Mittwoch, 24. Dezember 2014

Geben und Nehmen

von Hermann Hesse 

Es ist ein merk­wür­di­ges, doch ein­fa­ches Ge­heim­nis der Le­bens­weis­heit aller Zei­ten, dass jede kleins­te selbst­lo­se Hin­ga­be, jede Teil­nah­me, jede Liebe uns rei­cher macht, wäh­rend jede Be­mü­hung um Be­sitz und Macht uns Kräf­te raubt und ärmer wer­den lässt. Das haben die Inder ge­wusst und ge­lehrt, und dann die wei­sen Grie­chen, und dann Jesus, des­sen Fest wir jetzt fei­ern, und seit­her noch Tau­sen­de von Wei­sen und Dich­tern, deren Werke die Zei­ten über­dau­ern, wäh­rend Rei­che und Kö­ni­ge ihrer Zeit ver­schol­len und ver­gan­gen sind. Ihr mögt es mit Jesus hal­ten oder mit Plato, mit Schil­ler oder mit Spi­no­za, über­all ist das die letz­te Weis­heit, dass weder Macht noch Be­sitz noch Er­kennt­nis selig macht, son­dern al­lein die Liebe. Jedes Selbst­los­sein, jeder Ver­zicht aus Liebe, jedes tä­ti­ge Mit­leid, jede Selbst­ent­äus­se­rung scheint ein Weg­ge­ben, ein Sich­be­rau­ben, und ist doch ein Rei­cher­wer­den und Grös­ser­wer­den, und ist doch der ein­zi­ge Weg, der vor­wärts und auf­wärts führt. Es ist ein altes Lied und ich bin ein schlech­ter Sän­ger und Pre­di­ger, aber Wahr­hei­ten ver­al­ten nicht und sind stets und über­all wahr, ob sie nun in einer Wüste ge­pre­digt, in einem Ge­dicht ge­sun­gen oder in einer Zei­tung ge­druckt wer­den.


Gute (Weih-)Nacht!

Sonntag, 21. Dezember 2014

Die Sicht der Dinge

von Khalil Gibran
Du hast dein Denken, und ich habe meins. Dein Denken ist Gesellschaftswissenschaft, ein Wörterbuch der Theologie und Politik. Meins ist ein einfaches Axiom. Dein Denken spricht von der schönen Frau, der Hässlichen, der Tugendhaften, der Prostituierten, der Klugen und der Dummen. Meins sieht in jeder Frau eine Mutter, eine Schwester oder eine Tochter eines jeden Menschen. Dein Denken kreist um Diebe, Verbrecher und um Mörder. Meines erklärt, dass Diebe Geschöpfe der Ausbeutung sind, Verbrecher die Ausgeburt der Tyrannei und Mörder die Brüder ihrer Opfer. Dein Denken definiert Gesetze, Gerichtshöfe, Richter, Strafen. Meines erklärt: Wenn der Mensch ein Gesetz macht, dann übertritt er es oder befolgt es. Wenn es ein grundlegendes Gesetz gibt, dann sind wir vor ihm alle gleich. 
Wer den Niedrigen gering schätzt, ist selber niedrig. Wer den Sünder schmäht, schmäht die gesamte Menschheit. Dein Denken schmeichelt dem Gelehrten, dem Künstler, dem Intellektuellen, dem Denker und dem Priester. Meines spricht vom Liebenden und Liebevollen, vom Ehrlichen, vom Wahrhaftigen, vom Guten und vom Märtyrer. Dein Denken predigt Judentum, Brahmanismus, Buddhismus, Christentum, Islam. In meinem Denken gibt es nur eine Religion, und ihre vielfältigen Pfade sind lediglich die Finger der liebevollen Hand des Höchsten Wesens.

Gute Nacht!

Dienstag, 16. Dezember 2014

Die öffentlichen Verleumder

von Gottfried Keller

Ein Ungeziefer ruht
In Staub und trocknem Schlamme
Verborgen, wie die Flamme
In leichter Asche tut.
Ein Regen, Windeshauch
Erweckt das schlimme Leben,
Und aus dem Nichts erheben
Sich Seuchen, Glut und Rauch.

Aus dunkler Höhle fährt
Ein Schächer, um zu schweifen;
Nach Beuteln möcht' er greifen
Und findet bessern Wert:
Er findet einen Streit
Um nichts, ein irres Wissen,
Ein Banner, das zerrissen,
Ein Volk in Blödigkeit.

Er findet, wo er geht,
Die Leere dürft'ger Zeiten,
Da kann er schamlos schreiten,
Nun wird er ein Prophet;
Auf einen Kehricht stellt
Er seine Schelmenfüsse
Und zischelt seine Grüsse
In die verblüffte Welt

Gehüllt in Niedertracht
Gleichwie in einer Wolke.
Ein Lügner vor dem Volke,
Ragt bald er gross an Macht
Mit seiner Helfer Zahl,
Die hoch und niedrig stehend,
Gelegenheit erspähend,
Sich bieten seiner Wahl.

Sie teilen aus sein Wort,
Wie einst die Gottesboten
Getan mit den fünf Broten,
Das klecket fort und fort!
Erst log allein der Hund,
Nun lügen ihrer tausend;
Und wie ein Sturm erbrausend,
So wuchert jetzt sein Pfund.

Hoch schiesst empor die Saat,
Verwandelt sind die Lande,
Die Menge lebt in Schande
Und lacht der Schofeltat!
Jetzt hat sich auch erwahrt,
Was erstlich war erfunden:
Die Guten sind verschwunden,
Die Schlechten stehn geschart!

Wenn einstmals diese Not
Lang wie ein Eis gebrochen,
Dann wird davon gesprochen,
Wie von dem schwarzen Tod;
Und einen Strohmann baun
Die Kinder auf der Heide,
Zu brennen Lust aus Leide

Und Licht aus altem Graun.

Gute Nacht!

Mittwoch, 10. Dezember 2014

Die Hand - Bedingung der Zärtlichkeit

von Günther Anders

Wichtigste Folge des aufrechten Ganges ist also: Freiheit der Hand. Ohne diese Freiheit, die die gesamte Humanität des Menschen bedingt (nämlich sein Verhältnis zur Welt, das in "Behandlung" besteht), wäre auch die menschliche Liebe, gleich, ob wir an die tröstende Hand denken oder an die verführende, niemals human.
Keinen hoffnungsloseren Anblick gibt es, als den von Tieren, denen Körperbau und Körperhaltung das verwehrt, was ihre Zärtlichkeit verlangt. — Neulich im Zoo das Pony, das ausgestreckten Halses über den Nacken seines Zwillings hin- und herkosend, verzweifelt schien, eben weil ihm nicht mehr gegönnt war, als nur anzudeuten, was es meinte. - Wie tröstlich war es danach, zu den Bären zu kommen, denen aus unerfindlichen Gründen mehr gewährt ist: Die Bärin hielt ihre zwei Kleinen in ihren Armen. — Wenn uns der Bär, trotz seiner notorischen Gefährlichkeit "näher" scheint als Löwe oder Tiger, wenn er uns rührt wie ein tolpatschiges Kind, so eben, weil er schon beinahe
"frei" ist für Zärtlichkeiten. Und siehe da: Im Unterschiede zu Löwe oder Tiger gehört es bereits zu ihm, sich aufzurichten; wenn auch nur halb und vorübergehend, so als habe er das letzte Examen im aufrechten Gang doch noch nicht bestehen können. —
Und nun wir.
Gibt es auch nur eine einzige Liebesgeste ohne den für die Liebe freien Arm? Ohne die für die Liebe freie Hand? Wo soll man da anfangen? Damit, daß wir uns schon aus der Entfernung entgegenwinken können? Oder damit, daß wir einander die Hand reichen oder einander bei den Händen halten können? Also Nähe und Distanz verbinden können? Denn Hand in Hand, oder Arm in Arm — das ist ja mehr, mindestens anderes, als nur augenblickliches Aneinanderdrängen: nämlich Zusammengehörigkeit; Zusammengehörigkeit, die jeden doch noch als ihn selbst "freiläßt". —Nichts dergleichen habe ich je bei Tieren gesehen.


Gute Nacht!

Mittwoch, 3. Dezember 2014

Figurinen

von Kurt Tucholsky
Einmal war ich schon achtzig Jahr.
Einmal, in einem frühem Leben,
da hat sich dieses mit mir begeben
– und ich hatte ganz weißes Haar –:
 
Ich saß im Lehnstuhl, nett und beschaulich,
so kurz nach Tisch – mir war so verdaulich.
Blumen im Fenster. Im Käfig ein Matz –
auf dem Tisch eine Tasse mit Untersatz ...
Und vor mir hielt ich auf meinen Knien
ein Album mit alten Fotografien.
Und ich machte ein Nickerchen ...
Aus ihren Rahmen
stiegen alle vergessenen Damen.
 
