von Michel de Montaigne
Wir
nennen die Grämlichkeit unserer Launen und den Ekel an den
gegenwärtigen Dingen Weisheit; im Grunde aber entsagen wir nicht so wohl
den Lastern, als wechseln vielmehr damit, und nach meiner Meinung immer
zu schlimmerem Übergange.
Außer einer dummen ärmlichen
Ruhmredigkeit, einer langweiligen Geschwätzigkeit, einer ungeselligen
unduldsamen Grämlichkeit, einer albernen Abergläubigkeit und einem
lächerlichen Streben nach Reichtum, wenn wir ihn nicht mehr nutzen
können, finde ich auch noch im Alter mehr Neid, Ungerechtigkeit und
Schadenfreude.
Das Alter zieht noch mehr Runzeln auf unserem Verstand
als auf unsere Stirne, und findet man wenige Seelen, und sehr selten,
welchen man bei hohem Alter nicht das Sauer- und Kantigwerden anmerkte.
Der Mensch geht mit gleichem Schritte auf sein Wachstum zu wie auf sein
Abnehmen.
Wenn man die Weisheit des Sokrates beleuchtet und
verschiedene Umstände bei seiner Verurteilung in Betracht zieht, so
möchte ich fast glauben, dass letzter ihm gewissermaßen willkommen war
und er sich mit Fleiß nicht nachdrücklicher verteidigte: er hatte schon
beinahe an 70 Jahren die Last eines glanzvollen Lebens auf seinen
Schultern getragen und die blendenden Strahlen seines gewöhnlichen
Lichtes unterhalten.
Was für Verwandlungen sehe ich hierin bei vielen
von meinen Bekannten täglich vorfallen? Es ist eine schwere Krankheit,
die uns ganz natürlicher Weise und ganz unbemerkt beschleicht. Es gehört
ein großer Vorrat von Studium dazu, und eine außerordentliche Vorsicht,
um den Unvollkommenheiten auszuweichen, womit uns das Alter heimsucht,
oder wenigstens ihren Fortschritt zu hemmen.
Gute Nacht!