Freitag, 25. Dezember 2015

Sein Tod ist noch nicht zu Ende

von Rabindranath Tagore
Von seinem ewigen Thron kommt Christus auf die Erde hernieder, wo er vor langer Zeit im bitteren Kelch des Todes sein unsterbliches Leben für die verströmte, die seinem Rufe folgten und für die, welche fernblieben. Er blickt um sich und sieht die Waffen des Bösen, die schon seine Zeit verwundeten. Die anmaßlichen Lanzen und Speere, die spitzen hinterlistigen Dolche, die Krummsäbel in hüllender Scheide, krumm und grausam, zischen und sprühen Funken, während sie an Riesenrädern geschärft werden.
Aber die furchtbarsten von allen in den Händen der Schlächter sind die Waffen, auf denen sein Name eingegraben ist. Die nach den heiligen Texten seiner eigenen Worte im Feuer des Hasses geschmiedet und mit heuchlerischer Gier gehämmert sind.
Er presst seine Hand auf sein Herz, er fühlt, dass der jahrtausendelange Augenblick seines Todes noch nicht zu Ende ist, dass unzählige neue Nägel, die geschmiedet sind von denen, die meisterlich ihr Handwerk verstehen, ihn am ganzen Körper durchbohren. Sie hatten ihn einst verwundet im Schatten ihrer Tempelstele. Sie werden immer wieder in Scharen geboren. Vor ihren geweihten Altären stehend rufen sie: "Schlagt zu!".
Und der Menschensohn schreit in seiner Qual: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?".

Gute Nacht!

Donnerstag, 17. Dezember 2015

Die blaue Blume

von Joseph von Eichendorff
Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.

Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au'n,
Ob nirgends in der Runde
Die blaue Blume zu schaun.

Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blum geschaut.

Gute Nacht!

Sonntag, 13. Dezember 2015

Schaden und Verdienst

von Ludwig Büchner
 

Einerseits erzeugen Armut, Besitzlosigkeit und Mangel an Erziehung und Bildung die meisten Verbrechen gegen Staat und Gesellschaft, während andrerseits übertriebener Reichtum Müssiggang und allerhand Laster im Gefolge hat; wodurch Staat und Gemeinde genötigt werden, eine kostspielige Justiz mit allen ihren hässlichen Anhängseln und eine ebenso kostspielige Armenpflege zu unterhalten. In moralischer Beziehung erzeugt der allgemeine Konkurrenzkampf hässliche Leidenschaften, wie Neid, Hass, Mitleidlosigkeit, Geldgier, Hartherzigkeit, gegenseitige Verfolgungssucht statt gegenseitiger Liebe und Unterstützung. Jeder denkt und handelt nur für sich und sein eignes Interesse, weil er weiss, dass im Notfall kein anderer für ihn eintreten oder dass er an der Gesamtheit keine Stütze finden würde. In einer richtig organisierten Gesellschaft müsste der Gewinn des Einzelnen zugleich der Gewinn der Gesamtheit sein und umgekehrt, und das Motto derselben müsste heissen: »Einer für alle und alle für einen«, während jetzt in der Regel das Gegenteil stattfindet. Unsre grössten Gewinne erzielen wir durch eine der traurigsten Ursachen oder durch den Tod derjenigen, welche uns im Leben die liebsten waren, indem wir sie beerben. Der Baumeister und alle bei Bauten beschäftigten Arbeiter müssen sich freuen, wenn Häuser einstürzen oder abbrennen; die Grubenarbeiter desgleichen, wenn hunderte ihrer unglücklichen Kameraden im Dunste der Bergwerke ersticken; der Arzt muss sich freuen, wenn es viele Krankheiten gibt; der Advokat nährt sich von Prozessen, welche seinen Mitbürgern Ruhe und Vermögen rauben; der Richter muss Gefallen haben an grossen Kriminalprozessen; die Offiziere müssen sich freuen, wenn das größte Übel, welches die Menschheit betreffen kann, der Krieg ausbricht, weil sie davon Beförderung erwarten; der Familienvater muss sich freuen, wenn seine Nachkommenschaft möglichst klein bleibt, obgleich der eigentliche Zweck der Familie dabei verloren geht; der Wirt oder der Verkäufer geistiger Getränke muss sich freuen, wenn die Trunksucht, und die verlorenen Töchter des Volkes müssen sich freuen, wenn die Unzucht zunimmt; alle Handwerker und Produzenten müssen sich freuen, wenn die von ihnen erzeugten Gegenstände übermässig rasch verbraucht werden; ein Gewitter oder Hagelschlag wird trotz des durch solche Naturereignisse angerichteten Schadens von dem Glaser oder Versicherungsagenten gern gesehen; wie denn überhaupt beinahe alles, was dem einen Schaden, dem ändern Verdienst bringt.

Gute Nacht!
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