Eine war schlank und klug und bescheiden.
Die mochte ich immer am liebsten leiden.
Sie roch die Menschen. Sie wußte immer,
betrat sie nur einmal ein fremdes Zimmer:
die hat mit dem da – der ist stolz –
und die Frau ist falsch wie Galgenholz.
Sie erschien, wie im Nebel. Ich streckte die Hand
nach ihr – sie wich zurück und verschwand.
Und sie sprach, indes ich, wie verträumt,
ein Glück zerschlagen – ein Leben versäumt:
»Ich war die Nettste.«
 
Dann kam eine, ein dickes Paket,
wie es gar nicht in eine Corsage geht.
Wenn sie mir abends entgegenschwoll,
war das ganze Schlafzimmer voll.
Und sie trank zwischendurch –
wie ich das noch seh! –
immer Kaffee und Selter und Tee.
Und während in weichen Kissen sie kraucht,
hat das Schwergewicht mir entgegengehaucht:
»Ich war die Fettste.«
 
Dann hört ich im Halbschlaf einen Chor
von Stimmen. Und eine tauchte empor,
ein ganz junges Mädchen, weiß, ganz weich –
sie zögerte, näherte sich nicht gleich ...
Ich streckte nach ihr die Arme aus.
Sie stand vor einem Schifferhaus.
Und man hörte das Meer ...
Und sie sprach und sah mich dabei an –
und da weinte ich alter Mann –:
»Ich war die Letzte.«
 
Auf den Tod zu warten, ist so schwer ...
Aber das ist schon lange her.
Gute Nacht!

Montag, 24. November 2014

Ehrfurcht vor dem Leben

von Albert Schweitzer
Die Ethik das Ehrfurcht vor dem Leben erkennt keine relative Ethik an. Als gut lässt sie nur Erhaltung und Förderung von Leben gelten. Alles Vernichten und Schädigen von Leben, wenn es uns nicht durch das Schicksal auferlegt ist, empfindet sie als böse. Gebrauchsfertig zu beziehende Ausgleiche von Ethik und Notwendigkeit hält sie nicht auf Lager. Immer verlangt sie von uns, dass wir in jedem Fall selber entscheiden, inwieweit wir ethisch bleiben können und inwieweit wir uns der Notwendigkeit von Schädigung und Vernichtung von Leben unterwerfen müssen und damit schuldig werden. Immer mehr müssen wir von der Sehnsucht erfasst werden, Leben zu erhalten und Leben zu fördern. In der Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben liegt ein elementarer Begriff von Verantwortung beschlossen, dem wir uns ergeben müssen. Immer von neuem und in immer originaler Weise setzt die absolute Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben sich im Menschen mit der Wirklichkeit auseinander. Sie tut die Konflikte nicht für ihn ab, sondern zwingt ihn, sich in jedem Falle selber zu entscheiden, inwieweit er ethisch bleiben kann und inwieweit er sich der Notwendigkeit von Vernichtung und Schädigung von Leben unterwerfen und damit Schuld auf sich nehmen muss. Nicht durch empfangene Anleitung zu Ausgleichen zwischen ethisch und notwendig kommt der Mensch in der Ethik voran, sondern nur dadurch, dass er die Stimme des Ethischen immer lauter vernimmt, dass er immer mehr von Sehnsucht beherrscht wird, Leben zu erhalten und zu fördern, und dass er in dem Widerstande gegen die Notwendigkeit des Vernichtens und Schädigens von Leben immer hartnäckiger wird. Nur subjektive Entscheide kann der Mensch in den ethischen Konflikten treffen. Niemand kann für ihn bestimmen, wo jedes Mal die äußerste Grenze der Möglichkeit des Verharrens in der Erhaltung und Förderung von Leben liegt. Er allein hat es zu beurteilen, indem er sich dabei von der aufs höchste gesteigerten Verantwortung gegen das andere Leben leiten lässt.


Gute Nacht!

Mittwoch, 12. November 2014

Lied von den Schnecken, die zum Begräbnis ziehen

von Jacques Prévert
Zwei Schnecken ziehen zum Begräbnis
Des verstorbenen Blattes.
Schwarz ist ihr Schneckenhaus
Und ihre Hörnchen tragen einen Trauerflor.
So ziehn sie in die Dämmerung!
An einem herbstlich schönen Abend
Doch als sie endlich ankommen,
Ist’s schon Frühling
Die toten Blätter
Sind alle auferstanden
Und die beiden Schnecken
Sind arg enttäuscht.
Die Sonne aber
Spricht:
Nehmt doch wenigstens Platz.
Trinkt ein Glas Bier.
Wenn’s euch danach ist,
Nehmt wenn ihr mögt,
Den Omnibus nach Paris
Er fährt heut abend.
Die Landschaft ist sehenswert,
Aber tragt keine Trauer
Ich bitte drum,
Es trübt das Weiße im Auge
Und macht häßlich.
Grabgeschichten
Sind traurig und gar nicht nett
Tragt wieder Farben,
Die Farben des Lebens.
Da beginnen alle Tiere,
Alle Bäume und Pflanzen
Aus vollem Hals zu singen!
Das große Lebenslied,
Das Lied des Sommers
Und alles trinkt und prostet.
Es ist ein wirklich hübscher Abend,
Ein hübscher Sommerabend
Und die beiden Schnecken
Kehren nach Hause zurück.
Sehr erhoben,
Voller Glück.
Ein bißchen torkeln sie,
Des vielen Trinkens ungewohnt.
Aber am Himmel droben
Behütet sie der alte Mond.
Gute Nacht!

Sonntag, 2. November 2014

Der Anfang des Universums

von Stephen Hawking

Nehmen wir an, es gibt ein erstes Ereignis. Wodurch wurde es verursacht?
Es gab nicht viele Wissenschaftler, die Lust hatten, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Man versuchte, sie zu vermeiden, indem man entweder, wie die Russen, behauptete, das Universum habe keinen Anfang, oder indem man erklärte, für den Ursprung des Universums sei nicht die Naturwissenschaft, sondern die Metaphysik oder die Religion zuständig. Ich denke, das ist ein Standpunkt, den kein wirklicher Wissenschaftler vertreten darf. Wenn die Gesetze der Wissenschaft am Anfang des Universums außer Kraft gesetzt wären, könnten sie dann nicht auch zu anderen Zeiten versagen? Ein Gesetz ist kein Gesetz, wenn es nur manchmal gilt. Wir müssen uns bemühen, den Anfang des Universums mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu begreifen. Das mag eine Aufgabe sein, die über unsere Kräfte geht, aber versuchen sollten wir es zumindest.
Zwar geht aus den Theoremen, die Penrose und ich bewiesen haben, hervor, daß das Universum einen Anfang gehabt haben muß, doch liefern sie über die Natur dieses Anfangs wenig Information. Sie ließen darauf schließen, daß das Universum in einem Urknall begonnen hat, in einem Punkt, in dem das ganze Universum und alles, was in ihm enthalten ist, zu unendlicher Dichte zusammengepreßt war. An diesem Punkt verliert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie ihre Gültigkeit, so daß sie nicht zu der Vorhersage taugt, wie das Universum angefangen hat. So blieb nur der Schluß, der Ursprung des Universums entziehe sich offenbar dem Zugriff der Naturwissenschaft. Damit durften sich die Wissenschaftler jedoch nicht zufriedengeben. Wie (...) dargelegt, büßt die allgemeine Relativitätstheorie in der Nähe des Urknalls ihre Gültigkeit ein, weil es sich bei ihr um eine sogenannte klassische Theorie handelt.
Sie bezieht nicht die Unschärferelation ein, das Zufallselement der Quantentheorie, das Einstein mit dem Einwand abgelehnt hat, der Herrgott würfle nicht. Doch nach allem, was wir heute wissen, hat der liebe Gott eine ziemlich ausgeprägte Spielernatur. Man kann sich das Universum als riesiges Casino vorstellen, in dem bei jeder Gelegenheit Würfel geworfen und Rouletteräder gedreht werden.


Gute Nacht!

