsache wird und der einzelne Mensch zu seinem willenlosen Werkzeug, dann gehen alle feineren Werte verloren. Wie der Fels erst verwittern muss, damit Bäume auf ihm wachsen können, und der Ackerboden erst aufgelockert werden muss, damit er seine Fruchtbarkeit entfalten kann, so sprießen auch aus der menschlichen Gesellschaft nur dann wertvolle Leistungen hervor, wenn sie genügend gelockert ist, um dem einzelnen freie Entfaltung seiner Fähigkeiten zu ermöglichen.

Gute Nacht!

Dienstag, 5. November 2013

Vom Erfassen der menschlichen Seele

von Arthur Schnitzler

Stehst du am Fuß eines gewaltigen Bergmassivs, so weißt du noch lange nichts von dessen Vielfältigkeiten, ahnst nicht, welche Höhen hinter seinem Gipfel oder hinter dem, was dir als Gipfel erscheint, aufragen, ahnst weder die tückischen Abgründe noch die bequemen Ruheplätze, die zwischen den Felsen sich verbergen. Allmählich erst, während du emporsteigst und weiterschweifst, enthüllen sich dir die Geheimnisse der Berglandschaft, vermutete und überraschende, wesentliche und bedeutungslose, auch diese alle nur je nach der Richtung, die du nahmst; und niemals werden alle dir offenbar.
Einer menschlichen Seele gegenüber ergeht es dir nicht anders. Was dir, so nah du seist, im ersten flüchtigen Anblick vor Augen steht, ist noch nicht die Wahrheit, gewiss nicht die ganze. Auf dem Wege erst, wenn du scharfe Augen hast, und nicht Nebel dir den Blick trüben, erschließt sich dir allmählich und immer nur teilweise das innerste Wesen jener Seele. Und auch darin ist es das gleiche, dass dir, während du dich allmählich aus dem durchforschten Gebiete entfernst, all die Vielfältigkeit, die du auf deiner Wanderung erlebtest, wie ein Traum verblasst, und dass du, wenn du vor endgültigem Abschiednehmen noch einmal zurückschaust, wieder nichts anderes erblickst als jenes Massiv, das dir trügerischer Weise so einfach erschien, und jenen Gipfel, der es gar nicht war.
Nur Richtung ist Realität, das Ziel ist immer eine Fiktion, auch das erreichte - und dieses oft ganz besonders.
 
Gute Nacht!

Montag, 28. Oktober 2013

Beherzigung

von Eugen Roth
Ein Mensch, der sich zu gut erschienen,
Als Vorstand dem Verein zu dienen,
Und der, bequem, sich ferngehalten,
Die Kasse etwa zu verwalten,
Der viel zu faul war, Schrift zu führen,
Kriegt einst der Reue Gift zu spüren.
Sein sechszigster Geburtstag naht -
Wo schreitet wer zur Glückwunschtat?
Tut dies am Ende der Verein?
Nur für ein unnütz Mitglied? Nein!
Kein Ständchen stramm, kein Festprogramm,
Auch kein Ministertelegramm,
Kein Dankesgruß der Bundesleitung
Und keine Zeile in der Zeitung.
Wird etwa gar dann sein Begräbnis
Ihm selbst und andern zum Erlebnis?
Sieht man dortselbst Zylinder glänzen?
Schwankt schwer sein Sarg hin unter Kränzen?
Spricht irgendwer am offnen Grabe,
Was man mit ihm verloren habe?
Entblößt sich dankbar eine Stirn?
Läßt eine Hand im schwarzen Zwirn
Auf seinem Sarg die Schollen kollern
Bei Fahnensenken, Böllerbollern? -
An seinem Grab stehn nur der Pfarrer
Und die bezahlten Leichenscharrer.
Der Mensch, der dies beschämend fand,
Ward augenblicks Vereinsvorstand. 

Gute Nacht!

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Über das Absurde

von Albert Camus

Man entdeckt das Absurde nicht, ohne in die Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben. „Was! Auf so schmalen Wegen...?“ Es gibt aber nur eine Welt. Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Irrtum wäre es, wollte man behaupten, daß das Glück zwangsläufig der Entdeckung des Absurden entspringe. Wohl kommt es vor, daß das Gefühl des Absurden dem Glück entspringt. „Ich finde, daß alles gut ist“, sagt Ödipus, und dieses Wort ist heilig. Es wird in dem grausamen und begrenzten Universum des Menschen laut. Es lehrt, daß noch nicht alles erschöpft ist, daß noch nicht alles ausgeschöpft wurde. Es vertreibt aus dieser Welt einen Gott, der mit dem Unbehagen und mit der Vorliebe für nutzlose Schmerzen in sie eingedrungen war. Es macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß.
Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, das plötzlich wieder seinem Schweigen anheimgegeben ist, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen der Erde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen aller Gesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennenlernen. Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung,die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt von  dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs - ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.

Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. 
Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Gute Nacht!

Samstag, 19. Oktober 2013

Ja, das möcht ich noch erleben

von Theodor Fontane

Eigentlich ist mir alles gleich,
Der eine wird arm, der andre wird reich,
Aber mit Bismarck – was wird das noch geben?
Das mit Bismarck, das möcht' ich noch erleben.

Eigentlich ist alles soso,
Heute traurig, morgen froh,
Frühling, Sommer, Herbst und Winter,
Ach, es ist nicht viel dahinter.

Aber mein Enkel, so viel ist richtig,
Wird mit nächstem vorschulpflichtig,
Und in etwa vierzehn Tagen
Wird er eine Mappe tragen,
Löschblätter will ich ins Heft ihm kleben –
Ja, das möcht' ich noch erleben.

Eigentlich ist alles nichts,
Heute hält's, und morgen bricht's,
Hin stirbt alles, ganz geringe
Wird der Wert der ird'schen Dinge;
Doch wie tief herabgestimmt
Auch das Wünschen Abschied nimmt,
Immer klingt es noch daneben:
Ja, das möcht' ich noch erleben.

Gute Nacht!

Sonntag, 13. Oktober 2013

Ist der Mensch von Natur aus böse?

von Voltaire

Dass der Mensch weder böse noch als ein Kind des Teufels zur Welt kommt, scheint mir erwiesen. Wenn seine Natur so beschaffen wäre, würde er Schandtaten und Grausamkeiten begehen, sobald er laufen könnte, würde das erste beste Messer nehmen, um jeden umzubringen, der ihm missfiele. Er würde dann notwendigerweise den jungen Wölfen und Füchsen gleichen, die zubeißen, sobald sie dazu imstande sind.
In Wirklichkeit hat der Mensch überall auf der Erde als Kind die Natur eines Lammes. Warum also und auf welche Weise wird er so oft zum Wolf und zum Fuchs? Nun, er kommt weder gut noch böse zur Welt, aber die Erziehung, das gute oder schlechte Beispiel, die Staatsordnung, in die er hineingesetzt wird, kurz, die äußeren Umstände und Gelegenheiten bestimmen ihn zur Tugend oder zum Verbrechen.
Vielleicht konnte die menschliche Natur nicht anders sein. Der Mensch konnte nicht immer falsch und nicht immer richtig denken, er konnte nicht immer zur Sanftmut und nicht immer zur Grausamkeit neigen.
Es scheint mir erwiesen, dass die Frauen besser sind als die Männer. Auf eine Klytämnestra kommen hundert feindliche Brüder.
Es gibt Berufe, die das Gemüt notwendigerweise verhärten. Das gilt für die Soldaten, für die Schlächter, für die Polizisten, für die Kerkermeister, für alle Berufe, die sich auf das Unglück anderer Menschen gründen.
[...]Es gibt noch abscheulichere Berufe, die trotzdem begehrt sind wie Domherrnpfründe.
Es gibt Berufe, die einen anständigen Menschen zum Schurken machen und ihn wider seinen Willen ans Lügen und Betrügen gewöhnen, ohne dass er es richtig merkt, die ihn daran gewöhnen, eine Binde vor den Augen zu tragen, sich durch die Interessen und den Dünkel seines Standes verblenden zu lassen und die Menschen ohne Gewissensbisse zu verdummen.
Die Frauen, unablässig mit der Erziehung ihrer Kinder beschäftigt und von ihren häuslichen Sorgen in Anspruch genommen, sind von all diesen Berufen, die die menschliche Natur verderben und verrohen, ausgeschlossen. Sie sind überall weniger roh als die Männer. Das Körperliche verbindet sich mit dem Moralischen, um die Frauen von schweren Verbrechen fernzuhalten. Ihr Blut ist sanfter, und sie neigen weniger zu starken Getränken, die verrohend wirken. Ein klarer Beweis dafür ist die Tatsache, dass, wie wir an anderer Stelle nachgewiesen haben, auf tausend Opfer der Justiz, auf tausend Hinrichtungen wegen Mordes kaum vier Frauen kommen. Ich glaube nicht einmal, dass in Asien auch nur zwei Frauen wegen Mordes zum Tode verurteilt worden sind.
Es scheint also, dass unsere Sitten und Gebräuche die Männer bösartig gemacht haben.
Wäre dies allgemein und ohne Ausnahme der Fall, so wäre das männliche Geschlecht scheußlicher, als es in unseren Augen die Spinnen, die Wölfe und die Marder sind. Glücklicherweise aber gibt es nur sehr wenige Berufe, die das Herz verhärten und abscheuliche Leidenschaften in ihm wecken.
[...]Trösten wir uns mit der Feststellung, dass es von Peking bis La Rochelle immer edle Menschen gegeben hat und geben wird.


