Freitag, 29. Mai 2015

Ich bringe eine Botschaft

von Günter Kunert
1
Ich bringe eine Botschaft,
Und die heißt: Keine Sicherheit. Der auf Frieden
Hofft wie auf das Stillestehen der Zeit,
Ist ein Narr. Wohl: Die Waffen ruhen
Ein wenig, und die Toten der letzten Schlachten
Ruhen ein wenig, doch
Die Lebenden ruhen nicht.
 
2
Der im stahltapezierten Felsenzimmer
Die Raketen richtet
Auf die Brust seines Kameraden drüben, auf
Dessen Mutter und Stadt und Feld und Land, muß
Wissen, daß
Auf der anderen Seite die gleichen Ziele
Anvisiert werden: Sicherheit
Findet sich im Nirgendwo. Nicht getroffen
Von dem alles verheerenden Schuß
Werden einzig die Generationen, die vorher
Ins Nichts sich begaben.
 
3
Mit bleichen Gesichtern
Durchblättern am frühen Morgen die Städter
In den rollenden Zügen die Zeitungen hastig:
Wie steht der Kampf
In der brennenden Dschungeln von Laos,
Auf der anderen Seite des Erdballs?
Mühselig buchstabierend lesen sie die Namen
Äußerst fremder Orte und Generäle, die
Sie gleichgültig ließen, ahnten sie nicht:
Ihnen
Erwächst Gefahr.
 
4
Durch die noch stillen Wälder ziehen sich
Panzergräben
Auf den Landkarten erst, doch wer durch die Wälder
Geht, spüret
Schon einen Hauch.
 
5
Tödlichem Gas gleich
Wallt über uns die Gewohnheit: wem es nichts
Ausmacht,
Mit einem Bein im Grabe zu stehen, wird bald
Mit beiden drin liegen.
 
6
Auf einem Vulkan läßt sich leben, besagt
Eine Inschrift im zerstörten Pompeji.
 
7
Und die Bürger der vom Meere geschluckten
Ortschaft Vineta
Bauten für ihr Geld Kirchen, deren Glocken
Noch heute mancher zu hören vermeint, statt
Einen schützenden Deich.
 
8
Der ich ähnlich vielen, wenig
Neigung verspüre
Mein Dasein fortzuführen
Als unterseeisches Geläute, als mehr oder
Weniger klassische Inschrift,
Bringe nur eine kurze Botschaft: Keine Sicherheit
Heißt sie.
 
9
Solange die Zerstörung einträglicher ist
Denn Aufbauen, und
Solange
Nicht Abgeschafft sind,
Derer die Einträglichkeit ist, solange
Wird vielleicht hin und wieder sein: Ein wenig
Ruhe. Sicherheit
Keine.

Gute Nacht!

Sonntag, 24. Mai 2015

Über die Glückseligkeit

von Immanuel Kant
Es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d.i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist. Nun ist's unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, u.s.w. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde. Man kann also nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Ratschlägen, z.B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung u.s.w., von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern.


Gute Nacht!

Sonntag, 17. Mai 2015

Eigenliebe

von Voltaire
Ein Bettler in der Umgebung von Madrid bat würdevoll um Almosen. Ein Passant sagte zu ihm: "Schämen Sie sich nicht, diesem schmachvollen Gewerbe nachzugehen, wo Sie doch arbeiten können?" - "Mein Herr", erwiderte der Bettler, "ich bitte Sie um Geld und nicht um Ratschläge." Dann wand er ihm den Rücken zu, seine kastilische Würde wahrend.
Dieser Mann war ein stolzer Bettler. Seine Eitelkeit wurde durch eine Kleinigkeit verletzt, er bettelte aus Eigenliebe und duldete nicht, dass ein anderer ihm aus Eigenliebe Vorwürfe machte.
Ein Missionar begegnete auf seiner Reise durch Indien einem mit Ketten beladenen Fakir, der nackt wie ein Affe auf dem Bauch lag und sich für die Sünden seiner indischen Landsleute peitschen liess, die ihm ein paar kleine Münzen schenkten.
"Welche Selbstverleugnung!" sagte ein Zuschauer.
"Selbstverleugnung?" entgegnete der Fakir. "Lassen sie sich sagen, dass ich mich auf dieser Welt nur prügeln lasse, um es ihnen in der anderen heimzuzahlen, wenn sie das Pferd sind und ich der Reiter!"
Diejenigen, die gesagt haben, die Eigenliebe sei die Grundlage all unseres Fühlens und Handelns, haben also in Indien, in Spanien und auf der ganzen bewohnbaren Erde durchaus recht gehabt. Wie man nicht schreibt, um den Menschen zu beweisen, dass sie ein Gesicht haben, so braucht man ihnen auch nicht zu beweisen, dass sie sich von Eigenliebe leiten lassen.
Diese Eigenliebe dient unserer Selbsterhaltung. Insofern gleicht sie dem Fortpflanzungsorgan: auch dieses ist unentbehrlich, ist uns lieb und wert, bereitet uns Freude. Und wir müssen es verstecken!


Gute Nacht!

Freitag, 8. Mai 2015

schtzngrmm

von Ernst Jandl
schtzngrmm
schtzngrmm
t-t-t-t
t-t-t-t
grrrmmmmm
t-t-t-t
s------c------h
tzngrmm
tzngrmm
tzngrmm
grrrmmmmm
schtzn
schtzn
t-t-t-t
t-t-t-t
schtzngrmm
schtzngrmm
tssssssssssssssssssss
grrt
grrrrrt
grrrrrrrrrt
scht
scht
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
tzngrmm
tzngrmm
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
scht
scht
scht
scht
grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
t-tt
Gute Nacht!

Dienstag, 5. Mai 2015

Beziehungen

von Arthur Schnitzler

In den Beziehungen zwischen Menschen gibt es so wenig einen Stillstand wie im Leben des einzelnen. Es gibt Beginn, Entwicklung, Höhepunkt, Abstieg und Ende, und gerade so wie beim Individuum selbst Erkrankungen der verschiedensten Art: Unpässlichkeiten, angeborene Krankheiten, Erschöpfungszustände, Alterserscheinungen; - und auch an Hypochondrien fehlt es keineswegs. Manche Beziehungen gehen schon an Kinderkrankheiten zugrunde; auch solche, die durch Sorgfalt, gute Pflege, kurz, durch eine vernünftige Hygiene erhalten werden können; andere schwinden in der Blüte ihrer Jahre durch interkurrente Krankheiten dahin, andere wieder sterben früher oder später an konstitutionellen Leiden, die selten rechtzeitig diagnostiziert wurden; einige altern rasch, andere langsam, manche sind scheintot und können durch Geduld, durch Anwendung der richtigen Mittel, durch guten Willen wieder zum Leben erweckt werden. Aber auch darin gleichen die menschlichen Beziehungen den Menschen selbst, dass nur wenige sich in das Unvermeidliche fügen, Wissen, Leiden und Alter mit Würde tragen und in Schönheit sterben.


Gute Nacht!
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