Dienstag, 28. Oktober 2014

Dichtung — insgesamt! — ist eine Fahrt ins Unbekannte

 von Wladimir Majakowski
Dichten ist dasselbe wie Radium gewinnen.
Arbeit: ein Jahr. Ausbeute: ein Gramm.
Man verbraucht, um ein einziges Wort zu ersinnen,
Tausende Tonnen Schutt oder Schlamm.
Doch neben dem Erz, dem zerfallenden, fahlen,
brennt jenes Wort ur-elementar;
es setzt in Bewegung mit seinem Strahlen
Millionen Herzen durch tausend Jahr.
Natürlich gibt's Dichter verschiedener Sorten.
Mancher treibt nur sein Zirkuszauberspiel bunt:
zieht endlos papierene Borten von Worten
sich und anderen aus dem Mund.
Was soll ich von lyrischen Kastraten sagen?
Leih'n sich von anderen Kraft und Gefühl.
Gewöhnliche Meister im Stehlen und Unterschlagen —
Veruntreuer gibt's ja im Lande jetzt viel.
Diese heutigen Oden und Gedichte,
umbrüllt vom Jubel, vom Klatschen umkracht,
gehn einst als Spesen ein in die Geschichte
dessen, was zwei, drei von uns vollbracht.
Gute Nacht!

Sonntag, 26. Oktober 2014

Über die Zeit

von Augustinus
 
Niemals also hat es eine Zeit gegeben, wo du nicht schon etwas geschaffen hattest, weil du ja die Zeit selbst geschaffen hast. Und keine Zeit ist ewig wie du, weil du immerdar derselbe bleibst. Wenn sie aber bliebe und nicht verginge, dann wäre sie keine Zeit. Denn was ist die Zeit? Wer vermöchte dies leicht und in Kürze auseinanderzusetzen. Wer kann nun darüber etwas je sprechen, es auch nur in Gedanken umfassen? Und doch erwähnen wir nichts so häufig und nichts ist als so selbstverständlich als die Zeit. Und wir verstehen es allerdings irgendwie, wenn wir davon sprechen, noch verkennen wir es, wenn wir eine andere von ihr reden hören. Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht; mit Zuversicht jedoch kann ich wenigstens sagen, daß ich weiß, daß, wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wem nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. Jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, daß sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist? Wenn dagegen die Gegenwart immer gegenwärtig wäre und nicht in die Vergangenheit Übergänge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wem also die Gegenwart nur darum zur Zeit wird, weil sie in die Vergangenheit übergeht, wie können wir da sagen, daß sie ist und wenn sie deshalb ist, weil sie sofort nicht mehr ist; so daß wir insofern in Wahrheit nur sagen könnten, daß sie eine Zeit ist, weil sie dem Nichtsein zustrebt?

Gute Nacht!

Montag, 20. Oktober 2014

Das Leiden am sinnlosen Leben

von Viktor E. Frankl

Wir leben im Zeitalter eines um sich greifenden Sinnlosigkeitsgefühls. In diesem unserem Zeitalter muss es sich die Erziehung angelegen sein lassen, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch das Gewissen zu verfeinern, so dass der Mensch hellhörig genug ist, um die jeder einzelnen Situation innewohnende Forderung herauszuhören. In einem Zeitalter, in dem die Zehn Gebote für so viele ihre Geltung zu verlieren scheinen, muss der Mensch instand gesetzt werden, die 10000 Gebote zu vernehmen, die in den 10000 Situationen verschlüsselt sind, mit denen ihn sein Leben konfrontiert. Dann wird ihm nicht nur ebendieses sein Leben wieder sinnvoll erscheinen, sondern er selbst wird dann auch immunisiert sein gegenüber Konformismus und Totalitarismus - diesen beiden Folgeerscheinungen des existentiellen Vakuums; denn ein waches Gewissen allein macht ihn "widerstands"-fähig, so dass er sich eben nicht dem Konformismus fügt und dem Totalitarismus beugt. 

So oder so: mehr denn je ist Erziehung - Erziehung zur Verantwortung. Und verantwortlich sein heißt selektiv sein, wählerisch sein. Wir leben in einer affluent society, werden "reizüberflutet" von den mass media, und wir leben im Zeitalter der Pille. Wollen wir nicht in der Flut all dieser Reize, in einer totalen Promiskuität untergehen, dann müssen wir unterscheiden lernen, was wesentlich ist und was nicht, was Sinn hat und was nicht, was sich verantworten läßt und was nicht.
Gute Nacht!

Dienstag, 14. Oktober 2014

Chor der Geretteten

von Nelly Sachs 

Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich -
Unsere Leiber klagen noch nach
Mit ihrer verstümmelten Musik.
Wir Geretteten,
Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht
Vor uns in der blauen Luft -
Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.
Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub.
Wir Geretteten
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Laßt uns das Leben leise wieder lernen.
Es könnte sonst eines Vogels Lied,
Das Füllen des Eimers am Brunnen
Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen
Und uns wegschäumen -
Wir bitten euch:
Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund -
Es könnte sein, es könnte sein
Daß wir zu Staub zerfallen -
Vor euren Augen zerfallen in Staub.
Was hält denn unsere Webe zusammen?
Wir odemlos gewordene,
Deren Seele zu Ihm floh aus der Mitternacht
Lange bevor man unseren Leib rettete
In die Arche des Augenblicks.
Wir Geretteten,
Wir drücken eure Hand,
Wir erkennen euer Auge -
Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied,
Der Abschied im Staub
Hält uns mit euch zusammen.

Gute Nacht!

Montag, 6. Oktober 2014

Die seltsamen Methoden der fränkischen Kreuzritter

von Usama ibn Munqidh

Der Herr von Munaitira schrieb an meinen Onkel und bat ihn, einen Arzt zu
senden, der seine kranken Gefährten heilen sollte. Mein Onkel schickte ihm einen christlichen Arzt mit dem Namen Tābit. 

Nach kaum zehn Tagen kam er wieder zurück, und wir sagten zu ihm: »Du hast die Kranken ja schnell geheilt«, worauf er erzählte:»Sie führten mir einen Ritter vor, der einen Abszess am Bein hatte, und eine Frau, die an Auszehrung litt. Dem Ritter machte ich ein erweichendes Pflaster, und der Abszess öffnete und besserte sich; der Frau verschrieb ich eine Diät und führte ihrer Säftemischung Feuchtigkeit zu.
Da kam ein fränkischer Arzt daher und sagte:
»Der weiß doch überhaupt nicht, wie sie zu behandeln sind!«, wandte sich an den Ritter und fragte ihn: »Was willst du lieber: mit einem Bein leben oder mit beiden Beinen tot sein?«
Der antwortete: »Lieber mit einem Bein leben!«
Da sagte er:»Holt mir einen kräftigen Ritter und ein scharfes Beil!«

Ritter und Beil kamen, ich stand dabei. Er legte das Bein auf einen Holzblock und sagte zu dem Ritter,: »Gib dem Bein einen tüchtigen Hieb, der es abtrennt.«
Er schlug, unter meinen Augen, einmal zu, und da das Bein nicht abgetrennt war, ein zweites Mal: das Mark des Beines spritzte weg, und der Ritter starb sofort.
Hierauf untersuchte er die Frau und sagte: »Die da hat einen Dämon im Kopf, der sich in sie verliebt hat. Schert ihr die Haare!« Sie schoren sie, und sie aß wieder von ihren gewohnten Speisen, Knoblauch und Senf, wodurch ihre Auszehrung sich verschlimmerte. 

»Der Teufel steckt in ihrem Kopf!«, urteilte er, nahm ein Rasiermesser und schnitt ihr kreuzförmig über den Kopf, entfernte die Haut in der Mitte, bis der Schädelknochen freilag, und rieb ihn mit Salz ein: die Frau starb augenblicklich.
Da fragte ich:
»Habt ihr mich noch nötig?«
Sie verneinten, und ich ging weg, nachdem ich von ihrer Heilkunde gelernt hatte, was ich vorher nicht wusste.
«

Gute Nacht!