Gute Nacht!

Dienstag, 1. Oktober 2013

Drei Bären

von Heinz Erhardt


Ein Brombär, froh und heiter, schlich
durch einen Wald. Da traf es sich,
daß er ganz unerwartet, wie's
so kommt, auf einen Himbär stieß.

Der Himbär rief, vor Schrecken rot:
"Der grüne Stachelbär ist tot!
Am eignen Stachel starb er eben!"
"Ja", sprach der Brombär, "das soll's geben!"
und trottete -nun nicht mehr heiter - weiter...

Doch als den "Toten" er nach Stunden
gesund und munter vorgefunden,
kann man wohl zweifelsohne meinen:
Hier hat der andre Bär dem einen
'nen Bären aufgebunden!

Gute Nacht!

Freitag, 27. September 2013

Schuldbewusstsein

von Raphael M. Bonelli
 
Schuldbewusstsein, Schuldgefühle, Gewissensbisse und ein „schlechtes Gewissen“ sind an und für sich Zeichen für psychische Gesundheit. Das klingt für den Laien provokant, leuchtet aber sofort ein, wenn man psychotherapeutisch mit Missbrauchstätern gearbeitet hat. Am Anfang der Therapie wird der traurige Tatbestand in der Regel geleugnet, verharmlost und uminterpretiert. Als Therapieerfolg werten muss man ja schon einen zarten Schimmer von Unrechtsverständnis – und eben ein wachsendes Schuldbewusstsein. Es geht nicht darum, dem Missbrauchstäter Schuldgefühle einzupflanzen, es geht darum, die verdrängte Schuld ins Bewusstsein zurückzuholen. Denn nur dieses Bewusstsein von Schuld macht Reue und damit eine Verhaltensänderung möglich.
 
Schuldbewusstsein ist ein kreatives Potenzial: Es für denkbar und möglich zu halten, etwas falsch gemacht zu haben, öffnet neue Handlungshorizonte. Fehlendes Schuldbewusstsein bedeutet nicht etwa das Fehlen von Schuld, sondern die Verdrängung der Schuld aus dem Bewusstsein, die jetzt im Unterbewussten ein Eigenleben führt. Verdrängte Schuld engt den Menschen ein und nimmt ihm Handlungsspielraum. 

[...] Ein "schlechtes Gewissen" ist die Erinnerung an eine eigene Handlung, die im Nachhinein als unrichtig, schädlich, schlecht, ja böse beurteilt wird. Auch das ist keine schwere Krankheit - und man kann es oft durch eine Entschuldigung aus der Welt schaffen. Ein Killerargument im menschlichen Zusammenleben lautet: "Du machst mir jetzt ein schlechtes Gewissen." Das ist ein Paradoxon: Als ob ein schlechtes Gewissen schon ein klarer Hinweis auf Unschuld wäre - und auf einen aggressiven Übergriff des Partners. Wir laufen damit nur Gefahr, durch halbgebildete Küchenpsychologie und Stammtischpädagogik uns gegenseitig das Leben zu erschweren: Durch eine zunehmende Psychologisierung des Alltags werden unter anderem psychoanalytische Hypothesen in banalisierter Form in Umlauf gesetzt. Tatsächlich macht ein gesundes Schuldbewusstsein überhaupt erst beziehungsfähig.

Gute Nacht!

Sonntag, 22. September 2013

Nach den Wahlen

von Ludwig Thoma

Es schreit nicht mehr in fetten Schriften
Das Für und Wider von der Wand.
So laßt uns alle Frieden stiften!
Ein jeder reiche seine Hand!

Zur Menschheit wird auf diesem Wege
Die heißentflammte Wählerschar;
Und wieder Nachbar und Kollege
Ist, wer noch gestern Schurke war.

Gute Nacht!

Dienstag, 17. September 2013

Über die Laster der Menschen

von Immanuel Kant
 
Die tierische Unmäßigkeit, im Genuß der Nahrung, ist der Mißbrauch der Genießmittel, wodurch das Vermögen des intellektuellen Gebrauchs derselben gehemmt oder erschöpft wird. Versoffenheit und Gefräßigkeit sind die Laster, die unter diese Rubrik gehören. Im Zustande der Betrunkenheit ist der Mensch nur wie ein Tier, nicht als Mensch, zu behandeln; durch die Überladung mit Speisen und in einem solchen Zustande ist er für Handlungen, wozu Gewandtheit und Überlegung im Gebrauch seiner Kräfte erfordert wird, auf eine gewisse Zeit gelähmt. 

Daß sich in einen solchen Zustand zu versetzen Verletzung einer Pflicht wider sich selbst sei, fällt von selbst in die Augen. Die erste dieser Erniedrigungen, selbst unter die tierische Natur, wird gewöhnlich durch gegorene Getränke, aber auch durch andere betäubende Mittel, als den Mohnsaft und andere Produkte des Gewächsreichs, bewirkt, und wird dadurch verführerisch, daß dadurch auf eine Weile geträumte Glückseligkeit und Sorgenfreiheit, ja wohl auch eingebildete Stärke hervorgebracht, Niedergeschlagenheit aber und Schwäche, und, was das Schlimmste ist, Notwendigkeit, dieses Betäubungsmittel zu wiederholen, ja wohl gar damit zu steigern, eingeführt wird.

Gute Nacht!

Freitag, 13. September 2013

Über die wahre Freundschaft

von Cicero
 
Die Freundschaft ist nichts anderes als vollkommenste Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen, mit Wohlwollen und liebevoller Achtung verbunden. Mit Ausnahme der Weisheit glaube ich nicht, dass den Menschen von den Göttern etwas Besseres verliehen sei. Einige ziehen den Reichtum vor, andere eine feste Gesundheit, andere Macht, noch andere Ehrenstellen, viele sogar die sinnlichen Lüste. Das letzte ist tierisch; die anderen Güter aber sind vergänglich und ungewiss; auch hängen sie nicht von unserer Einsicht, sondern von den Launen des Glückes ab. Wer das höchste Glück in die Tugend setzt, zeigt dadurch eine herrliche Gesinnung; die Tugend gerade aber ist es, welche die Freundschaft erzeugt und erhält, und ohne Tugend findet Freundschaft sich auf keine Weise. 
Die hohe Bedeutung der Freundschaft ergibt sich vornehmlich daraus, dass aus der unendlich großen Gesellschaft des menschlichen Geschlechts überhaupt, die schon die Natur gestiftet hat, dies Verhältnis sich so zusammengezogen und eingeengt hat, dass sich das Band der Wertschätzung immer nur zwischen zwei oder wenigen Personen anknüpft. Nichts ist der Natur so angemessen, nichts unseren Bedürfnissen im Glück und Unglück so zusagend wie Freundschaft. 
Dem Glück verleiht die Freundschaft schöneren Glanz. Widerwärtiges erleichtert sie durch Mitgefühl und Teilnahme. Die aus dem Leben die Freundschaft wegnehmen, nehmen aus dem Weltenraum die Sonne weg. Weil der regelrechte Ratgeber der wahren Freundschaft die Tugend ist, so wird es eine schwierige Sache sein, eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, wenn Du vom Wege der Tugend abgewichen bist. Die meisten Menschen wollen törichter-, um nicht zu sagen unverschämterweise einen Freund besitzen, wie sie selbst nicht sein können; und was sie selbst ihren Freunden nicht zu leisten vermögen, das verlangen sie von ihnen.
Wer sein Ohr der Wahrheit so verschließt, dass er sie nicht einmal von seinen Freunden hören will, an dessen Rettung ist zu zweifeln.


