Sonntag, 13. Oktober 2013

Ist der Mensch von Natur aus böse?

von Voltaire

Dass der Mensch weder böse noch als ein Kind des Teufels zur Welt kommt, scheint mir erwiesen. Wenn seine Natur so beschaffen wäre, würde er Schandtaten und Grausamkeiten begehen, sobald er laufen könnte, würde das erste beste Messer nehmen, um jeden umzubringen, der ihm missfiele. Er würde dann notwendigerweise den jungen Wölfen und Füchsen gleichen, die zubeißen, sobald sie dazu imstande sind.
In Wirklichkeit hat der Mensch überall auf der Erde als Kind die Natur eines Lammes. Warum also und auf welche Weise wird er so oft zum Wolf und zum Fuchs? Nun, er kommt weder gut noch böse zur Welt, aber die Erziehung, das gute oder schlechte Beispiel, die Staatsordnung, in die er hineingesetzt wird, kurz, die äußeren Umstände und Gelegenheiten bestimmen ihn zur Tugend oder zum Verbrechen.
Vielleicht konnte die menschliche Natur nicht anders sein. Der Mensch konnte nicht immer falsch und nicht immer richtig denken, er konnte nicht immer zur Sanftmut und nicht immer zur Grausamkeit neigen.
Es scheint mir erwiesen, dass die Frauen besser sind als die Männer. Auf eine Klytämnestra kommen hundert feindliche Brüder.
Es gibt Berufe, die das Gemüt notwendigerweise verhärten. Das gilt für die Soldaten, für die Schlächter, für die Polizisten, für die Kerkermeister, für alle Berufe, die sich auf das Unglück anderer Menschen gründen.
[...]Es gibt noch abscheulichere Berufe, die trotzdem begehrt sind wie Domherrnpfründe.
Es gibt Berufe, die einen anständigen Menschen zum Schurken machen und ihn wider seinen Willen ans Lügen und Betrügen gewöhnen, ohne dass er es richtig merkt, die ihn daran gewöhnen, eine Binde vor den Augen zu tragen, sich durch die Interessen und den Dünkel seines Standes verblenden zu lassen und die Menschen ohne Gewissensbisse zu verdummen.
Die Frauen, unablässig mit der Erziehung ihrer Kinder beschäftigt und von ihren häuslichen Sorgen in Anspruch genommen, sind von all diesen Berufen, die die menschliche Natur verderben und verrohen, ausgeschlossen. Sie sind überall weniger roh als die Männer. Das Körperliche verbindet sich mit dem Moralischen, um die Frauen von schweren Verbrechen fernzuhalten. Ihr Blut ist sanfter, und sie neigen weniger zu starken Getränken, die verrohend wirken. Ein klarer Beweis dafür ist die Tatsache, dass, wie wir an anderer Stelle nachgewiesen haben, auf tausend Opfer der Justiz, auf tausend Hinrichtungen wegen Mordes kaum vier Frauen kommen. Ich glaube nicht einmal, dass in Asien auch nur zwei Frauen wegen Mordes zum Tode verurteilt worden sind.
Es scheint also, dass unsere Sitten und Gebräuche die Männer bösartig gemacht haben.
Wäre dies allgemein und ohne Ausnahme der Fall, so wäre das männliche Geschlecht scheußlicher, als es in unseren Augen die Spinnen, die Wölfe und die Marder sind. Glücklicherweise aber gibt es nur sehr wenige Berufe, die das Herz verhärten und abscheuliche Leidenschaften in ihm wecken.
[...]Trösten wir uns mit der Feststellung, dass es von Peking bis La Rochelle immer edle Menschen gegeben hat und geben wird.


Gute Nacht!

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