Samstag, 4. Oktober 2014

Kungfutse beim weisen Laotse

von Tschuang-Tse

Kungfutse besuchte den weisen Laotse. Eifrig legte er seine zwölf klassischen Bücher vor ihm nieder. „Ich glaube, du willst zuviel auf einmal“, sagte der Alte. „was ist der Kernpunkt deiner Lehre?“ „Ich lehre Nächstenliebe und Gerechtigkeit“, antwortete Kungfutse. „Sind dies Teile der menschlichen Natur?“ „Der Charakter eines Menschen ist nicht gut ohne Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Also sind Nächstenliebe und Gerechtigkeit ein Teil seiner Natur. Was sonst könnten sie sein?“ sagte Kungfutse beredt. Doch Laotse fragte still: „Was verstehst du unter Nächstenliebe und Gerechtigkeit?“
„Gleiches Glück allen Menschen zu bieten und alle Menschen ohne Unterschied und ungeteilt zu lieben: das ist die Essenz von Nächstenliebe und Gerechtigkeit.“
„Du redest, wie man heutzutage so redet“, sagte der Alte. „Du sagst: 'ohne Unterschied' und 'ungeteilt' und setzest damit 'geteilt' und 'Unterschied' voraus. Wer war es denn, der Unterschiede schuf und zerteilte?
Wenn du die Menschen lehren willst, ihren verlorenen Hirten wiederzufinden, erinnere dich bitte daran, dass das Universum bereits ein ungeteiltes Ganzes ist. Sonne und Mond scheinen gerecht und unterschiedslos für alle, ihre Bahn verläuft regelmäßig und am vorgezeichneten Platz. Die Tiere leben schon immer in Herden beieinander oder auch einzeln. Die Bäume wachsen an dem für sie geeigneten Ort, und niemand braucht ihnen zu sagen, wie sie es richtig und gerecht machen sollen. Warum siehst du dir nicht einfach dieses Leben (Tao) und diese Gerechtigkeit (Te) an? Du schwenkst deine Fahne von Nächstenliebe und Gerechtigkeit und verwirrst damit alles nur noch mehr. Du kommst mir vor wie ein Mann, dessen Sohn gestorben ist, und nun geht er herum und schlägt ungeduldig die Trommel in der Hoffnung, ihn dadurch wiederzufinden. Ach lehre doch lieber die Menschen, zu ihrer eigenen vollkommenen Einfachheit zurückzufinden. Das ist nämlich schon das höchste Tao.
Der Schwan ist weiß, ohne dass ihn jemand künstlich reinigt. Der Rabe ist schwarz, ohne dass ihn jemand angeschwärzt hat. Hell und Dunkel, Weiß und Schwarz, alles ist von selbst an seinem natürlichen Platz. Das ist gut. All dieses Streben der Menschen nach gutem Ruf und organisierter Gerechtigkeit ist hoffnungslos. Weißt du, an was mich das erinnert? Wenn ein Teich ausgetrocknet ist und die Fische auf dem Trockenen liegen, versuchen sie sich gegenseitig mit ihren Mäulern zu befeuchten. Aber was ihnen wirklich helfen würde, wäre einzig und allein, wenn jemand sie zurückwürfe in die Flüsse und Meere.“
Kungfutse ging nach Hause und konnte drei Monate nicht reden; in tiefes Nachdenken versunken. Dann besuchte er den Alten noch einmal. Sie saßen lange schweigend beieinander, vielleicht tranken sie Tee oder kochten sich Reis. Sie betrachteten die Pflanzen des Gartens, sahen die Sonne kommen und gehen, die Tiere aufstehen und sich schlafenlegen. Es war alles sehr still, sehr einfach und in seiner Ordnung, sehr liebevoll und sehr gerecht. Laotse lächelte, und Kungfutse sagte: „Jetzt verstehe ich es.“


Gute Nacht!

Mittwoch, 24. September 2014

Herbstklage

von Nikolaus Lenau
Holder Lenz, du bist dahin!
Nirgends, nirgends darfst du bleiben!
Wo ich sah dein frohes Blühn,
Braust des Herbstes banges Treiben.

Wie der Wind so traurig fuhr
Durch den Strauch, als ob er weine;
Sterbeseufzer der Natur
Schauern durch die welken Haine.

Wieder ist, wie bald! wie bald!
Mir ein Jahr dahingeschwunden.
Fragend rauscht es aus dem Wald:
'Hat dein Herz sein Glück gefunden?'

Waldesrauschen, wunderbar
Hast du mir das Herz getroffen!
Treulich bringt ein jedes Jahr
Welkes Laub und welkes Hoffen.
Gute Nacht!

Sonntag, 14. September 2014

Die Schale des Verlangens

von Hazrat Inayat Khan

Eine alte Geschichte erzählt von einem König, der einem Derwisch einen Wunsch erfüllen wollte. Der Derwisch wünschte sich, dass man seine Bettelschale mit Goldmünzen füllen möge. Der König hielt es für ein Leichtes, die Schale zu füllen. Aber die Schale erwies sich als eine Zauberschale. Je mehr er auch versuchte, sie zu füllen, - sie blieb leer! Der König war sehr enttäuscht bei dem Gedanken, dass er sein Versprechen nicht erfüllen könnte. Da sagte der Derwisch: „Majestät, wenn Sie meine Schale nicht füllen können, so sagen Sie es nur, und ich werde sie wieder mitnehmen. Ich bin ein Derwisch und werde wieder gehen und nur denken, dass Sie Ihr Wort nicht gehalten haben.“
Mit all seinen guten Absichten, seiner Großzügigkeit und seinem Reichtum konnte der Herrscher die Schale nicht füllen. Darum fragte er: „Derwisch, erzähle mir das Geheimnis deiner Schale. Es scheint mir nicht natürlich zu sein.“ Der Derwisch antwortete ihm: „Ja, Majestät, es ist wahr, Sie vermuten richtig. Es ist eine Zauberschale. Es ist die Schale eines jeden Herzens. Es ist das Herz des Menschen, das niemals zufrieden ist. Füllen Sie es, womit Sie wollen, mit Reichtum, mit Aufmerksamkeit, mit Liebe, mit Wissen, mit allem, was es gibt. Es wird niemals gefüllt sein, denn es ist ihm nicht bestimmt, gefüllt zu werden. Weil er dieses Geheimnis des Lebens nicht kennt, verlangt der Mensch stets nach allen Dingen, die er vor sich sieht. Und je mehr er bekommt, desto mehr wünscht er sich, - die Schale seines Verlangens wird niemals gefüllt sein.


Gute Nacht!

Montag, 8. September 2014

Grodek

von Georg Trakl
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düster hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt,
Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre,
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.

Gute Nacht!

Dienstag, 2. September 2014

Über den Reichtum

von Erasmus von Rotterdam
 

Aber wir wollen nun die Annehmlichkeiten unter die Lupe nehmen, die das Geld verschafft, wie man so glaubt.
Zunächst nimmt nach der einhelligen Meinung der heidnischen Philosophen unter den nützlichen Gütern der Reichtum die letzte Stelle ein, und wenn nach der Einteilung Epiktets außer der Tugend der Seele alles andere außerhalb des Menschen liegt, dann liegt nichts so außer uns als das Geld, und nichts bringt so geringfügigen Vorteil mit sich. Wenn du ganz allein alles Gold und alle Edelsteine besäßest, wäre dadurch dein Charakter auch nur um ein Haar besser, wärst du klüger und gebildeter? Wäre es um deine Gesundheit besser bestellt, würde es dich kräftiger, schöner, jünger machen?
»Aber das Geld verschafft Genüsse.« Gewiß; jedoch solche, die zum Tod führen. »Aber es erwirbt Ehre.« Jedoch was für Ehre? Doch wohl eine solche, die diejenigen fälschlich spenden, die nur Törichtes bewundern und deren Lob fast einem Tadel gleichkommt. Wahre Ehre ist es, von denen gelobt zu werden, die Lob verdienen; höchste Ehre ist es, Christus wohlzugefallen. Wahre Ehre ist nicht eine Auszeichnung für Geld, sondern für die Tugend. Es fällt dir Geld zu, der Pöbel bewundert dich: Du Narr, er bewundert deine Gewänder, nicht dich. Warum steigst du nicht zu dir selbst herab und betrachtest die jämmerliche Armut deiner Seele? Würde der große Haufe sie sehen, er würde dich für so bedauernswert halten, wie er dich nun glücklich preist.
»Aber Geld verschafft Freunde.« Zugegeben. Aber falsche Freunde, und es erwirbt sie nicht dir, sondern ihnen selbst. Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist der Reiche am allerunglücklichsten, weil er die Freunde nicht zu erkennen vermag. Der eine haßt ihn in seinem Busen als geizig, der andere beneidet ihn, weil er reicher ist, ein Dritter hat nur sich selbst im Auge, er spendet ihm Beifall und lächelt ihm zu, um von ihm zehren zu können. Wer ihn noch so sehr ins Gesicht liebt, der wünscht ihm doch einen frühzeitigen Tod. Niemand liebt ihn so, daß er ihm tot nicht lieber wäre als lebendig. Niemand ist mit ihm so vertraut, daß er die Wahrheit von ihm zu hören bekäme.
Mag einer einen Reichen auch noch so aufrichtig lieben, dieser muß doch jeden beargwöhnen. Alle muß er für Aasgeier halten, die auf seinen Leichnam lauern, alle für zudringliche Fliegen, die um seine Vorräte herumschwirren. Was immer also das Geld an Vorteilen mit sich zu bringen scheint, das ist übertüncht, schemenhaft und voller Blendwerk.
Zumeist bringt Reichtum wahre Übel und benimmt die wahren Güter. Wenn du Soll und Haben wohl gegeneinander abwägst, dann wirst du finden, daß Reichtum niemals solchen Vorteil bringt, daß er nicht weit größeren Nachteil im Gefolge hätte. Mit welch jämmerlichen Plackereien muß man ihn sich erwerben, unter welchen Gefahren und mit welch großer Unruhe sein Sklave sein, mit welch großem Schmerz verliert man ihn! Aus diesem Grund nennt Christus den Reichtum die Dornen, die jegliche Seelenruhe, das Süßeste, was es für den Menschen gibt, mit tausend Sorgen zerfleischen. Nie wird der Durst nach ihm gestillt, sondern mehr und mehr reizt es ihn an. Unaufhaltsam treibt er in jegliches Verbrechen. Laß dir nicht betrügerisch schmeicheln, indem du sagst: Nichts hindert daran, zugleich reich und fromm zu sein.
Denke daran, was die Wahrheit gesagt hat: Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgeht, als daß ein Reicher in das Himmelreich eingehe.
Durchaus wahr ist auch jener Ausspruch des heiligen Hieronymus: Ein Reicher muß entweder Herr oder Erbe des ungerechten Mammons sein. Beträchtlichen Reichtum erwirbt oder erhält man nie ohne Sünde. Bedenke, daß er dir weit größere Schätze raubt.
Gute Nacht!