Gute Nacht!

Samstag, 7. September 2013

Beruf des Storches

von Johann Wolfgang Goethe

Der Storch, der sich von Frosch und Wurm
An unserm Teiche nähret,
Was nistet er auf dem Kirchenturm,
Wo er nicht hingehöret?



Dort klappt und klappert er genug,
Verdrießlich anzuhören;
Doch wagt es weder alt noch jung
Ihm in das Nest zu stören.



Wodurch - gesagt mit Reverenz -
Kann er sein Recht beweisen,
Als durch die löbliche Tendenz
Aufs Kirchendach zu . . .

Gute Nacht!

Mittwoch, 4. September 2013

Vom Alter – De senectute

von Norberto Bobbio

Die Welt der alten Menschen, aller alten Menschen, ist in mehr oder weniger ausgeprägter Form die Welt der Erinnerung. Man sagt: am Ende bist du das, was du gedacht, geliebt, vollbracht hast. Ich möchte hinzufügen: du bist das, was du erinnerst. Außer den Gefühlen, die du geweckt hast, den Gedanken, die du gedacht hast, den Taten, die du vollbracht hast, sind die Erinnerungen, die du bewahrt und nicht in dir ausgelöscht hast, deine Reichtümer, und du bist nun ihr einziger Wächter. Die Dimension, in der der alte Mensch lebt, ist die Vergangenheit. Die Zeitspanne, die die Zukunft noch für ihn bereithält, ist zu kurz, als dass er sich Gedanken um das machen müsste, was kommen wird.

Verschwende die kurze Zeit nicht, die dir noch bleibt. Geh deinen Weg in Gedanken noch einmal. Die Erinnerungen werden dir helfen. Aber die Erinnerungen werden nicht auftauchen, wenn du nicht hingehst, sie in den entferntesten Winkeln deines Gedächtnisses aufzustöbern. (...) In der Erinnerung findest du (...) dich selber wieder, deine Identität. Die meisten von denen, die zu deiner Begleitung gehörten, haben dich inzwischen verlassen. (...) In dem Moment, da du sie dir ins Gedächtnis zurückrufst, lässt du sie wieder leben, einen Moment wenigstens, und damit sind sie nicht gänzlich tot, sind nicht vollkommen im Nichts verschwunden (...).

Gute Nacht!

Montag, 26. August 2013

Die Frage nach dem Wesen des Staates

von Octavio Paz

Die große Realität des 20. Jahrhunderts ist der Staat.
Sein Schatten bedeckt den ganzen Planeten. Wenn in der Welt ein Gespenst umgeht, ist dieses Gespenst nicht der Kommunismus, sondern die in der ganzen Welt entstandene neue Klasse: die Bürokratie.
Auch wenn der Begriff Bürokratie auf diese gesellschaftliche Gruppe vielleicht nur bedingt anwendbar ist. Die alte Bürokratie war keine Klasse, sondern eine Kaste von Funktionären, die das Staatsgeheimnis verband, während die heutige Bürokratie wirklich eine Klasse ist, gekennzeichnet durch das Monopol nicht nur in Dingen der Verwaltung, wie die frühere, sondern auch durch das Monopol im technischen Wissen.
Noch entscheidender ist: sie hat die Kontrolle über die Waffen, und in kommunistischen Ländern die Kontrolle über die Wirtschaft und über die Medien und die Werbung. Aus allen diesen Gründen, gleich wie wir die moderne Bürokratie definieren, ist die Frage nach dem Wesen des Staates die Hauptfrage unserer Zeit.
Leider ist das Interesse an diesem Thema bei den Studenten erst vor kurzem wieder erwacht. Zu allem Unglück besitzt keine der beiden herrschenden Ideologien, die liberale und die marxistische, genügende Elemente, die es uns ermöglichten, eine kohärente Antwort zu formulieren.
Die anarchistische Tradition ist ein wertvolles Präzedenz, doch muss man sie erneuern und ihre Analysen extendieren. Der Staat, den Proudhon und Bakunin kannten, ist nicht der totalitäre Staat Hitlers, Stalins und Maos.
So bleibt die Frage nach dem Wesen des Staates im zwanzigsten Jahrhundert unbeantwortet.
Als Urheber der Wunder, der Verbrechen, der Herrlichkeit und des Unheils der letzten 70 jahre war und ist der Staat, nicht das Proletariat  noch die Bourgeoisie der Held des Jahrhunderts. Seine Realität ist enorm, derart enorm, dass sie irreal erscheint. Der Staat ist überall, aber er hat kein Gesicht. Wir wissen weder, was noch wer er ist. Wie die Buddhisten der ersten Jahrhunderte, die den Erleuchteten nur durch seine Attribute darstellen konnten, erkennen wir den Staat nur an dem Ausmaß seiner Verheerungen. Er ist körperlos, keine leibhaftige Erscheinung, sondern Herrschaft. 
Er ist die Unperson!

Gute Nacht!

Sonntag, 18. August 2013

Wie der Wille alles vermag und wie alle Tugend am guten Willen liegt

von Meister Eckhart

Der Mensch soll sich durch gar nichts entmutigen lassen, solang er sich guten Willens weiß. Und soll sich nicht betrüben, wenn es ihm schwer wird, den Willen zur Tat zu vollbringen.
Ja, er soll sich dem Guten nicht mehr ferne glauben, wenn er den rechten guten Willen in sich findet. Es fehlt dir nichts mehr, wenn du echten rechten Willen hast. Weder Minne noch Demut noch sonst eine Tugend, sondern was du mit aller Kraft und ganzem Willen willst, das hast Du schon und kein Gott und keine Kreatur kann dir's rauben! Wenn dein Wille ein ganzer ist und Gottes wegen will und vor ihm gegenwärtig stehe. Kein "Ich wollte wohl", nein, das wäre Künftiges, sondern "Ich will", dass es jetzt so also sei!
Hab acht, wär ein Ding auch tausend Meilen weg und ich will es haben, so ist es noch eigentlicher mein Eigen, als was ich in meinem Schoß halte, ohne seiner zu begehren.
Es kommt alles auf den Willen an und da ist denn der gute nicht minder kräftig zum Guten als der böse zum Bösen. Das lass dir gesagt sein, wenn ich auch nie die böse Tat vollbringe und habe doch den Willen zum Bösen, so hab ich die Sünde, als hätte ich schon die Tat selbst vollbracht.
Ich kann mit einem einzigen gründlich bösen Wollen so schwere Sünde tun, als hätte ich alle Welt gemordet und hab doch keinen Finger dazu gerührt. Warum nun sollte solche Macht nicht auch der gute Wille haben? Ja! Noch viel, viel mehr.


Gute Nacht!

Freitag, 2. August 2013

Lampe und Spiegel

von Joachim Ringelnatz
 
"Sie faule, verbummelte Schlampe!"
sagte der Spiegel zur Lampe.
"Sie altes, schmieriges Scherbenstück!"
gab die Lampe dem Spiegel zurück.
Der Spiegel in seiner Erbitterung
bekam einen ganz gewaltigen Sprung.
Der zornigen Lampe verging die Puste:
Sie fauchte, rauchte, schwelte und ruste.
Das Stubenmädchen ließ beide in Ruhe
und doch - man schob ihr die Schuld in die Schuhe.

Gute Nacht!

