Donnerstag, 27. Juni 2013

Wenn die Haifische Menschen wären

von Bertolt Brecht

"Wenn die Haifische Menschen wären", fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner Wirtin, "wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?"
"Sicher", sagte er. "Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, daß die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitäre Maßnahmen treffen.
Wenn zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige.
Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden zum Beispiel Geographie brauchen, damit die großen Haifische, die faul irgendwo liegen, sie finden könnten.
Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, daß es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig aufopfert, und daß sie alle an die Haifische glauben müßten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen, daß diese Zukunft nur gesichert sei, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen müßten sich die Fischlein hüten und es sofort den Haifischen melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete.
Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fische zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, daß zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sind bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen.
Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in anderer Sprache schweigende Fischlein tötete, würden sie einen Orden aus Seetang anheften und den Titel Held verleihen.
Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in denen es sich prächtig tummeln läßt, dargestellt wären. Die Theater auf dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Fischrachen schwimmen, und die Musik wäre so schön, daß die Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle voran, träumerisch, und in allerangenehmste Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten.
Auch eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würden lehren, daß die Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu leben begännen.
Übrigens würde es auch aufhören, wenn die Haifische Menschen wären, daß alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig größeren dürften sogar die kleineren auffressen. Das wäre für die Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken zu fressen bekämen. Und die größeren, Posten habenden Fischlein würden für die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im Kastenbau usw. Kurz, es gäbe überhaupt erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen wären."


Gute Nacht!

Sonntag, 23. Juni 2013

Der Tod

von Viktor E. Frankl

Wie oft hält man uns nicht vor, daß der Tod den Sinn des ganzen Lebens in Frage stelle. Daß alles letzten Endes sinnlos sei, weil der Tod es schließlich vernichten müsse. Kann nun der Tod der Sinnhaftigkeit des Lebens wirklich Abbruch tun? Im Gegenteil. Denn was geschähe, wenn unser Leben nicht endlich in der Zeit, sondern zeitlich unbegrenzt wäre? Wären wir unsterblich, dann könnten wir mit Recht jede Handlung ins Unendliche aufschieben, es käme nie darauf an, sie eben jetzt zu tun, sie könnte ebensogut auch erst morgen oder übermorgen oder in einem Jahr oder in zehn Jahren getan werden. So aber, angesichts des Todes als unübersteigbarer Grenze unserer Zukunft und Begrenzung unserer Möglichkeiten, stehen wir unter dem Zwang, unsere Lebenszeit auszunützen und die einmaligen Gelegenheiten — deren »endliche« Summe das ganze Leben dann darstellt — nicht ungenützt vorübergehen zu lassen.
Die Endlichkeit, die Zeitlichkeit ist also nicht nur ein Wesensmerkmal des menschlichen Lebens, sondern für dessen Sinn auch konstitutiv. Der Sinn menschlichen Daseins ist in seinem irreversiblen Charakter fundiert. Die Lebensverantwortung eines Menschen ist daher nur dann zu verstehen, wenn sie als eine Verantwortung im Hinblick auf Zeitlichkeit und Einmaligkeit verstanden wird. Man könnte überhaupt die existenzanalytische Maxime in folgende Imperativform kleiden: Lebe so, als ob du zum zweiten Mal lebtest und das erste Mal alles so falsch gemacht hättest, wie du es zu machen — im Begriffe bist. Gelingt es einem, sich dieser Phantasievorstellung hinzugeben, dann wird ihm im gleichen Augenblick die ganze Größe der Verantwortung bewußt, die der Mensch in jedem Moment seines Lebens hat: die Verantwortung dafür, was aus der jeweils folgenden Stunde werden soll, dafür, wie er den nächsten Tag gestaltet.


Gute Nacht!