Donnerstag, 28. August 2014

Vernunftreiche Gartenentzückung

von Peter Hacks
Die Kartoffel ist auch eine Blume.
Und mit gelben Federn blüht der Mais.
Und gereicht es nicht dem Dill zu Ruhme,
Wie er zierlich Frucht zu tragen weiß?
Ihr in eurem Prunk und Wohlgeruche,
Stolze Rosen, bleiche Lilien,
Ließet nagen uns am Hungertuche.
Nur was nützet, ist vollkommen schön.
 Gute Nacht!

Sonntag, 24. August 2014

Dummheit

von Curt Goetz

Wenn die Menschheit nur schlecht wäre - sie war es immer -, aber dass sie so dumm geworden ist, ist verdächtig! Sollte das Ende der Welt so nahe sein?
Nach dem Gesetz, dass ein Mittel gegen eine Krankheit immer dann gefunden wird, wenn sie ihren Höhepunkt erreicht hat, wenn sie schier unerträglich geworden ist, nach diesem Gesetz muss heute oder morgen die Mikrobe der menschlichen Dummheit gefunden werden. Wenn es gelingt, ein Serum gegen die Dummheit zu finden, diese entsetzlichste aller ansteckenden Krankheiten, dann wird es im Nu keine Kriege mehr geben und an die Stelle der internationalen Diplomatie wird der gesunde Menschenverstand treten.
Als Trottel dazustehen, wäre heutzutage nicht weiter auffallend. Denn wer in einem gewissen Alter nicht merkt, dass er von Dummköpfen umgeben ist, merkt es aus einem gewissen Grunde nicht.
Es gibt Leute, die so dumm sind, dass sie aus mir nicht klug werden. Zu diesen gehöre ich.

Gute Nacht!

Mittwoch, 20. August 2014

Über die Schwierigkeiten der Umerziehung

von Hans Magnus Enzensberger
Einfach vortrefflich
all diese großen Pläne:
das Goldene Zeitalter
das Reich Gottes auf Erden
das Absterben des Staates.
Durchaus einleuchtend.

Wenn nur die Leute nicht wären!
Immer und überall stören die Leute.
Alles bringen sie durcheinander.

Wenn es um die Befreiung der Menschheit geht
laufen sie zum Friseur.
Statt begeistert hinter der Vorhut herzutrippeln
sagen sie: Jetzt wär ein Bier gut.
Statt um die gerechte Sache
kämpfen sie mit Krampfadern und mit Masern.
Im entscheidenden Augenblick
suchen sie einen Briefkasten oder ein Bett.
Kurz bevor das Millennium anbricht
kochen sie Windeln.

An den Leuten scheitert eben alles.
Mit denen ist kein Staat zu machen.
Ein Sack Flöhe ist nichts dagegen.

Kleinbürgerliches Schwanken!
Konsum-Idioten!
Überreste der Vergangenheit!

Man kann sie doch nicht alle umbringen!
Man kann doch nicht den ganzen Tag auf sie einreden!
Ja wenn die Leute nicht wären
dann sähe die Sache schon anders aus.

Ja wenn die Leute nicht wären
dann gings ruckzuck.
Ja wenn die Leute nicht wären
ja dann!
(Dann möchte auch ich hier nicht weiter stören.)

Gute Nacht!

Freitag, 15. August 2014

Erkenntnis und Schönheit

von Friedrich Nietzsche

[Viele] meinen, die Wirklichkeit sei hässlich: aber daran denken sie nicht, dass die Erkenntnis auch der hässlichsten Wirklichkeit schön ist, ebenso dass, wer oft und viel erkennt, zuletzt sehr ferne davon ist, das große Ganze der Wirklichkeit, deren Entdeckung ihm immer Glück gab, hässlich zu finden.


Gibt es denn etwas »an sich Schönes«? Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht alles, was da ist, sonniger; die Erkenntnis legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge; – möge die zukünftige Menschheit für diesen Satz ihr Zeugnis abgeben!
Inzwischen gedenken wir einer alten Erfahrung: zwei so grundverschiedene Menschen wie Plato und Aristoteles kamen in dem überein, was das höchste Glück ausmache, nicht nur für sie oder für Menschen, sondern an sich, selbst für Götter der letzten Seligkeiten: sie fanden es im Erkennen, in der Tätigkeit eines wohlgeübten findenden und erfindenden Verstandes (nicht etwa in der »Intuition«, wie die deutschen Halb- und Ganztheologen, nicht in der Vision, wie die Mystiker, und ebenfalls nicht im Schaffen, wie alle Praktiker).
Ähnlich urteilten Descartes und Spinoza: wie müssen sie alle die Erkenntnis genossen haben! Und welche Gefahr für ihre Redlichkeit, dadurch zu Lobrednern der Dinge zu werden!
Gute Nacht!

Donnerstag, 7. August 2014

Schwermut

von Friedrich Kirchner

Schwermut heißt diejenige Grundstimmung des Gemütes, in der sich der Mensch durch alles, was er erlebt, gehemmt und niedergedrückt fühlt, und in der alle seine Empfindungen, Gefühle und Stimmungen schmerzlich und trübe ausklingen. Das menschliche Gemüt kann durch den Druck einer starren Vergangenheit oder einer aufregenden Gegenwart beschwert werden. Während der Leichtmütige dabei frisch und frei bleibt, blickt der Schwermütige düster ins Leben; alle Erlebnisse, Erinnerungen und Aussichten werden durch seinen umflorten Blick getrübt. Selbst die Lust wird ihm zur Last. Besonders disponiert dazu das mehr rezeptive, weiche, sinnige Temperament, während das sanguinische und cholerische zum Leichtmut neigt. Aber oft wird auch die Grundstimmung des Menschen durch das Leben geändert: in der Jugend leichtsinnig, wird er durch Enttäuschung, Unglück und Kummer allmählich schwermütig; der Künstler neigt zum Leichtsinn, der Gelehrte zur Schwermut. Leicht verschwebende Schwermut macht interessant und reizt zur Nachahmung, wie das Zeitalter Rousseaus und Werthers beweist. Das Schmerzgefühl hat auch seinen Reiz, was schon Epikur und Ovid erkannten, und der Bach der Schwermut, sagt Young, führt seine Perlen mit sich.
 
Gute Nacht!

Montag, 4. August 2014

Der Rebell

von Charles Baudelaire
Ein Engel stürzt sich wie ein Aar zur Erde
Und rauft des Glaubenslosen Haar voll Grimm:
»Ich will, dass dem Gesetz Gehorsam werde!
Dein guter Engel bin ich, drum vernimm:

Du sollst sie lieben ohne Widerstreiten,
Die arm und schlecht sind, blöd und kranken Bluts,
Damit du vor dem Herrn dereinst kannst breiten
Prunkvoll den Teppich deines Edelmuts.

Denn das ist Liebe! Sorg' eh' sie entschwindet,
Dass stets dein Herz in Gott Verzückung findet,
Das ist der ewigen Wollust Sinn und Sein!«

Der Engel wahrlich züchtigt, den er liebt,
An dem Verdammten seine Faust er übt;
Doch immer sagt der Gottverfluchte: »Nein!«
Gute Nacht!

