Montag, 23. Dezember 2013

Über das Glück

von Lew Tolstoi

Die Situation des Menschen, der vorwärtsschreitet, einem Glück entgegen, das sich immer wieder von ihm entfernt, lässt sich mit dem vergleichen, was man, wie mir erzählt wurde, mit störrischen Pferden macht. Vorn an der Deichsel wird ein Stück Brot mit Salz so befestigt, dass das Pferd es wittert, aber nicht erreichen kann. Und nun streckt und bewegt es sich, um an das Brot heranzukommen, doch gerade diese Bewegung schiebt das Brot weiter fort, und so bis in alle Ewigkeit. Ebenso ist es bei den Menschen.
Das Glück lässt sich nie erreichen, denn beim Erreichen einer Glücksstufe wird sogleich eine neue sichtbar. Glück aber ist die unendliche Vollkommenheit, wie Gott.
Was folgt daraus?
Nur das eine: Der Mensch kann und muss wissen; das Glück seines Lebens liegt nicht im Erreichen eines vor ihm stehenden Zieles, sondern in der Bewegung um des höchsten, ihm unzugänglichen Zieles willen.

Gute Nacht!

Donnerstag, 19. Dezember 2013

Ist die Geschichte gerecht?

von Stefan Zweig

»Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird genommen, auch was er hatte.«
Dieses Wort, obzwar 2000 Jahre alt, gilt unvermindert auch in der Gegenwart. Wo Erfolg, da strömt Erfolg zu, wo Reichtum, da neues, frisches, quellendes Gold und überdies noch die Anbetung vor dem Golde, der freiwillige Enthusiasmus der Mitläufer und matten Seelen, denn Macht ist die geheimnisvolle Materie der Welt. Magnetisch zieht sie den einzelnen, suggestiv die Masse an, die selten fragt, wo diese Macht gewonnen und wem sie weg genommen ist, sondern nur ihr Dasein als eine Steigerung ihrer eigenen Existenz blind hingegen empfindet. Immer war es die gefährlichste Eigenschaft der Völker, sich selbst freiwillig unter das Joch zu stellen, sich begeistert in die Knechtschaft zu stürzen. Und am liebsten unter eine des Erfolges.
Jeder Gegenwart gilt dies grausame Wort, daß dem, der da hat, noch gegeben wird. Aber sonderbarer als dies: auch die Geschichte, auch sie, die leidenschaftslos sein sollte, klarsinnig und gerecht, auch sie hat die Neigung, nachträglich dem recht zu geben, der im wirklichen Leben äußerlich recht behalten hat; auch sie neigt sich, wie die meisten Menschen, zur Seite des Erfolges, auch sie vergrößert noch nachträglich die Großen, die Sieger, und verkleinert oder verschweigt die Besiegten. Auf die Berühmten häuft sie zu ihrem tatsächlichen Ruhm noch die Legende, und jeder Große erscheint in der Optik der Geschichte fast immer noch größer, als er wirklich gewesen — den unzähligen Kleinen wird genommen, was dem Großen zugetan wird.
Auf die Monarchen wird der Fleiß und der Heroismus ihrer Untertanen gehäuft, immer nimmt die Geschichte aus der Notwendigkeit der Verkürzung auf wenige Namen und Gestalten Unzähligen ihre Tat und schiebt sie dem Stärkeren zu, denn: »Wer nicht hat, dem wird genommen, was er hatte.« Darum tut es not, Geschichte nicht gläubig zu lesen, sondern neugierig mißtrauisch, denn sie dient, die scheinbar unbestechliche, doch der tiefen Neigung der Menschheit zur Legende, zum Mythos — sie heroisiert bewußt oder unbewußt einige wenige Helden zur Vollkommenheit und läßt die Helden des Alltags, die heroischen Naturen des zweiten und dritten Ranges ins Dunkel fallen. Legende aber ist immer, gerade durch das Verführerische, durch den Abglanz von Vollkommenheit, der gefährlichste Feind der Wahrheit.


Gute Nacht!

Montag, 16. Dezember 2013

Exegi momentum

von Alexander Puschkin
 
Ein Denkmal baut ich mir, wie Hände keins erheben,
Des Volkes Pfad zu ihm wächst niemals zu; es wagt
Unbänd'gen Hauptes höher himmelan zu streben,
Als Alexanders Säule ragt.

 
Nein, ganz vergeh ich nicht - im heil`gen Klang der Saiten
Lebt unverweslich, wenn der Leib zerfiel, mein Geist -
Lebendig wird ich sei, solang auf Erdenbreiten
Man einen einzigen Dichter preist.


So weit sich Russland dehnt, kennt jeder meine Muse,
Es nennt mich jedes Volk, das unser Reich umspannt:
Der Slawen stolzer Spross, der Finne, der Tunguse
Und der Kalmück am Steppenrand.


Und lang wird liebend mich das Volk im Herzen tragen,
Weil Edles ich erweckt mit meiner Leier Klang,
Weil ich die Freiheit pries in unsren strengen Tagen
Und Nachsicht mit den Opfern sang.


Dem Gott gehorsam, Muse, bleib auf deinen Pfaden,
Gleichmütig, ob man gut, ob bös man von dir spricht;
Verlange keinen Kranz und scheue keinen Schaden
Und wider Dummheit streite nicht.

Gute Nacht!

Dienstag, 10. Dezember 2013

Über die Lebenskunst

von Christoph Martin Wieland

Genieße was du hast, als ob du noch heute sterben solltest,
aber spar es auch, als ob du ewig lebtest.
Der allein ist weise, der, beides eingedenk, im Sparen zu genießen, im Genuss zu sparen weiß.

und Baruch de Spinoza

Die Vernunft ist mein Genuss, und das Ziel, wonach ich in diesem Leben strebe, ist die Freude und die Heiterkeit. Die Freude kann niemals schlecht sein, sofern sie durch das Gesetz unseres wahren Nutzens geregelt ist. Das tugendhafte Leben ist kein trauriges und düsteres Leben voll Entbehrungen und Strenge. Wie könnte die Gottheit am Schauspiel meiner Schwäche Gefallen finden, mir Tränen, Schluchzen und Schrecken zugute rechnen, die Zeichen einer ohnmächtigen Seele?
Ja, ein weiser Mensch soll die Dinge des Lebens benützen und sich ihrer soviel als möglich erfreuen, sich durch mäßige und angenehme Nahrung kräftigen, seine Sinne durch den Duft und die grünende Pracht der Pflanzen entzücken, selbst seine Kleidung schmücken, sich der Musik erfreuen, durch Spiele und Theater, durch alle Belustigungen, welche ein jeder sich gönnen kann, ohne Schaden für seine Person.
 
Gute Nacht!

Sonntag, 1. Dezember 2013

Erotisches Varieté

von Alfred Lichtenstein


Auf offner Straße in der Nacht
Entkleidet sich ein Kneipenwirt.
Ein Ingenieur ist aufgebracht,
Der sich bei seinem Weib verirrt.


Nach gleichgesinnten Viechern schielt
Ein homosexueller Hund.
Ein Greis, der mit sich selber spielt,
Merkt: Allzuviel ist ungesund.


In schmutzig grüner Tunke hockt
Ein blauer Syphilitiker.
Ein Boxer bebt. Ein Baby bockt.
Verstiert fault ein Zylinderherr.


Ein Auto bringt ein Fräulein um.
Ein Junge bricht ein Mädchen an.
Verbittert ist ein Mensch. Warum?
Weil er nicht coitieren kann.

Gute Nacht!
Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...

Gesamtzahl der Seitenaufrufe