Sonntag, 16. Juni 2013

Über die Ehe

von George Bernard Shaw

Die Mehrheit der Ehepaare lernt einander niemals wirklich kennen; sie gewöhnt sich nur daran, dasselbe Haus, dieselben Kinder und dasselbe Einkommen zu haben, und das ist etwas ganz anderes.
Wenn alle Eheleute wirklich zusammen lebten, würde unzweifelhaft die bloße Gewalt der Tatsache diesem unmenschlichen Unsinn innerhalb eines Monats, wenn nicht eher, ein Ende machen. Aber sie werden dieser Prüfung sehr selten unterzogen. Der typische Ehemann sieht seine Frau viel seltener als seinen Geschäftspartner, seinen Mitbeamten oder seinen täglichen Arbeitsgenossen. Mann und Frau leben in der Regel nicht zusammen. Sie essen lediglich morgens und abends zusammen und schlafen im selben Zimmer. In den meisten Fällen weiß die Frau nichts vom Arbeitsleben des Mannes, und er weiß nichts von ihrem Arbeitsleben (er nennt es: ihr häusliches Leben). Es ist auffallend, daß eben diejenigen Leute, welche von der Geschlossenheit und Heiligkeit der Ehe die absurdeste und romantischste Auffassung haben, andererseits am tiefsten überzeugt sind, daß der Bereich des Mannes und der Bereich der Frau gänzlich getrennt bleiben müssen und die Eheleute nur in den Augenblicken ihrer Muße zusammen sein dürfen.
Ich kenne eine Frau, die fünfmal verheiratet war. Sie ist, wie zu erwarten war, eine weise, anziehende und interessante Frau. Die Frage ist nur: ist sie weise, anziehend und interessant, weil sie fünfmal verheiratet war, oder war sie fünfmal verheiratet, weil sie weise, anziehend und interessant ist?


Gute Nacht!

Mittwoch, 12. Juni 2013

Alle Tage

von Ingeborg Bachmann

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.

Gute Nacht!

Montag, 10. Juni 2013

Mensch und Tier

von Sallust

Alle Menschen, die darauf bedacht sind, alle übrigen Lebewesen zu übertreffen, müssen sämtliche Anstrengungen unternehmen, dass ihr Leben nicht unbeachtet bleibt wie beim Tier. Dieses hat die Natur schon so geschaffen, dass sein Blick zur Erde gesenkt ist und dass es nur seinem Bauch gehorcht.
Unsere ganze Kraft dagegen beruht auf Geist und Körper. Der Geist befähigt uns zum herrschen, der Körper ist mehr zum Dienen da. Den Geist haben wir mit den Göttern gemein, den Körper mit den Tieren.
Umso mehr scheint es mir richtig, mit Hilfe der Geisteskräfte Ruhm zu erwerben und bei der Kürze des Lebens die Erinnerungen an unser Leben möglichst lang zu gestalten. Denn der Ruhm von Reichtum und Schönheit ist wandelbar und zerbrechlich; die Tugend allein gilt als herrlich und ewig.
Unter den Menschen herrschte lange Zeit Meinungsverschiedenheit, ob die Kräfte des Körpers wichtiger seien als die des Geistes, denn dem Beginn einer Handlung muss die Überlegung vorausgehen und erst danach ist im rechten Augenblick zu handeln. So sind Handeln und Überlegen, jedes für sich allein genommen, unzureichend und bedürfen der gegenseitigen Ergänzung!


Gute Nacht!

