Donnerstag, 29. September 2016

Volkslied

von Joachim Ringelnatz

Wenn ich zwei Vöglein wär,
Und auch vier Flügel hätt,
Flög die eine Hälfte zu dir.
Und die andere, die ging auch zu Bett,
Aber hier zu Haus bei mir.

Wenn ich einen Flügel hätt
Und gar kein Vöglein wär,
Verkaufte ich ihn dir
Und kaufte mir dafür ein Klavier.

Wenn ich kein Flügel wär
(Linker Flügel beim Militär)
Und auch keinen Vogel hätt,
Flög ich zu dir.
Da 's aber nicht kann sein,
Bleib ich im eignen Bett
Allein zu zwei'n.

Gute Nacht!

Montag, 12. September 2016

Das Zeitdorf

von Kurt Tucholsky

In jeder kleinen Stadt sitzt einer und hat sie bis zum Hals herauf satt. Ah – die ewig gleichen Häuser, der Marktplatz, die dummen Hunde – die ewig gleichen Menschen, die Enge, die zu nahe Vertrautheit mit allen – und wenn Sie wüßten, wie ich mich sehne, einmal herauszukommen ... ! Wir haben hier in Messenthien so gar keine Anregungen ... Ein trübes Dorf. Paris! London! Sie ahnen nicht, wie beschränkt die Menschen hier sind ... Hinaus! Hinaus –!
In jeder Zeit sitzt einer und hat sie bis zum Hals herauf satt. Ah – die ewig gleichen Schlagworte, der Gemeinplatz, die dummen Bilder – die ewig gleichen Zeitgenossen, die Enge, die zu nahe Vertrautheit mit allen – und wenn Sie wüßten, wie ich mich sehne, einmal herauszukommen ... ! Wir haben hier im Jahre 1926 so gar keine Anregung ... Eine trübe Zeit. Renaissance! Das Jahr 2000! Sie ahnen nicht, wie beschränkt die Menschen von heute sind ... Hinaus! Hinaus!
Reisen bildet.
Es kommt freilich nicht darauf an, wo man seine Koffer hinträgt; es kommt darauf an, was man nach Hause bringt – im Kopf. Manche reisen durch die ganze Welt und kommen eine Kleinigkeit dümmer heim als der Nachtwächter von Messenthien. Ich kannte einen Kaufmann, der stak lange in Indien – seinem Intellekt nach hätte ich ihm kaum Magdeburg zugetraut.
Aber freilich erwarten die meisten Leute vom Draußen mehr, als da anzutreffen ist; und wenn nicht die Bewegung der Reise wäre, das Fremdsein, da bliebe nicht viel. »Es ist schön«, spricht der Weise, »die Dinge zu schauen – es ist schrecklich, sie zu sein.« Und man möchte ja nicht gleich überall wohnen. Denn wohnt man, so tauchen auf einmal alle Bekannten der kleinen Stadt wieder auf: die Ehrgeizige und der Dreigroschen-Mussolini – der Nachtwächter der Kunst und der Straßenreiniger der Zensur ... alle Vögel sind schon da. Und fluchtartig ergreift der Fremde erneut den Regenschirm.
Alles das gibt's auch in der Zeit. Wir sind eingefangen in der Zeit wie in einem kleinen Nest – umlauert, beklatscht, alle Welt kennt sich und rückt einem unangenehm nahe auf den Leib – da gibt's keine Flucht. Es ist manchmal, um aus der Zeit zu fahren.
Und wohin führen wir dann? In die Zeitfremde.
Wir müßten erst die Sprache der andern Epoche lernen – auch mit dem reinsten Deutsch des Jahres 1926 käme man in dem Berlin von 1805 nicht weit. Fremd ständen wir herum, wären erheitert und erschüttert, begeistert und beglückt, ermüdet und gelangweilt, wie auf einer Reise. Und wären wir akklimatisiert, sehnten wir uns fort, in eine andere Zeit.
Aber gäbe es das, so fiele vielleicht eins fort: der Größenwahn, den jede Epoche ihr eigen nennt. Die Welt ist erfüllt von Kleinstädtern der Zeit, von Leuten, die nie aus ihrer Zeit herausgekommen sind, die nichts andres gesehen haben als ihre kümmerlichen siebzig Jahre. Reisebeschreibungen haben sie ja gelesen, also Geschichtsbücher – aber das allein tut's nicht. Wie gut täte ihnen, sich einmal den Zeitwind um die Nase wehen zu lassen – Was sähen sie?
Sie sähen, wie andre Zeiten andre Sitten gebären – wie andre Zeiten andre Ideale haben, wie grade das, was ihnen selbstverständlich ist, es zu andrer Zeit nicht war – und da nur und ausschließlich das Selbstverständliche, das, worüber keiner mehr spricht, charakteristisch für einen Menschen ist, so kämen sie vielleicht gewandelt, durcheinandergeschüttelt, weiser zurück. Sie sagten nicht mehr: Das ist so! Sondern sie sagten: Ja, das ist heute so ... ! Aber sie sähen noch ein andres.
Sie sähen auf einmal, wie wenig die Bedeutung der Personen und der Sachen dem Aufwand an Radau entspricht, der stets vollführt wird, sie werden sich vorkommen, wie ein Fremder, der aus Versehen in einen Verwandtschaftskrach hineingeraten ist. »Oh!« denkt er sich. Und: »Warum schreien nur alle diese Leute so entsetzlich –?«


Gute Nacht!

Samstag, 3. September 2016

Ausgleichende Gerechtigkeit

von Mascha Kaléko
Die Strafe, die ich oft verdient,
Gestehen wir es offen:
Ist sonderbarerweise nie
Ganz pünktlich eingetroffen.

Der Lohn, der mir so sicher war
Nach menschlichem Ermessen,
Der wurde leider offenbar
Vom Himmel auch vergessen.

Doch Unglück, das ich nie bedacht,
Glück, das ich nie erhofft –
Sie kamen beide über Nacht.
So irrt der Mensch sich oft.

Gute Nacht!
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