Dienstag, 30. Juli 2013

Über die Heiterkeit

von Arthur Schopenhauer

Was einer in sich ist und an sich selber hat; kurz die Persönlichkeit und deren Wert, ist das alleinige Unmittelbare zu seinem Glück und Wohlsein. Alles andere ist mittelbar; daher auch dessen Wirkung vereitelt werden kann, aber die der Persönlichkeit nie. Darum eben ist der auf persönliche Vorzüge gerichtete Neid der unversöhnlichste, wie er auch der am sorgfältigsten verhehlte ist. Ferner ist allein die Beschaffenheit des Bewußtseins das Bleibende und Beharrende, und die Individualität wirkt fortdauernd, anhaltend, mehr oder minder in jedem Augenblick: alles andere hingegen wirkt immer nur zu Zeiten, gelegentlich, vorübergehend, und ist zudem auch noch selbst dem Wechsel und Wandel unterworfen[...]
Hierauf beruht es, daß wir ein ganz und gar von außen auf uns gekommenes Unglück mit mehr Fassung ertragen, als ein selbstverschuldetes: denn das Schicksal kann sich ändern; aber die eigene Beschaffenheit nimmer. Demnach also sind die subjektiven Güter, wie ein edler Charakter, ein fähiger Kopf, ein glückliches Temperament, ein heiterer Sinn und ein wohlbeschaffener, völlig gesunder Leib, also überhaupt: ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, zu unserm Glücke die ersten und wichtigsten; weshalb wir auf die Beförderung und Erhaltung derselben viel mehr bedacht sein wollten, als auf den Besitz äußerer Güter und äußerer Ehre. Was nun aber, von jenen allen, uns am unmittelbarsten beglückt, ist die Heiterkeit des Sinnes: denn diese gute Eigenschaft belohnt sich augenblicklich selbst. Wer eben fröhlich ist hat allemal Ursache es zu sein: nämlich eben diese, daß er es ist. Nichts kann so sehr, wie diese Eigenschaft, jedes andere Gut vollkommen ersetzen; während sie selbst durch nichts zu ersetzen ist. Einer sei, jung, schön, reich und geehrt; so fragt sich, wenn man sein Glück beurteilen will, ob er dabei heiter sei: ist er hingegen heiter, so ist es einerlei, ob er jung oder alt, gerade oder bucklig, arm oder reich sei; er ist glücklich. In früher Jugend machte ich einmal ein altes Buch auf, und da stand: »wer viel lacht ist glücklich, und wer viel weint ist unglücklich« – eine sehr einfältige Bemerkung, die ich aber, wegen ihrer einfachen Wahrheit, doch nicht habe vergessen können[...]
Dieserwegen also sollen wir der Heiterkeit, wenn immer sie sich einstellt, Tür und Tor öffnen: denn sie kommt nie zur unrechten Zeit; statt daß wir oft Bedenken tragen, ihr Eingang zu gestatten, indem wir erst wissen wollen, ob wir denn auch wohl in jeder Hinsicht Ursache haben, zufrieden zu sein; oder auch, weil wir fliehten, in unsern ernsthaften Überlegungen und wichtigen Sorgen dadurch gestört zu werden: allein was wir durch diese bessern, ist sehr ungewiß; hingegen ist Heiterkeit unmittelbarer Gewinn. Sie allein ist gleichsam die bare Münze des Glückes und nicht wie alles andere, bloß der Bankzettel; weil nur sie unmittelbar in der Gegenwart beglückt[...]


Gute Nacht!

Sonntag, 21. Juli 2013

Der Rabe

von Edgar Allan Poe (Übersetzung: Lutz Görner)
 

Einst in dunkler Nacht voll Schauer sann ich angefüllt mit Trauer
Über manche lang verschollne Kunde in den Büchern schwer.
Als in Halbschlaf ich gefallen, drang im Traum zu mir ein Schallen,
Von der Türe her ein Hallen, so als klopfte irgendwer.
»Pocht so spät noch irgend jemand?« gähnte ich, »so spät noch – wer?
Ein Besucher, sonst nichts mehr.«
 

Wenn ich recht erinnre, war es in dem bleichen Rest des Jahres.
Geisternd kam ein sonderbares Flackern vom Kamine her.
Tief ersehnte ich den Morgen, denn umsonst wars, Trost zu borgen
Aus den Büchern für mein Sorgen. Denn mir war das Herz so sehr
Um Lenore, die Geliebte, traurig, bitter, kalt und schwer –
Ach, hier lebt sie nun nicht mehr.
 

Mutig mich vom Stuhl erhob ich und zurück den Riegel schob ich:
Schreckensvolle Bilder sehend, die kein Mensch gesehn vorher.
Doch es herrschte ungebrochen Schweigen, aus dem Dunkel krochen
Keine Zeichen, und gesprochen ward von mir nur ein Wort – schwer:
Nur: »Lenore?« – und ’Lenore’ scholl das Echo zu mir her –
Dieses Wort nur, sonst nichts mehr.
 

Ich ging drauf zurück ins Zimmer, doch mein Herz erschrak noch schlimmer,
Weil ich wieder Klopfen hörte, ungestümer als vorher.
»Sollt ich«, sprach ich, »mich nicht irren, hört ichs jetzt vom Fenster klirren.
Oh, ich werde bald entwirren, was des Rätsels Lösung wär.
Still mein Herz, noch eine Weile, dass ich mir das Ding erklär! –
Wind, der pocht und – sonst nichts mehr!«
 

Hastig stieß ich auf das Fenster. Flatternd kam herein ein ernster,
Stattlich großer, schwarzer Rabe wie aus alten Sagen schwer.
Ohne eines Grußes Zeichen sah ich ihn den Raum durchstreichen.
Würdevoll wie seinesgleichen, flog er durch die Kammer quer
Schnurstracks auf die Pallasbüste über meiner Türe her.
Setzte sich und – sonst nichts mehr.
 

Doch das würdige Gebaren dieses schwarzen Sonderbaren
Wie er auf der Büste thronte, das erheiterte mich sehr.
»Rabe, schwärzer noch als Mohren, sprich, was hast du hier verloren?
Niemand hat dich herbeschworen aus dem Reich am Nebelmeer.
Tu mir kund, wie heißt du, Stolzer aus der Toten Geisterheer!«
Sprach der Rabe: »Nimmermehr!«
 

Wie ein Mensch sprach er verständlich – ich erstaunte drob unendlich,
Dass er Antwort mir erteilte, wenn auch klug nicht allzu sehr.
Und ich dachte ganz beklommen: »Hat man jemals es vernommen,
Dass ein Rabe angekommen in der Nacht von ungefähr
Und auf einer Büste thronend, unbeweglich so wie der
Mit dem Namen: Nimmermehr?«
 

Grübelnd an den Sinn verloren, den dies ’Nimmermehr’ beschworen,
Fühlte ich des finstren Toren Feuerblick im Herzen schwer.
Auf dem samtnen Sofa liegend, dachte ich, nach vornmich biegend
Und im fahlen Lichte wiegend mit verzehrender Begehr:
»Hier bei mir auf diesen Kissen ruht Lenore nimmermehr,
Nimmer, nimmer, nimmermehr!«
 

»Ob der Rabe tilgt die Zweifel, mir Prophet oder mir Teufel,
Über Leonore droben, nach der ich mich so verzehr?
Sag! Schließ ich am Sternentore in die Arme einst Lenore?
Ewige Musik im Ohre? Frei von irdischer Beschwer?
Finde ich, die ich verloren, diesen Engel, hell undhehr?«
Sprach der Rabe: »Nimmermehr!«
 

Und nun war ich wie von Sinnen: »Hebe dich, du Feind, von hinnen,
Satansrabe, voller Tücke, fort ins Reich am Nebelmeer!
Deine Macht will ich dir brechen, deine Lügen, diese frechen,
Wollen mir das Herz zerstechen mit dem Schnabel scharf wie Speer!
Schere dich von meiner Türe! Schwinde ohne Wiederkehr!«
Sprach der Rabe: »Nimmermehr!«
 

Er bewegt nicht einen Flügel, sitzt dort wie auf einem Hügel
Immer auf der Kammertür, droht mir durch sein Schweigen schwer.
Seine Augen träumen trunken wie Dämonen traumversunken.
Mir zu Füßen hingesunken, zeigt sein Schatten zu mir her,
Meine Seele ist gefangen in dem Raume um mich her.
Wird sie frei sein? – Nimmermehr


Gute Nacht!