Freitag, 25. Juli 2014

Der Vater und der Sohn

von Johann Peter Hebel
Der Vater stellte ein Gläslein voll Arznei in die Schublade, weil er glaubte, es sei nirgends besser verwahrt. Als aber der Sohn nach Hause kam und die Schublade schnell aufziehn wollte, fiel das Gläslein um und zerbrach. Da gab ihm der Vater eine zornige Ohrfeige und sagte: "Kannst du nicht zuerst schauen, was in der Tischlade ist, eh' du sie auftust?" Der Sohn erwiderte zwar: Nein, das könne niemand. Aber der Vater sagte: "Den Augenblick sei still, oder du bekommst noch eine."
Merke: Man ist nie geneigter Unrecht zu tun, als wenn man Unrecht hat. Recht ist gut beweisen. Aber für das Unrecht braucht man schon Ohrfeigen und Drohungen zum Beweistum.


Gute Nacht!

Sonntag, 20. Juli 2014

Das höchste Gut

von Boethius

Einige, die es für das höchste Glück halten, an nichts Mangel zu haben, setzen ihre Mühen daran, in Reichtum zu schwimmen; andere erkennen als das Gute dasjenige, was der Verehrung am würdigsten ist; so streben sie danach, Auszeichnungen zu erlangen und bei ihren Mitbürgern in, höchster Achtung zu stehen.
Manche setzen das höchste Gut in die höchste Macht; sie versuchen, selbst zu herrschen oder sich an die Herrscher zu drängen. Diejenigen wiederum, denen Berühmtheit als das Beste erscheint, eifern danach, mit den Künsten des Krieges oder des Friedens die Herrlichkeit ihres Namens auszubreiten. Weitaus die meisten messen die Frucht des Guten ab nach Freude und Heiterkeit; sie halten es für das Allerglücklichste, in Vergnügungen zu zerfließen. Manche vertauschen auch die einzelnen Zwecke und Ursachen miteinander: sie ersehnen dann Reichtum um der Macht und Lust willen, oder Macht um des Geldes oder der Verbreitung ihres Namens willen. Um diese und ähnliche Absichten kreisen alle menschlichen Handlungen und Wünsche, wie denn Adel und Volksgunst eine Art Glanz zu verleihen scheinen, wie man Weib und Kind um der Lieblichkeit willen sucht; Freundschaft aber, die lauterste Art, ist nicht zum Glück, sondern zur Tugend zu zählen. Alles übrige aber eignet man sich um der Macht oder um des Ergötzens willen an. Daß auch die Güter des Körpers zu den oben genannten zu rechnen sind, liegt auf der Hand. Denn Stärke und Größe scheinen Tüchtigkeit zu verleihen, Schönheit und Behendigkeit Ansehen, Gesundheit Vergnügen zu gewähren; es ist klar, daß in allem diesem nur die Glückseligkeit gewünscht wird; denn was jemand vor allem andern erstrebt, das hält er für das höchste Gut. Aber wir haben als höchstes Gut die Glückseligkeit bestimmt, also hält jeder den Zustand für glückselig, den er vor andern erstrebt.


Gute Nacht!

Montag, 14. Juli 2014

Feier

von Pablo Neruda
Ziehen wir also die Schuhe an,
das gestreifte Hemd, den blauen Anzug,
wenn auch die Ellbogen schon glänzen,
ziehen wir ein Feuerwerk ab mit bengalischem Licht
und in Strömen lasst ziehen Wein und Bier
von der Kehle zur Sohle hinunter!

Denn gebührend soll sie gefeiert sein die gewaltige Zahl,
die uns so viel Zeit gekostet hat,
so viele Jahre und Tage zu Bündeln gepackt,
so viel Stunden, so viel Millionen von Minuten,
feiern wir also den großen Eröffnungstag!

Lasst die Pfropfen knallen,
dass wir uns eingießen all die aufgesparten Freuden.
Schnappen wir uns eine hergelaufene, lockere Braut,
die einen festlichen Biss sich gefallen lässt.

Heut ist es soweit, heut ist es da.
Wir betreten den Teppich des unbekannten Jahrtausends.
Das Herz, der Mandelkern der steigenden Epoche,
die ausgereifte Traube wird uns zu eigen sein.
Und es wird die Wahrheit sein,
die langerwartete Wahrheit!

Indessen wächst ein Blatt im Laub der beginnenden Zeit hinzu,
Zweig um Zweig verkreuzt sich das Gezweig,
Blatt um Blatt werden die Tage steigen
und Frucht um Frucht wird der Friede kommen.
Der Baum des Glückes bildet sich aus der blutroten trotzigen Wurzel,
die weiterlebt, weil sie das Wasser sucht,
die Wahrheit, das Leben!

Gute Nacht!

Samstag, 5. Juli 2014

Der Philosoph oder Über das Wesen der Dinge

 von Victor Auburtin

Der Philosoph saß in seinem Studierzimmer und wollte über das Wesen der Dinge nachsinnen. Aber sein weißes Kätzchen sprang auf den Tisch, schmiegte sich an den Philosophen und störte ihn in jeder Weise. Da warf er dem Kätzchen einen Champagnerpfropfen auf die Erde hin; das Kätzchen stürzte sich darauf und begann, den Champagnerpfropfen vor sich her zu jagen.
Und ungestört konnte der Philosoph nun folgendes denken: Es ist etwas. Aber was ist? Und was heißt sein? Was ist, kann nicht nichtsein, und alle Dinge sind, die nicht nichtsind.
Die Katze trudelte den Champagnerpfropfen von dem Arbeitstisch zum Kamin; ihre Augen leuchteten vor Eifer, denn der Verdacht war ihr gekommen, dass dies kein Champagnerpfropfen sei, sondern eine Maus, die sich nur so stelle, als sei sie ein Champagnerpfropfen.
Offenbar, so folgerte der Philosoph weiter, offenbar gibt es Dinge, die sind, und Dinge, die nicht sind. Die Welt teilt sich also in zwei große Kategorien: Kategorie a: die Dinge, die sind; Kategorie b: die Dinge, die nicht sind. Aber was heißt nun nicht sein? Nicht sein heißt nicht vorhanden sein. Wenn ich also sage, in der Kategorie b sind die Dinge, die nicht sind, begehe ich einen greifbaren Widerspruch. Denn was nicht ist, kann nirgendwo sein, also auch in der Kategorie b nicht. So bleibt nur die Kategorie a übrig, und alle Dinge sind. Es ist also etwas, aber was ist und was heißt sein?

Während der Philosoph so dachte, hatte die Katze den Champagnerpfropfen rund um das Zimmer gejagt und trieb ihn nun zu dem Arbeitstisch zurück. Dort ließ sie ihn liegen, denn sie war jetzt überzeugt, dass es doch keine Maus, sondern einfach ein Pfropfen sei.
Der Philosoph blickte sie an und lächelte.
»Törichtes Tier«, sprach er, »bist du nun weiter gekommen, dass du den Pfropfen einmal im Kreise herum gejagt hast?«


Gute Nacht!

Mittwoch, 2. Juli 2014

Jeder, der seinen Weg geht...

von Hermann Hesse
 

Jeder, der seinen Weg geht, ist ein Held. Jeder, der das wirklich tut und lebt, wozu er fähig ist, ist ein Held — und selbst wenn er dabei das Dumme oder Rückständige tut, ist er viel mehr als tausend andere, die von ihren schönen Idealen bloß reden, ohne sich ihnen zu opfern.
Dies gehört zu den Verwicklungen beim Betrachten der Welt: dass die schönen Gedanken, Ideale und Meinungen gar nicht immer auch in Händen der Edelsten und Besten sind.
Es kann ein Mensch für veraltete, überholte Götter aufs edelste kämpfen und sterben, er macht dann vielleicht den Eindruck eines Don Quichote, aber Don Quichote ist ja durch und durch Held, ist durch und durch adlig.
Umgekehrt kann ein Mensch sehr klug, belesen, redegeschickt sein, und schöne Bücher schreiben oder Reden halten, mit den bestechendsten Gedanken und Ideen, und kann doch bloß ein Schwätzer sein, der bei der ersten ernsten Forderung nach Opfer und Verwirklichung davonläuft.
Der »Held« ist nicht der gehorsame, brave Bürger und Pflichterfüller. Heldisch kann nur der Einzelne sein, der seinen »eigenen Sinn«, seinen edlen, natürlichen Eigensinn zu seinem Schicksal gemacht hat. »Schicksal und Gemüt sind Namen eines Begriffes«, hat Novalis gesagt, einer der tiefsten und unbekanntesten deutschen Geister.
Aber nur der Held ist es, der den Mut zu seinem Schicksal findet.
Würde die Mehrzahl der Menschen diesen Mut und Eigensinn haben, so sähe die Erde anders aus.


Gute Nacht!

