Samstag, 31. Dezember 2016

Mitternacht naht

von Fernando Pessoa
Mitternacht naht, und die Stille hebt an,
Überall
In den verschiednen Stockwerken des Lebens …
Im dritten Stockwerk verstummt das Klavier …
Im zweiten Stock ist kein Schritt mehr zu hören …
Im Erdgeschoss schweigt das Radio …

Alles geht schlafen …

Ich bleibe allein mit dem ganzen Weltall.
Ich will nicht ans Fenster gehen:
Wenn ich hinausschaue, soviele Sterne!
Welch großes Schweigen dort oben!
Lieber lausche ich einsam,
mit dem Wunsche, nicht einsam zu sein,
ruhelos auf die Straßengeräusche …
Ein Auto - zu schnell! -
Doppelschritte, gesprächsvertieft …

Alles geht schlafen …

Ich allein wache und lausche schläfrig
und hoffe
auf irgend etwas, bevor der Schlaf kommt …

Auf irgend etwas …
Gute Nacht!

Freitag, 23. Dezember 2016

Was ist die Zeit?

von Gottfried Honnefelder

"Was ist die Zeit? Wenn mich jemand darüber fragte, weiß ich es. Wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht." sagt Augustinus.
Der Mensch lebt in der Zeit, und er weiß dies; darum kann er nach ihr fragen, und vermag doch keine rechte Antwort auf seine Frage zu finden. Er glaubt sich Herr seiner Zeit und ist ihr doch unterworfen, steht ihr gegenüber und ist zugleich in sie verstrickt. Er lebt nie anders als im Vorgriff auf die Zukunft, neue Welten entwerfend, und er kann dies nur kraft eines Rückgriffs auf die Vergangenheit - und sei es in der Weise des Protests. Die Zeit ist der Raum seiner Freiheit, die Geschichte ihr Resultat, deshalb lebt er nie anders als in der Geschichte. Aus ihr kommt er, sie gibt ihm Herkunft, Name, Rolle, in ihr bewegt er sich, ob er sie nun verneint oder bejaht, sie führt er fort, indem er sie bewahrt oder verwirft.
Sein Verhältnis zur Zeit gewinnt der Mensch aber erst durch Bilder und Sprache. Sie erlauben ihm, Vergangenes festzuhalten, Erfahrungen nicht nur zu machen, sondern auch weiterzugeben, Traditionen zu bilden, Geschichte und Geschichten zu erzählen. Sie befähigen ihn, das Gegenwärtige zu deuten und ermöglicht ihm zugleich, fiktive Welten zu erschaffen, Utopien zu entwerfen und sich selbst in anderen Entwürfen zu sehen.
Dies alles vermag Sprache, weil sie in der Folge ihrer Zeichen selbstgestaltete Zeit ist.


Gute Nacht!

Montag, 19. Dezember 2016

Nutzholz

von Liselotte Rauner
Wir schlagen die Wälder
Tag für Tag
und treffen uns selber
mit jedem Schlag
Was aufrecht grüne Kronen trägt
gefällt entlaubt geschält zersägt
wird Nutzholz - wird Papier
und darauf schreiben wir
Gedichte über Bäume
damit die nach uns kommen erfahren
wie wunderbar die Wälder waren

Gute Nacht!

Montag, 12. Dezember 2016

Der Aufbruch

von Franz Kafka

Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitest du, Herr?" „Ich weiß es nicht", sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen." „Du kennst also dein Ziel?" fragte er. „Ja", antwortete ich, „ich sagte es doch: ,Weg-von-hier`, das ist mein Ziel." „Du hast keinen Eßvorrat mit", sagte er. „Ich brauche keinen", sagte ich, „die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.

Gute Nacht!

Samstag, 3. Dezember 2016

Nacht um Nacht

von Max Dauthendey

Der Mond zieht hinterm Schiff einher,
Er wird des Abends Herr im Meer,
Begleitet Nacht um Nacht die Fahrt.

Ich hab’ ihm forschend nachgestarrt,
Ich fragte ihn: „Wohin so spät?“
- Auch er weiß nicht, wohin es geht.

Gute Nacht!
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