Donnerstag, 18. Juli 2013

Zerstreuung

von Blaise Pascal

Man belastet den Menschen von Kindheit an mit der Sorge um ihre Ehre, ihre Güter und sogar um das Gut und die Ehre ihrer Verwandten und Freunde. Man überlastet sie mit dem Studium der Sprachen, Wissenschaften, Leibesübungen und Künste. Man bürdet ihnen Geschäfte auf, und tut ihnen dar, dass sie nicht glücklich sein werden, wenn sie nicht durch ihre Betriebsamkeit und ihre Sorgfalt dafür Sorge tragen, dass ihr Vermögen und ihre Ehre und selbst das Vermögen und die Ehre ihrer Freunde in gutem Stande sei, und lässt sie in dem Glauben, dass sie unglücklich werden, wenn ihnen ein einziges von diesen Dingen fehlte. So gibt man ihnen Ämter und Geschäfte, die ihnen zu schaffen machen vom Morgen bis an den Abend.

Das, sagt ihr, sei eine seltsame Art sie glücklich zu machen. Was könnte man Besseres tun, sie unglücklich zu machen? Fragt ihr, was man tun könnte? Man brauchte ihnen nur alle diese Sorgen zu nehmen, denn alsdann würden sie sich selbst sehen und an sich selbst denken, und das eben ist ihnen unerträglich. Auch nachdem sie sich mit so vielen Geschäften beladen, wenn sie noch einige Zeit der Erholung haben, suchen sie auch diese zu verlieren in irgend einem Vergnügen, das sie ganz in Besitz nimmt und sie sich selbst entreißt.

Darum habe ich, wenn ich anfing das mannigfaltige Hin- und Hertreiben der Menschen zu betrachten, wie sie sich den Gefahren und Mühseligkeiten aussetzen, am Hofe, im Kriege, bei der Verfolgung ihrer ehrgeizigen Ansprüche und wie daraus so viele Zwistigkeiten, Leidenschaften, gefährliche und verderbliche Unternehmungen entspringen, wiederholt gesagt, dass alles Unglück des Menschen daher kommt, dass er es nicht versteht, ruhig allein mit sich in einem Zimmer zu bleiben.


Gute Nacht!

Sonntag, 14. Juli 2013

Lebensregeln für ältere Menschen im Verhältnis zu jüngeren

von Karl Barth
 

Du sollst Dir klar machen, dass die jüngeren, die Verwandten oder sonst lieben Menschen beiderlei Geschlechts ihre Wege nach ihren eigenen (nicht Deinen) Grundsätzen, Ideen und Gelüsten zu gehen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und nach ihrer eigenen (nicht Deiner) Fasson selig zu sein und zu werden das Recht haben.

Du sollst ihnen also weder mit Deinem Vorbild noch mit Deiner Altersweisheit, noch mit Deiner Zuneigung, noch mit Wohltaten nach Deinem Geschmack zu nahe treten.

Du sollst sie in keiner Weise an Deine Person binden und Dir verpflichten wollen.

Du sollst Dich weder wundern noch gar ärgern und betrüben, wenn Du merken musst, dass sie öfters keine oder nur wenig Zeit für Dich haben; dass Du sie, so gut Du es mit ihnen meinen magst und so sicher Du Deiner Sache ihnen gegenüber zu sein denkst, gelegentlich störst und langweilst und dass sie dann unbekümmert an Dir und Deinen Ratschlägen vorbeibrausen.

Du sollst bei diesem ihrem Tun reumütig denken, dass Du es in Deinen jüngeren Jahren den damals älteren Herrschaften gegenüber wahrscheinlich ganz ähnlich gehalten hast.

Du sollst also für jeden Beweis von echter Aufmerksamkeit und ernstlichem Vertrauen, der Dir von ihrer Seite widerfahren mag, dankbar sein. Du sollst aber solche Beweise von ihnen weder erwarten noch gar verlangen.

Du sollst sie unter keinen Umständen fallen lassen, sollst sie vielmehr, indem Du sie frei gibst, in heiterer Gelassenheit begleiten, im Vertrauen auf Gott auch ihnen das Beste zutrauen, sie unter allen Umständen lieb behalten und für sie beten.


Gute Nacht!

Dienstag, 2. Juli 2013

Suche

von Hermann Hesse

Das Wort Glück. Es ist eines von den Wörtern, die ich immer geliebt und gern gehört habe. Mochte man über seine Bedeutung noch so viel streiten und räsonieren können, auf jeden Fall bedeutete es etwas Schönes, etwas Gutes und Wünschenswertes. Und dem entsprechend fand ich den Klang des Wortes.

Ich fand, dieses Wort habe trotz seiner Kürze etwas erstaunlich Schweres und Volles, etwas, was an Gold erinnerte, und richtig war ihm außer der Fülle und Vollwichtigkeit auch der Glanz eigen, wie der Blitz in der Wolke wohnte er in der kurzen Silbe, die so schmelzend und lächelnd mit dem GL begann, im Ü so lachend ruhte und so kurz, und im CK so entschlossen und knapp endete. Es war ein Wort zum Lachen und zum Weinen, ein Wort voll Urzauber und Sinnlichkeit; wenn man es recht empfinden wollte, brauchte man nur ein spätes, flaches, müdes Nickel- oder Kupferwort neben das goldene zu stellen, etwa Gegebenheit oder Nutzbarmachung, dann war alles klar. Kein Zweifel, es kam nicht aus Wörterbüchern und Schulstuben, es war nicht erdacht, abgeleitet oder zusammengesetzt, es war Eins und rund, war vollkommen, es kam aus dem Himmel oder aus der Erde wie Sonnenlicht oder Blumenblick. Wie gut, wie glücklich, wie tröstlich, dass es solche Wörter gab! Ohne sie zu leben und zu denken, wäre Welke und Verödung, wäre wie Leben ohne Brot und Wein, ohne Lachen, ohne Musik.

Gute Nacht!

Montag, 1. Juli 2013

Lob der schwarzen Kirschen

von Anna Louisa Karsch

Des Weinstocks Saftgewächse ward
Von tausend Dichtern laut erhoben;
Warum will denn nach Sängerart
  Kein Mensch die Kirsche loben?

O die karfunkelfarbne Frucht
In reifer Schönheit ward vor diesen
Unfehlbar von der Frau versucht,
  Die Milton hat gepriesen.

Kein Apfel reizet so den Gaum
Und löschet so des Durstes Flammen;
Er mag gleich vom Chineser-Baum
  In ächter Abkunft stammen.

Der ausgekochte Kirschensaft
Giebt aller Sommersuppen beste,
Verleiht der Leber neue Kraft
  Und kühlt der Adern Äste;

Und wem das schreckliche Verboth
Des Arztes jeden Wein geraubet,
Der misch ihn mit der Kirsche roth
  Dann ist er ihm erlaubet;

Und wäre seine Lunge wund,
Und seine ganze Brust durchgraben:
So darf sich doch sein matter Mund
  Mit diesem Tranke laben.

Wenn ich den goldnen Rheinstrandwein
Und silbernen Champagner meide,
Dann Freunde mischt mir Kirschblut drein
  Zur Aug- und Zungenweide:

Dann werd' ich eben so verführt,
Als Eva, die den Baum betrachtet,
So schön gewachsen und geziert,
  Und nach der Frucht geschmachtet.

Ich trink und rufe dreymal hoch!
Ihr Dichter singt im Ernst und Scherze
Zu oft die Rose, singet doch
  Einmal der Kirschen Schwärze!

Gute Nacht!