Dienstag, 1. Juli 2014

Stoßseufzer

von Heinrich Heine

Unbequemer neuer Glauben!
Wenn sie uns den Herrgott rauben,
Hat das Fluchen auch ein End -
Himmel – Herrgott - Sakrament!

Wir entbehren leicht das Beten,
Doch das Fluchen ist von nöten,
Wenn man gegen Feinde rennt -
Himmel – Herrgott - Sakrament!

Nicht zum Lieben, nein zum Hassen,
Sollt ihr uns den Herrgott lassen,
Weil man sonst nicht fluchen könnt -
Himmel – Herrgott - Sakrament!
 Gute Nacht!

Donnerstag, 19. Juni 2014

Fußball

von Joachim Ringelnatz

Der Fußballwahn ist eine Krank-
Heit, aber selten, Gott sei Dank.
Ich kenne wen, der litt akut
An Fußballwahn und Fußballwut.
Sowie er einen Gegenstand
In Kugelform und ähnlich fand,
So trat er zu und stieß mit Kraft
Ihn in die bunte Nachbarschaft.
Ob es ein Schwalbennest, ein Tiegel,
Ein Käse, Globus oder Igel,
Ein Krug, ein Schmuckwerk am Altar,
Ein Kegelball, ein Kissen war,
Und wem der Gegenstand gehörte,
Das war etwas, was ihn nicht störte.
Bald trieb er eine Schweineblase,
Bald steife Hüte durch die Straße.
Dann wieder mit geübtem Schwung
Stieß er den Fuß in Pferdedung.
Mit Schwamm und Seife trieb er Sport.
Die Lampenkuppel brach sofort.
Das Nachtgeschirr flog zielbewußt
Der Tante Berta an die Brust.
Kein Abwehrmittel wollte nützen,
Nicht Stacheldraht in Stiefelspitzen,
Noch Puffer außen angebracht.
Er siegte immer, o zu 8.
Und übte weiter frisch, fromm, frei
Mit Totenkopf und Straußenei.
Erschreckt durch seine wilden Stöße,
Gab man ihm nie Kartoffelklöße.
Selbst vor dem Podex und den Brüsten
Der Frau ergriff ihn ein Gelüsten,
Was er jedoch als Mann von Stand
Aus Höflichkeit meist überwand.
Dagegen gab ein Schwartenmagen
Dem Fleischer Anlaß zum Verklagen.
Was beim Gemüsemarkt geschah,
Kommt einer Schlacht bei Leipzig nah.
Da schwirrten Äpfel, Apfelsinen
Durch Publikum wie wilde Bienen.
Da sah man Blutorangen, Zwetschen
An blassen Wangen sich zerquetschen.
Das Eigelb überzog die Leiber,
Ein Fischkorb platzte zwischen Weiber.
Kartoffeln spritzten und Citronen.
Man duckte sich vor den Melonen.
Dem Krautkopf folgten Kürbisschüsse.
Dann donnerten die Kokosnüsse.
Genug! Als alles dies getan,
Griff unser Held zum Größenwahn.
Schon schäkernd mit der U-Bootsmine –
Besann er sich auf die Lawine.
Doch als pompöser Fußballstößer
Fand er die Erde noch viel größer.
Er rang mit mancherlei Problemen.
Zunächst: Wie soll man Anlauf nehmen?
Dann schiffte er von dem Balkon
Sich ein in einem Luftballon.
Und blieb von da an in der Luft,
Verschollen. Hat sich selbst verpufft. –
Ich warne euch, ihr Brüder Jahns,
Vor dem Gebrauch des Fußballwahns!

Gute Nacht!

Freitag, 30. Mai 2014

Memento

von Mascha Kaléko

Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?


Allein im Nebel tast ich todentlang
und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.


Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr -
und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur;
doch mit dem Tod der anderen muss man leben.

Gute Nacht!

Sonntag, 25. Mai 2014

Worauf man in Europa stolz ist

von Kurt Tucholsky
 
Dieser Erdteil ist stolz auf sich, und er kann auch stolz auf sich sein. Man ist stolz in Europa:
Deutscher zu sein.
Franzose zu sein.
Engländer zu sein.
Kein Deutscher zu sein.
Kein Franzose zu sein.
Kein Engländer zu sein.
An der Spitze der 3. Kompanie zu stehn.
Eine deutsche Mutter zu sein. Am deutschen Rhein zu stehn. Und überhaupt.
Ein Autogramm von Otto Gebühr zu besitzen.
Eine Fahne zu haben. Ein Kriegsschiff zu sein. (»Das stolze Kriegsschiff . . . «)
Im Kriege Proviantamtsverwalterstellvertreter gewesen zu sein.
Bürgermeister von Eistadt a. d. Dotter zu sein.
In der französischen Akademie zu sitzen. (Schwer vorstellbar.) In der preußischen Akademie für Dichtkunst zu sitzen. (Unvorstellbar.)
Als deutscher Sozialdemokrat Schlimmeres verhütet zu haben.
Aus Bern zu stammen. Aus Basel zu stammen. Aus Zürich zu stammen. (Und so für alle Kantone der Schweiz.)
Gegen Big Tilden verloren zu haben.
Deutscher zu sein. Das hatten wir schon. Ein jüdischer Mann sagte einmal:
»Ich bin stolz darauf, Jude zu sein. Wenn ich nicht stolz bin, bin ich auch Jude – da bin ich schon lieber gleich stolz!«

Gute Nacht!

Montag, 19. Mai 2014

Ehemals und Jetzt

von Friedrich Hölderlin

In jüngern Tagen war ich des Morgens froh,
Des Abends weint’ ich: jetzt, da ich älter bin,
Beginn’ ich zweifelnd meinen Tag, doch
Heilig und heiter ist mir sein Ende.  
Gute Nacht!

Mittwoch, 14. Mai 2014

Selbstbefreiung durch das Wissen

von Karl Popper
Dass es so etwas wie eine absolute Wahrheit gibt, und dass wir dieser Wahrheit näher kommen können, ist die Grundüberzeugung der Aufklärungsphilosophie, im Gegensatz zum historischen Relativismus der Romantik.
Aber der Wahrheit näher zu kommen ist nicht leicht. Es gibt nur einen Weg, den Weg durch unsere Irrtümer. Nur aus unseren Irrtümern können wir lernen; und nur der wird lernen, der bereit ist, die Irrtümer anderer als Schritte zur Wahrheit zu schätzen; und der nach seinen eigenen Irrtümern sucht, um sich von ihnen zu befreien.
Die Idee der Selbstbefreiung durch das Wissen ist also nicht etwa dasselbe wie die Idee der Naturbeherrschung. Es ist vielmehr die Idee einer geistigen Selbstbefreiung vom Irrtum, vom Irrglauben. Es ist die Idee einer geistigen Selbstbefreiung durch die Kritik an den eigenen Ideen.
Wir sehen hier, dass die Aufklärung den Fanatismus und den fanatischen Glauben nicht aus bloßen Nützlichkeitsgründen verurteilt; auch nicht weil sie hofft, dass wir mit einer nüchterneren Einstellung in der Politik und im praktischen Leben besser weiterkommen. Die Verurteilung des fanatischen Glaubens ist vielmehr eine Folge der Idee einer Wahrheitssuche durch die Kritik unserer Irrtümer. Und diese Selbstkritik und Selbstbefreiung ist nur in einer pluralistischen Atmosphäre möglich, das heißt in einer offenen Gesellschaft, die unsere Irrtümer und viele andere Irrtümer toleriert.
So enthielt die Idee der Selbstbefreiung durch das Wissen, die die Aufklärung vertrat, von Anfang an auch die Idee, dass wir lernen müssen, uns von unseren eigenen Ideen zu distanzieren, statt uns mit unseren Ideen zu identifizieren. Die Erkenntnis von der geistigen Macht der Ideen führt zu der Aufgabe, uns von der geistigen Übermacht falscher Ideen zu befreien. Im Interesse der Wahrheitssuche und der Befreiung vom Irrtum müssen wir uns dazu erziehen, unsere eigenen Ideen ebenso kritisch betrachten zu können wie die Ideen, gegen die wir kämpfen.


Gute Nacht!