Donnerstag, 6. Juni 2013

Zwei Glückliche

von Friedrich Nietzsche

Wahrlich, dieser Mensch, trotz seiner Jugend, versteht sich auf die Improvisation des Lebens und setzt auch den feinsten Beobachter in Erstaunen – es scheint nämlich, daß er keinen Fehlgriff tut, ob er schon fortwährend das gewagteste Spiel spielt. Man wird an jene improvisierenden Meister der Tonkunst erinnert, denen auch der Zuhörer eine göttliche Unfehlbarkeit der Hand zuschreiben möchte, trotzdem, daß sie sich hier und da vergreifen, wie jeder Sterbliche sich vergreift. Aber sie sind geübt und erfinderisch, und im Augenblick immer bereit, den zufälligsten Ton, wohin ein Wurf des Fingers, eine Laune sie treibt, sofort in das thematische Gefüge einzuordnen und dem Zufalle einen schönen Sinn und eine Seele einzuhauchen.
Hier ist ein ganz anderer Mensch: dem mißrät im Grunde alles, was er will und plant. Das, woran er gelegentlich sein Herz gehängt hat, brachte ihn schon einige Male an den Abgrund und in die nächste Nähe des Unterganges; und wenn er dem noch entwischte, so doch gewiß nicht nur »mit einem blauen Auge«. Glaubt ihr, daß er darüber unglücklich ist? Er hat längst bei sich beschlossen, eigene Wünsche und Pläne nicht so wichtig zu nehmen. »Gelingt mir dies nicht«, so redet er sich zu, »dann gelingt mir vielleicht jenes; und im ganzen weiß ich nicht, ob ich nicht meinem Mißlingen mehr zu Danke verpflichtet bin als irgendwelchem Gelingen. Bin ich dazu gemacht, eigensinnig zu sein und die Hörner des Stieres zu tragen? Das, was mir Wert und Ergebnis des Lebens ausmacht, liegt woanders; mein Stolz und ebenso mein Elend liegt woanders. Ich weiß mehr vom Leben, weil ich so oft daran war, es zu verlieren: und eben darum habe ich mehr vom Leben als ihr alle!«


Gute Nacht!

Samstag, 1. Juni 2013

Von dem Umgange unter Eltern, Kindern und Blutsfreunden

von Adolph Freiherr von Knigge
Das erste und natürlichste Band unter den Menschen, nächst der Vereinigung zwischen Mann und Weib, ist von jeher das Band unter Eltern und Kindern gewesen. Wenngleich das Zeugungsgeschäft nicht eigentlich absichtliche Wohltat für die folgende Generation ist, so gibt es doch wenig Menschen, die nicht ganz gut damit zufrieden wären, daß jemand sich die Mühe gegeben hat, sie in die Welt zu setzen; und obwohl in unsern Staaten die Eltern ihre Kinder nicht bloß aus freiem Willen auferziehen, nähren und pflegen, so ist es doch abgeschmackt zu sagen: die mannigfaltige Bemühung, welche dies erfordert und nach sich zieht, lege keine Art von Verbindlichkeit auf, oder es sei nicht wahr, daß ein Zug von Wohlwollen, Sympathie und Dankbarkeit uns den Personen näherbringe, deren Fleisch und Blut wir sind, unter deren Herzen wir gelegen, die uns gefüttert, für uns gewacht, gesorgt, die alles mit uns geteilt haben.
[...]
Ich höre so oft darüber klagen, daß man unter fremden Leuten mehr Schutz, Beistand und Anhänglichkeit finde als bei seinen nächsten Blutsverwandten; allein ich halte diese Klage größtenteils für ungerecht. Freilich gibt es unter Verwandten ebensowohl unfreundschaftliche Menschen als unter solchen, die uns nichts angehen; freilich geschieht es wohl, daß Verwandte ihrem Vetter nur dann Achtung beweisen, wenn er reich, oder geehrt vom großen Haufen ist, sich aber des unbekannten, armen oder verfolgten Blutsfreundes schämen; ich denke aber, man fordert auch oft von seinen Herrn Oheimen und Frauen Basen mehr, als man billigerweise verlangen sollte. Unsre politischen Verfassungen und der täglich mehr überhandnehmende Luxus machen es wahrlich notwendig, daß jeder für sein Haus, für Weib und Kinder sorge, und die Herrn Vettern, die oft als unwissende und verschwenderische Tagediebe in der sichern Zuversicht, von ihren mächtigen und reichen Verwandten nicht verlassen zu werden, sorglos in die Welt hinein leben, haben dann so unersättliche Forderungen, daß der Mann, dem Pflicht und Gewissen kein Spielwerk sind, diese unmöglich befriedigen kann, ohne ungerecht gegen andre zu handeln.


Gute Nacht!
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