Donnerstag, 27. Juni 2013

Wenn die Haifische Menschen wären

von Bertolt Brecht

"Wenn die Haifische Menschen wären", fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner Wirtin, "wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?"
"Sicher", sagte er. "Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, daß die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitäre Maßnahmen treffen.
Wenn zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige.
Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden zum Beispiel Geographie brauchen, damit die großen Haifische, die faul irgendwo liegen, sie finden könnten.
Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, daß es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig aufopfert, und daß sie alle an die Haifische glauben müßten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen, daß diese Zukunft nur gesichert sei, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen müßten sich die Fischlein hüten und es sofort den Haifischen melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete.
Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fische zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, daß zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sind bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen.
Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in anderer Sprache schweigende Fischlein tötete, würden sie einen Orden aus Seetang anheften und den Titel Held verleihen.
Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in denen es sich prächtig tummeln läßt, dargestellt wären. Die Theater auf dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Fischrachen schwimmen, und die Musik wäre so schön, daß die Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle voran, träumerisch, und in allerangenehmste Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten.
Auch eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würden lehren, daß die Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu leben begännen.
Übrigens würde es auch aufhören, wenn die Haifische Menschen wären, daß alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig größeren dürften sogar die kleineren auffressen. Das wäre für die Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken zu fressen bekämen. Und die größeren, Posten habenden Fischlein würden für die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im Kastenbau usw. Kurz, es gäbe überhaupt erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen wären."


Gute Nacht!

Sonntag, 23. Juni 2013

Der Tod

von Viktor E. Frankl

Wie oft hält man uns nicht vor, daß der Tod den Sinn des ganzen Lebens in Frage stelle. Daß alles letzten Endes sinnlos sei, weil der Tod es schließlich vernichten müsse. Kann nun der Tod der Sinnhaftigkeit des Lebens wirklich Abbruch tun? Im Gegenteil. Denn was geschähe, wenn unser Leben nicht endlich in der Zeit, sondern zeitlich unbegrenzt wäre? Wären wir unsterblich, dann könnten wir mit Recht jede Handlung ins Unendliche aufschieben, es käme nie darauf an, sie eben jetzt zu tun, sie könnte ebensogut auch erst morgen oder übermorgen oder in einem Jahr oder in zehn Jahren getan werden. So aber, angesichts des Todes als unübersteigbarer Grenze unserer Zukunft und Begrenzung unserer Möglichkeiten, stehen wir unter dem Zwang, unsere Lebenszeit auszunützen und die einmaligen Gelegenheiten — deren »endliche« Summe das ganze Leben dann darstellt — nicht ungenützt vorübergehen zu lassen.
Die Endlichkeit, die Zeitlichkeit ist also nicht nur ein Wesensmerkmal des menschlichen Lebens, sondern für dessen Sinn auch konstitutiv. Der Sinn menschlichen Daseins ist in seinem irreversiblen Charakter fundiert. Die Lebensverantwortung eines Menschen ist daher nur dann zu verstehen, wenn sie als eine Verantwortung im Hinblick auf Zeitlichkeit und Einmaligkeit verstanden wird. Man könnte überhaupt die existenzanalytische Maxime in folgende Imperativform kleiden: Lebe so, als ob du zum zweiten Mal lebtest und das erste Mal alles so falsch gemacht hättest, wie du es zu machen — im Begriffe bist. Gelingt es einem, sich dieser Phantasievorstellung hinzugeben, dann wird ihm im gleichen Augenblick die ganze Größe der Verantwortung bewußt, die der Mensch in jedem Moment seines Lebens hat: die Verantwortung dafür, was aus der jeweils folgenden Stunde werden soll, dafür, wie er den nächsten Tag gestaltet.


Gute Nacht!

Sonntag, 16. Juni 2013

Über die Ehe

von George Bernard Shaw

Die Mehrheit der Ehepaare lernt einander niemals wirklich kennen; sie gewöhnt sich nur daran, dasselbe Haus, dieselben Kinder und dasselbe Einkommen zu haben, und das ist etwas ganz anderes.
Wenn alle Eheleute wirklich zusammen lebten, würde unzweifelhaft die bloße Gewalt der Tatsache diesem unmenschlichen Unsinn innerhalb eines Monats, wenn nicht eher, ein Ende machen. Aber sie werden dieser Prüfung sehr selten unterzogen. Der typische Ehemann sieht seine Frau viel seltener als seinen Geschäftspartner, seinen Mitbeamten oder seinen täglichen Arbeitsgenossen. Mann und Frau leben in der Regel nicht zusammen. Sie essen lediglich morgens und abends zusammen und schlafen im selben Zimmer. In den meisten Fällen weiß die Frau nichts vom Arbeitsleben des Mannes, und er weiß nichts von ihrem Arbeitsleben (er nennt es: ihr häusliches Leben). Es ist auffallend, daß eben diejenigen Leute, welche von der Geschlossenheit und Heiligkeit der Ehe die absurdeste und romantischste Auffassung haben, andererseits am tiefsten überzeugt sind, daß der Bereich des Mannes und der Bereich der Frau gänzlich getrennt bleiben müssen und die Eheleute nur in den Augenblicken ihrer Muße zusammen sein dürfen.
Ich kenne eine Frau, die fünfmal verheiratet war. Sie ist, wie zu erwarten war, eine weise, anziehende und interessante Frau. Die Frage ist nur: ist sie weise, anziehend und interessant, weil sie fünfmal verheiratet war, oder war sie fünfmal verheiratet, weil sie weise, anziehend und interessant ist?


Gute Nacht!

Mittwoch, 12. Juni 2013

Alle Tage

von Ingeborg Bachmann

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.

Gute Nacht!

Montag, 10. Juni 2013

Mensch und Tier

von Sallust

Alle Menschen, die darauf bedacht sind, alle übrigen Lebewesen zu übertreffen, müssen sämtliche Anstrengungen unternehmen, dass ihr Leben nicht unbeachtet bleibt wie beim Tier. Dieses hat die Natur schon so geschaffen, dass sein Blick zur Erde gesenkt ist und dass es nur seinem Bauch gehorcht.
Unsere ganze Kraft dagegen beruht auf Geist und Körper. Der Geist befähigt uns zum herrschen, der Körper ist mehr zum Dienen da. Den Geist haben wir mit den Göttern gemein, den Körper mit den Tieren.
Umso mehr scheint es mir richtig, mit Hilfe der Geisteskräfte Ruhm zu erwerben und bei der Kürze des Lebens die Erinnerungen an unser Leben möglichst lang zu gestalten. Denn der Ruhm von Reichtum und Schönheit ist wandelbar und zerbrechlich; die Tugend allein gilt als herrlich und ewig.
Unter den Menschen herrschte lange Zeit Meinungsverschiedenheit, ob die Kräfte des Körpers wichtiger seien als die des Geistes, denn dem Beginn einer Handlung muss die Überlegung vorausgehen und erst danach ist im rechten Augenblick zu handeln. So sind Handeln und Überlegen, jedes für sich allein genommen, unzureichend und bedürfen der gegenseitigen Ergänzung!


Gute Nacht!

Donnerstag, 6. Juni 2013

Zwei Glückliche

von Friedrich Nietzsche

Wahrlich, dieser Mensch, trotz seiner Jugend, versteht sich auf die Improvisation des Lebens und setzt auch den feinsten Beobachter in Erstaunen – es scheint nämlich, daß er keinen Fehlgriff tut, ob er schon fortwährend das gewagteste Spiel spielt. Man wird an jene improvisierenden Meister der Tonkunst erinnert, denen auch der Zuhörer eine göttliche Unfehlbarkeit der Hand zuschreiben möchte, trotzdem, daß sie sich hier und da vergreifen, wie jeder Sterbliche sich vergreift. Aber sie sind geübt und erfinderisch, und im Augenblick immer bereit, den zufälligsten Ton, wohin ein Wurf des Fingers, eine Laune sie treibt, sofort in das thematische Gefüge einzuordnen und dem Zufalle einen schönen Sinn und eine Seele einzuhauchen.
Hier ist ein ganz anderer Mensch: dem mißrät im Grunde alles, was er will und plant. Das, woran er gelegentlich sein Herz gehängt hat, brachte ihn schon einige Male an den Abgrund und in die nächste Nähe des Unterganges; und wenn er dem noch entwischte, so doch gewiß nicht nur »mit einem blauen Auge«. Glaubt ihr, daß er darüber unglücklich ist? Er hat längst bei sich beschlossen, eigene Wünsche und Pläne nicht so wichtig zu nehmen. »Gelingt mir dies nicht«, so redet er sich zu, »dann gelingt mir vielleicht jenes; und im ganzen weiß ich nicht, ob ich nicht meinem Mißlingen mehr zu Danke verpflichtet bin als irgendwelchem Gelingen. Bin ich dazu gemacht, eigensinnig zu sein und die Hörner des Stieres zu tragen? Das, was mir Wert und Ergebnis des Lebens ausmacht, liegt woanders; mein Stolz und ebenso mein Elend liegt woanders. Ich weiß mehr vom Leben, weil ich so oft daran war, es zu verlieren: und eben darum habe ich mehr vom Leben als ihr alle!«


Gute Nacht!