Mittwoch, 7. Mai 2014

Über die Dummheit

von André Glucksmann

Wie Sand am Meer gibt es sie, die Beispiele für Dummheit, täglich nehmen sie zu und bestärken uns in der Illusion, wir seien unbeteiligte Beobachter. Aber es gibt keine Dummheit, die nicht auf irgendeine Weise auch die unsere wäre, und so wird der Wunsch, sie von Grund auf zu verstehen, von der Sorge hintertrieben, sich vor ihr zu schützen. Wir versuchen Distanz zu halten, tun es aber nur jenem gleich, der vom Regen in die Traufe geriet. Auf diesem Terrain wären die ausgepichtesten Kenner der Materie Ignoranten geblieben, hätten sie sich nicht mit Leib und Seele in dubiose Kämpfe und Erniedrigungen gestürzt, aus denen sie um Haaresbreite nicht mehr herausgekommen wären. Es ist ein Akt der Vorsicht, die Dummheit dem Gegenüber anzulasten, und so hält der Franzose den Deutschen für dumm, der Linke den Rechten, und umgekehrt. Doch nur die kennen die Dummheit, die sich in Gefahr begeben, die mit ihr auf du und du sind, sich ihrem Geschwätz aussetzen, ihre Fadheit auskosten, die sich von ihr behexen lassen, die Geschmack an ihr finden.
So haben die härtesten Kritiker des Totalitarismus - Solschenizyn, Orwell, Suwarin - ihre Lichter am Feuer eines Stalinismus entzündet, in dem sie selbst einmal gebrannt haben. Wer nie betrunken war, kann das Drama der Trunksucht schwerlich begreifen. Solange ich glaube, dass Dummheit etwas Zufälliges ist, etwas, das nur den anderen zustößt, und mir nur dann, wenn ich unter Fremdeinfluss stehe, werde ich nie begreifen, wie subtil dieses Phänomen ist.
Wahrlich harte Tatsachen und Erfahrungen, aber sie aufzulisten bringt niemandem etwas ein, außer meinem eigenen Selbstbewußtsein. »Wie töricht er ist! Bin ich dumm!« Hinter diesen Feststellungen verbirgt sich ein vertrackter und versteckter Mechanismus.
Dummheit — das sind wir. Und umgekehrt. Aus diesem Kreis gibt es kein Entrinnen. Er ist teuflisch, aber er gab den Philosophen zu denken. Historische Bedeutung erhielt diese Feststellung, als Sokrates, Nummer 1 unter den Philosophen, auf den Spruch des Orakels: »Erkenne dich selbst«, die richtige Antwort fand. Mit seinem »Ich weiß, daß ich nichts weiß« fasste er eine neue Art der Selbstreflexion in Worte, undogmatisch und ohne den Ehrgeiz, mehr zu wissen als die anderen oder eine Krankheit heilen zu können, die ihm selbst gänzlich unbekannt war. »Erkenne dich selbst« fordert behutsam dazu auf: »Wisse, daß du nichts weißt«, und ergänzt: »Erkenne die Dummheit in dir«.
Dass wir versucht haben, ein Jahrhundert lang ohne Philosophie auszukommen, das heißt, ohne die Dummheit eines Blickes zu würdigen, hat uns jedenfalls nicht zu höherer Weisheit verholfen.
Schlichte Dummheit scheint es nicht zu geben, zumindest ist sie schwer zu finden. Die aufgesetzte Schlichtheit gleicht einer Maske unter vielen, in einer Pantomime, deren Mitwirkende allesamt verkleidet sind.
 
Gute Nacht!

Montag, 28. April 2014

An sich selbst

von Andreas Gryphius 
Mir grauet vor mir selbst; mir zittern alle Glieder,
Wenn ich die Lipp und Nas und beider Augen Kluft,
Die blind vom Wachen sind, des Atems schwere Luft
Betracht und die nun schon erstorbnen Augen-Lider.
 
Die Zunge, schwarz vom Brand, fällt mit den Worten nieder
Und lallt ich weiß nicht was; die müde Seele ruft
Dem großen Tröster zu; das Fleisch ruft nach der Gruft;
Die Ärzte lassen mich; die Schmerzen kommen wieder.
 
Mein Körper ist nicht mehr als Adern, Fell und Bein.
Das Sitzen ist mein Tod, das Liegen meine Pein.
Die Schenkel haben selbst nun Träger wohl vonnöten.
 
Was ist der hohe Ruhm, und Jugend, Ehr und Kunst?
Wenn diese Stunde kommt, wird alles Rauch und Dunst,
Und eine Not muß uns mit allem Vorsatz töten.
Gute Nacht!

Freitag, 25. April 2014

Noch schnell zu Ende bringen

 
von Kurt Tucholsky

Der Mensch will alles zu Ende machen. Wird er von einer kleinen Arbeit abgerufen, die grade vor ihrem Ende steht, so kann man hundert gegen eins wetten, dass jeder von uns sagt: »Einen Augenblick mal – ich will das bloß noch ... «, die Arbeit ist vielleicht gar nicht wichtig, aber man kann sie doch so nicht liegenlassen, denn dann schreit sie. Und immer ist diese kleine Zwangsvorstellung stärker als alle Vernunft.
Der Mensch will auch alles zu Ende lesen – wenn der Schriftsteller etwas taugt. Was ein richtiges Buch ist, das muß einen ganzen Haushalt durcheinanderbringen: die Familie prügelt sich, wer es weiterlesen darf, die Temperatur ist beängstigend, und Mittag wird überhaupt nicht mehr gekocht. Und nichts ist schlimmer, als ein Buch anzufangen und es dann nicht mehr zu Ende lesen zu können. Das ist ganz schrecklich. Haben wir nicht schon alle einmal einen Roman auf der Reise verloren, liegengelassen, ›verborgt‹ (lebe wohl! lebe wohl!) und uns dann krumm geärgert, dass wir nicht wissen, wie es weitergeht? Da gibt es ja dann das probate Mittel, sich das Buch allein zu Ende zu dichten, aber das wahre Glück ist das auch nicht, denn dabei muß man sich anstrengen, während man bei der Lektüre die ganze Geschichte ohne eigene Mühe vor sich ausgebreitet sieht – und dann weiß man doch auch nie, ob man richtig gedichtet hat, nein, das führt zu nichts. Der Dichter muß dichten, und der Leser will lesen. Umgekehrt ist es naturwidrig.
Im Theater ist es schon anders. Wie dritte Akte aussehen, weiß ich nicht so ganz genau – ich gehe meist schon nach dem zweiten fort. Da reden sie so lange und dann hören sie gar nicht auf, und was wird denn schon dabei herauskommen! Wenn es eine Operette ist, dann wird zum Schluß die Musik noch lauter werden, und alle kommen an die Rampe getobt und winken ins Publikum, und ich bekomme meinen Mantel viel zu spät, weil vor mir der große, dicke Herr steht, der immer sagt: »Ich warte aber schon so lange ... !« Und wenn es ein ernstes Stück ist, dann sehn sie sich zum Schluß in die Augen, zart verdämmert die Abendröte im Stübchen, und Olga sagt zu Friedrich: »Auf immer.« Und wieder kriege ich meinen Mantel zu spät. Nein, dritte Akte sind nicht schön.
Es gibt ja Leute, die bekommen niemals den Anfang der Stücke zu sehn, weil sie mit ihren Frauen ins Theater gehen müssen, und für solche Paare sind dann die dritten Akte da.
Es gibt übrigens eine Sorte Menschen, die schmerzt es, wenn man das Theater vorzeitig verläßt – das sind die Logenschließer. Vor dem Krieg in Berlin, bei ›Puppchen, du bist mein Augenstern‹, und nach dem Krieg in London, bei Wallace, dem bekannten Anhänger der Prügelstrafe, fielen mir beidemal bejahrte Logenschließer in den Paletot: »Sie wollen schon gehen? Aber das schönste kommt ja erst ... !« Aber roh und herzlos stieß ich die bekümmerten Greise beiseite und entfloh, ins Freie, wo die fröhlichen Omnibusse rollten und wo ich ein viel schöneres Stück kostenlos zu sehen bekam: ›Abend in der Stadt‹, in vielen Akten.
 
Gute Nacht!

Montag, 14. April 2014

Uninteressante Menschen gibt es nicht

von Jewgeni Jewtuschenko 



Nein, uninteressante Menschen gibt es nicht
Jeder hat seine Geschichte, sein Gesicht.
Das ihm allein gehört. Ja, jeder ein Planet:
denn da ist keiner, der ihm gleicht. Versteht:
Auch wenn da einer unauffällig lebt,
Und nichts als Unauffälligkeit erstrebt,
So ist er unter allen andern dann
Durch seine Unauffälligkeit grad interessant. 
Denn wenn ein Mensch stirbt, stirbt mit ihm
Sein erster Schnee aus grauer Früh,
Sein erster Kuss, sein erster Zorn:
Es ist als wär er nie geborn'. 
Das ist Gesetz, ist Lebenslauf:
Der Mensch stirbt nicht, die Welt hört auf.
Und jedes Mal, denk ich daran,
Vor Qual und Schmerzen wein ich dann.

 Gute Nacht!
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