Sonntag, 19. Juli 2020

Woran glaubt der Westen?

von Karl Popper

Wir im Westen glauben an die Demokratie nur in diesem nüchternen Sinn – als eine Staatsform des kleinsten Übels. So hat sie auch der Mann geschildert, der die Demokratie und den Westen gerettet hat. »Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen«, so sagte einst Winston Churchill, »ausgenommen alle anderen Regierungsformen.«
Platons Frage »Wer soll regieren? Wer soll die Macht haben?« ist also falsch gestellt. Wir glauben an die Demokratie, aber nicht, weil in der Demokratie das Volk herrscht. Weder Sie noch ich herrschen; im Gegenteil, Sie sowohl wie ich, wir werden regiert, und manchmal mehr als uns lieb ist. Wir glauben an die Demokratie als die einzige Regierungsform, die mit politischer Opposition und daher mit der politischen Freiheit verträglich ist.
Leider wurde Platons Problem »Wer soll herrschen?« von den Staatstheoretikern niemals klar abgelehnt. Im Gegenteil, Rousseau stellte dieselbe Frage, antwortete aber, umgekehrt wie Platon: »Der allgemeine Wille [des Volkes] soll herrschen – der Wille der vielen, nicht der der wenigen«; eine gefährliche Antwort, da sie zur Mythologie und Vergöttlichung des »Volkes« und seines »Willens« führt. Und auch Marx fragte, ganz im Sinn Platons: »Wer soll herrschen, die Kapitalisten oder die Proletarier?«; und auch er antwortete: »Die vielen sollen herrschen, nicht die wenigen; die Proletarier, nicht die Kapitalisten.«
[...]
Aber, so fragen unsere Gebildeten und Halbgebildeten, kann es recht sein, dass meine Stimme nicht mehr gelten soll als die eines ungebildeten Straßenkehrers? Gibt es nicht eine Elite des Geistes, die weiter sieht als die Masse der Ungebildeten und der deshalb ein größerer Einfluss auf die großen politischen Entscheidungen eingeräumt werden sollte?
Die Antwort ist, dass leider die Gebildeten und Halbgebildeten auf alle Fälle einen größeren Einfluss haben. Sie schreiben Bücher und Zeitungen, sie lehren und halten Vorträge, sie sprechen in Diskussionen und können als Mitglieder ihrer politischen Partei ihren Einfluss ausüben. Ich will aber nicht sagen, dass ich es für gut halte, dass der Einfluss der Gebildeten größer ist als der der Straßenkehrer. Denn die Platonische Idee von der Herrschaft der Weisen und Guten ist meiner Meinung nach unbedingt abzulehnen. Wer entscheidet denn über die Weisheit und Unweisheit? Sind nicht die Weisesten und Besten gekreuzigt worden – und von denen, die als weise und gut anerkannt waren?


Gute Nacht!
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