Samstag, 1. Juni 2013

Von dem Umgange unter Eltern, Kindern und Blutsfreunden

von Adolph Freiherr von Knigge
Das erste und natürlichste Band unter den Menschen, nächst der Vereinigung zwischen Mann und Weib, ist von jeher das Band unter Eltern und Kindern gewesen. Wenngleich das Zeugungsgeschäft nicht eigentlich absichtliche Wohltat für die folgende Generation ist, so gibt es doch wenig Menschen, die nicht ganz gut damit zufrieden wären, daß jemand sich die Mühe gegeben hat, sie in die Welt zu setzen; und obwohl in unsern Staaten die Eltern ihre Kinder nicht bloß aus freiem Willen auferziehen, nähren und pflegen, so ist es doch abgeschmackt zu sagen: die mannigfaltige Bemühung, welche dies erfordert und nach sich zieht, lege keine Art von Verbindlichkeit auf, oder es sei nicht wahr, daß ein Zug von Wohlwollen, Sympathie und Dankbarkeit uns den Personen näherbringe, deren Fleisch und Blut wir sind, unter deren Herzen wir gelegen, die uns gefüttert, für uns gewacht, gesorgt, die alles mit uns geteilt haben.
[...]
Ich höre so oft darüber klagen, daß man unter fremden Leuten mehr Schutz, Beistand und Anhänglichkeit finde als bei seinen nächsten Blutsverwandten; allein ich halte diese Klage größtenteils für ungerecht. Freilich gibt es unter Verwandten ebensowohl unfreundschaftliche Menschen als unter solchen, die uns nichts angehen; freilich geschieht es wohl, daß Verwandte ihrem Vetter nur dann Achtung beweisen, wenn er reich, oder geehrt vom großen Haufen ist, sich aber des unbekannten, armen oder verfolgten Blutsfreundes schämen; ich denke aber, man fordert auch oft von seinen Herrn Oheimen und Frauen Basen mehr, als man billigerweise verlangen sollte. Unsre politischen Verfassungen und der täglich mehr überhandnehmende Luxus machen es wahrlich notwendig, daß jeder für sein Haus, für Weib und Kinder sorge, und die Herrn Vettern, die oft als unwissende und verschwenderische Tagediebe in der sichern Zuversicht, von ihren mächtigen und reichen Verwandten nicht verlassen zu werden, sorglos in die Welt hinein leben, haben dann so unersättliche Forderungen, daß der Mann, dem Pflicht und Gewissen kein Spielwerk sind, diese unmöglich befriedigen kann, ohne ungerecht gegen andre zu handeln.


Gute Nacht!

Dienstag, 28. Mai 2013

Das Leben — eine Reise

von José Ortega Y Gasset

Das Leben ist eine Reise, sagten die Asketen und richteten mit verändertem Zielpunkt den Pfeil ihrer Sehnsucht auf die ewige Herberge. Warum wählten sie ein Stück des Lebens — eine Reise — als Gleichnis des Ganzen?
Auf der Reise tritt die Flüchtigkeit unserer Beziehung zu den Dingen am schärfsten hervor. Sie rollen an uns, wir rollen an ihnen vorbei; sie streifen uns nur in einem Punkt, einen Augenblick unserer Person, so daß ihre Berührung, wie rund und weich sie auch sei, uns immer ein wenig schmerzhaft durchfährt wie ein Riß und Stich.
Wenn wir einer Landschaft, einer Freundschaft, einem Glück zujubeln: es kommt, es kommt, müssen wir die Lippen schon bereiten zu dem wehmütigen: es vergeht, es vergeht. Wie man sich am Anblick eines schmucken Reiters nicht ergötzen kann — schreibt der Padre Juan Eusebio Nieremberg in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts —, wenn er beständig mit verhängten Zügeln dahersprengt, ebenso kann man die Dinge dieser Welt nicht genießen, weil sie nicht stillhalten und unaufhörlich mit verhängten Zügeln davoneilen. Da die Güter des Lebens — fügt er hinzu — so vergänglich sind, gibt Gott sie uns nur spärlich und gibt uns das Leben in Teilchen und mischt so viele Teile Tod hinein, wie er uns Stücklein Leben gibt.
Denn weil wir die Dinge nicht festhalten können, schließt der wackere Pater, daß sie nichts taugen oder, wie er sagt, verächtlich sind. Verächtlich! bei Gott, nein! Just weil sie so wundervoll sind, will ihre eilige Flucht uns das Herz brechen.  

Wenn die Welt aus Zahnschmerz bestünde, wäre Vergänglichkeit ihr bestes Verdienst.

Gute Nacht!

Samstag, 25. Mai 2013

Wege zu sich selbst

von Marc Aurel

Sooft du an der Unverschämtheit jemandes Anstoß nimmst, frage dich sogleich: Ist es auch möglich, daß es in der Welt keine unverschämten Leute gibt? Das ist nicht möglich. Verlange also nicht das Unmögliche. Jener ist eben einer von den Unverschämten, die es in der Welt geben muß. Dieselbe Frage sei dir zur Hand hinsichtlich der Schlauköpfe, der Treulosen und jedes Fehlenden. Denn sobald du dich daran erinnerst, daß das Dasein von Leuten dieses Gelichters nun einmal nicht zu verhindern ist, wirst du auch gegen jeden einzelnen derselben milder gesinnt werden. Auch das frommt, wenn man sogleich bedenkt, welche Tugend die Natur dem Menschen diesen Untugenden gegenüber verliehen hat. So verlieh sie ja dem Rücksichtslosen gegenüber, als eine Art Gegengift, die Sanftmut, und wieder einem andern eine andere Gegenkraft, und im ganzen steht es in deiner Gewalt, den Irrenden den rechten Weg zu zeigen. Jeder Fehlende aber irrt, insofern er sein Ziel verfehlt. Und nun, welchen Nachteil hast du dadurch erlitten? Du wirst finden, daß keiner von denen, über die du dich so sehr ereiferst, durch irgendeine seiner Übeltaten deine denkende Seele hat verschlechtern können, vielmehr haben eben in dieser dein Übel und dein Schaden ihren vollen Grund. Wenn aber ein ungebildeter Mensch eben wie ein Ungebildeter sich beträgt, was ist denn Schlimmes oder Seltsames daran? Sieh zu, ob du nicht vielmehr dich selbst deshalb anklagen solltest, daß solch ein fehlerhaftes Benehmen von diesem Menschen dir so unerwartet kam. Gab dir ja doch deine Vernunft Anlaß genug zu dem Gedanken, daß es wahrscheinlich sei, er werde sich so vergehen, und dennoch vergaßest du das und wunderst dich jetzt, daß er sich vergangen hat. Besonders aber, sooft du dich über Treulosigkeit und Undank von jemand zu beschweren hast, richte deinen Blick auf dein eigenes Innere. Denn offenbar liegt hier der Fehler auf deiner Seite, wenn du einem Menschen von dieser Gesinnung zutrautest, daß er sein Wort halten werde, oder wenn du ihm nicht ohne allerlei Nebenabsichten eine Wohltat erzeigtest und nicht vielmehr in dem Gedanken, daß du von deiner Handlung selbst schon alle Frucht eingeerntet habest. Denn was willst du noch weiter, wenn du einem Menschen eine Wohltat erwiesen hast? Genügt es dir nicht, daß du deiner Natur gemäß etwas getan hast, sondern verlangst du noch eine Belohnung dafür? Als ob das Auge dafür, daß es sieht, oder die Füße dafür, daß sie gehen, einen Lohn fordern könnten! Denn wie diese Glieder dazu geschaffen sind, daß sie im Vollzug ihrer natürlichen Verrichtungen ihren Zweck erfüllen, so erfüllt auch der Mensch, zum Wohltun geboren, sooft er eine Wohltat erweist oder etwas für den allgemeinen Nutzen Förderliches leistet, seinen natürlichen Zweck und empfängt damit das Seinige.


Gute Nacht!

Montag, 20. Mai 2013

Wie man einen Vogel malt

von Jacques Prevert

Male zuerst einen Käfig
mit einer offenen Tür
dann male
irgend etwas Hübsches
irgend etwas Einfaches
irgend etwas Schönes
irgend etwas Nützliches
was nur den Vogel angeht
Dann lehne die Leinwand an einen Baum
in einem Garten
in einem Wäldchen
verbirg dich hinter dem Baum
ohne zu sprechen
ohne dich zu rühren...

Bisweilen kommt der Vogel bald
aber er kann ebensogut viele Jahre brauchen
bis er sich dazu entschließt
Verlier nicht den Mut

warte

Warte wenn es sein muß jahrelang
denn der rasche oder langsame Anflug des Vogels
hat nichts zu tun mit dem Gelingen des Bildes

Wenn der Vogel kommt
falls er kommt
so sei ganz still
Warte bis der Vogel in den Käfig schlüpft
und wenn er hineingeschlüpft ist
schließe mit dem Pinsel leise die Tür

dann

tilge nacheinander alle Gitterstäbe aus
wobei du keine einzige Feder
des Vogels berühren darfst

Sodann male den Baum
und wähle den schönsten seiner Äste
für den Vogel

Male auch das grüne Laub und den frischen Wind
den Sonnenstaub
und das Gesumm der Grastiere in der Sommerglut
Und dann warte ob der Vogel sich entschließt zu singen
Wenn der Vogel nicht singt
so ist es ein schlechtes Zeichen
ein Zeichen daß das Bild schlecht ist
Aber wenn er singt ist es ein gutes Zeichen
ein Zeichen daß du das Bild mit deinem Namen zeichnen darfst
dann zupfst du ganz sacht
eine Feder aus dem Vogelgefieder
und schreibst in einer Ecke des Bildes deinen Namen nieder

Gute Nacht!

Mittwoch, 15. Mai 2013

Von der Einsamkeit

von Michel de Montaigne

Gewiß, der Mensch von Verstand hat nichts verloren, solang er sich selbst besitzt. Als die Barbaren die Stadt Nola verwüsteten, hatte dabei Paulinus, der daselbst Bischof war, alles das Seinige eingebüßt und war obendrein gefangengenommen.
Dennoch betete er folgendermaßen: »Behüte mich, lieber Herr Gott, daß ich diesen Verlust nicht fühle, denn du weißt, daß sie noch nichts von dem berührt haben, was mein ist.« – Die Reichtümer, die ihn reich, die Güter, die ihn gut machten, waren noch unangetastet. Darin eben besteht die Richtigkeit der Wahl der Schätze, die weder Motten noch Rost fressen, und des Orts ihrer Niederlage, wozu niemand gelangen und den niemand verraten kann als wir selbst.
Sorge derjenige, der's vermag, daß er Weib, Kinder, Vermögen und vor allen Dingen Gesundheit habe; aber laß ihn seine Seele nicht so fest daran hängen, daß er sein ganzes Glück darauf baue.
Man muß ein Hinterstübchen für sich absondern, in welchem man seinen wahren Freiheitssitz und seine Einsiedelei aufschlagen kann. Hier müssen wir vernünftigen Umgang mit uns selbst unterhalten; und zwar so abgesondert, daß darin keine andre Bekanntschaft oder Mitteilung fremder Dinge stattfinde. Hier mache man ernsthafte Überlegungen, und hier lache man, als ob man weder Frau noch Kinder, noch Verwandte, noch Hausgesinde hätte, damit, wenn der Fall eintreten sollte, daß man sie verlöre, es einem nicht schwer sei, sich ohne sie zu behelfen.
Unsre Seele ist, ihrer Natur nach, für alle Lagen geschickt. Sie ist fähig, sich selbst Gesellschaft zu sein; fähig anzugreifen; fähig sich zu verteidigen, zu empfangen und zu geben.


Gute Nacht!

Mittwoch, 8. Mai 2013

Der Münchner im Himmel

von Ludwig Thoma

Alois Hingerl, Nr. 172, Dienstmann in München, besorgte einen Auftrag mit solcher Hast, daß er vom Schlage gerührt zu Boden fiel und starb.
Zwei Engel zogen ihn mit vieler Mühe in den Himmel, wo er von St. Petrus aufgenommen wurde. Der Apostel gab ihm eine Harfe und machte ihn mit der himmlischen Hausordnung bekannt. Von acht Uhr früh bis zwölf Uhr mittags »frohlocken«, und von zwölf Uhr mittags bis acht Uhr abends »Hosianna singen«. – »Ja, wann kriagt ma nacha was z'trink'n?« fragte Alois. – »Sie werden Ihr Manna schon bekommen«, sagte Petrus.
»Auweh!« dachte der neue Engel Aloisius, »dös werd schö fad!« In diesem Momente sah er einen roten Radler, und der alte Zorn erwachte in ihm. »Du Lausbua, du mistiga!« schrie er, »kemmt's ös do rauf aa?« Und er versetzte ihm einige Hiebe mit dem ärarischen Himmelsinstrument.
Dann setzte er sich aber, wie es ihm befohlen war, auf eine Wolke und begann zu frohlocken:
»Ha-lä-lä-lä-lu-u-hu-hiah!«...
Ein ganz vergeistigter Heiliger schwebte an ihm vorüber. – »Sie! Herr Nachbar! Herr Nachbar!« schrie Aloisius, »hamm Sie vielleicht an Schmaizla bei Eahna?« Dieser lispelte nur »Hosianna!« und flog weiter.
»Ja, was is denn dös für a Hanswurscht?« rief Aloisius. »Nacha hamm S' halt koan Schmaizla, Sie Engel, Sie boaniga! Sie ausg'schamta!« Dann fing er wieder sehr zornig zu singen an: »Ha-ha-lä-lä-lu-u-uh – – Himmi Herrgott – Erdäpfi – Saggerament – – lu – uuu – iah!«
Er schrie so, daß der liebe Gott von seinem Mittagsschlafe erwachte und ganz erstaunt fragte: »Was ist denn da für ein Lümmel heroben?«
Sogleich ließ er Petrus kommen und stellte ihn zur Rede. »Horchen Sie doch!« sagte er. Sie hörten wieder den Aloisius singen: »Ha – aaaaah – läh – – Himml – Himml Herrgott – Saggerament – uuuuuh – iah!« ...
Petrus führte sogleich den Alois Hingerl vor den lieben Gott, und dieser sprach: »Aha! Ein Münchner! Nu natürlich! Ja, sagen Sie einmal, warum plärren denn Sie so unanständig?«
Alois war aber recht ungnädig, und er war einmal im Schimpfen drin. »Ja, was glaab'n denn Sie?« sagte er. »Weil Sie der liabe Good san, müaßt i singa, wia 'r a Zeiserl, an ganz'n Tag, und z'trinka kriagat ma gar nix! A Manna, hat der ander g'sagt, kriag i! A Manna! Da balst ma net gehst mit dein Manna! Überhaupts sing i nimma!«
»Petrus«, sagte der liebe Gott, »mit dem können wir da heroben nichts anfangen, für den habe ich eine andere Aufgabe. Er muß meine göttlichen Ratschlüsse der bayrischen Regierung überbringen; da kommt er jede Woche ein paarmal nach München.«
Des war Aloisius sehr froh. Und er bekam auch gleich einen Ratschluß für den Kultusminister Wehner zu besorgen und flog ab.
Allein, nach seiner alten Gewohnheit ging er mit dem Brief zuerst ins Hofbräuhaus, wo er noch sitzt. Herr von Wehner wartet heute noch vergeblich auf die göttliche Eingebung.

Gute Nacht!
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