Sonntag, 31. Dezember 2017

Der Dreizehnte Monat

von Erich Kästner
Wie säh er aus, wenn er sich wünschen ließe?
Schaltmonat wär? Vielleicht Elfember hieße?
Wem zwölf genügen, dem ist nicht zu helfen.
Wie säh er aus, der dreizehnte von zwölfen?

Der Frühling müßte blühn in holden Dolden.
Jasmin und Rosen hätten Sommerfest.
Und Äpfel hingen, mürb und rot und golden,
im Herbstgeäst.

Die Tannen träten unter weißbeschneiten
Kroatenmützen aus dem Birkenhain
und kauften auf dem Markt der Jahreszeiten
Maiglöckchen ein.

Adam und Eva lägen in der Wiese.
und liebten sich in ihrem Veilchenbett,
als ob sie niemand aus dem Paradiese
vertrieben hätt.

Das Korn wär gelb. Und blau wären die Trauben.
Wir träumten, und die Erde wär der Traum.
Dreizehnter Monat, lass uns an dich glauben!
Die Zeit hat Raum!

Verzeih, dass wir so kühn sind, dich zu schildern.
Der Schleier weht. Dein Antlitz bleibt verhüllt.
Man macht, wir wissen's, aus zwölf alten Bildern
kein neues Bild.

Drum schaff dich selbst! Aus unerhörten Tönen!
Aus Farben, die kein Regenbogen zeigt!
Plündre den Schatz des ungeschehen Schönen!
Du schweigst? Er schweigt.

Es tickt die Zeit. Das Jahr dreht sich im Kreise.
Und werden kann nur, was schon immer war.
Geduld, mein Herz. Im Kreise geht die Reise.
Und dem Dezember folgt der Januar.

Gute Nacht!
(und ein gesundes neues Jahr!)

Dienstag, 26. Dezember 2017

Über die Eigenliebe

von François de La Rochefoucauld

Eigenliebe ist Liebe zu sich selbst und zu allen Dingen um seinetwillen. Sie macht die Menschen zu Selbstanbetern und würde sie zu Tyrannen machen über andere, wenn das Schicksal ihnen die Mittel dazu gäbe. Sie verweilt niemals außer sich und streift fremde Gegenstände nur wie die Bienen die Blumen, um das ihr eigene zu gewinnen.
Nichts ist so stürmisch wie ihre Wünsche, nichts so verborgen wie ihre Absichten und nichts so verschlagen wie ihre Handlungsweisen. Ihre Geschmeidigkeit lässt sich nicht darstellen, ihre Wandlungen übertreffen die der Metamorphosen, ihre Verfeinerungen die der Chemie. Man kann weder die Tiefen ihrer Abgründe ermessen noch die Finsternisse durchdringen.
Dort unten lebt sie, den schärfsten Augen verborgen und bewegt sich auf tausend heimlichen Gängen. Dort ist sie oft unsichtbar sich selber, dort empfängt, nährt und bildet sie, ohne es zu wissen, unzählige Regungen von Liebe und Hass, und so ungeheuerliche, dass sie sie nicht erkennt oder sich nicht entschließen kann sie einzugestehen, wenn sie sie ans Tageslicht heraufgelassen hat.
Aus der Nacht, die sie bedeckt, entstehen die lächerlichen Meinungen über sich selbst, in denen sie befangen ist. Dort entspringen ihre Irrtümer, ihre Unwissenheit, Plumpheit und Albernheiten über sich selber. Dorther kommt es, dass sie ihre Gefühle für tot hält, wenn sie nur schlafen, und sich einbildet, keine Lust mehr zu haben zu laufen, wenn sie nur rastet und glaubt, von allen Lüsten frei zu sein, wenn sie sie nur gesteht. Aber diese dichte Finsternis, die sie ihrem Auge verbirgt, hindert sie nicht, alles außer ihr Liegende vollkommen wahrzunehmen. Hierin ist sie ähnlich unseren Augen, die alles entdecken und nur blind für sich selbst sind.


Gute Nacht! 

Montag, 18. Dezember 2017

Ach, hätt‘ ich früher dich gesehn

von Johanna Ambrosius
Ach, hätt‘ ich früher dich gesehn
Und wär’s ‘ne einz’ge Stund‘,
Wollt‘ segnen diesen Augenblick
Noch mit erblasstem Mund.

Ach, hätt‘ ich früher dich geliebt,
Du reines Seelenlicht,
Fürwahr, der Engel schönes Los,
Beneidete ich nicht.

Ach, hätt‘ ich früher dich geliebt,
Und wär’s auch nur im Traum,
Hing meiner Hoffnung Blütenkranz
Nicht welk am Lebensbaum.
Gute Nacht!

Sonntag, 10. Dezember 2017

Ist Evolution eine Theorie?

von Ernst Mayr

Evolution ist der wichtigste Begriff in der gesamten Biologie. Es gibt in diesem Fachgebiet keine einzige Frage nach dem Warum, die sich ohne Berücksichtigung der Evolution angemessen beantworten ließe. Aber die Bedeutung des Konzepts geht weit über die Biologie hinaus. Ob wir es uns klarmachen oder nicht: Das gesamte Denken der heutigen Menschen wird vom Evolutionsgedanken zutiefst beeinflusst - man ist sogar versucht zu sagen: bestimmt.
[...]
Evolution ist nicht nur eine Idee, eine Theorie oder eine Vorstellung, sondem der Name für einen natürlichen Vorgang. Dass er abläuft, lässt sich mit ganzen Bergen von Belegen dokumentieren, die nie jemand jemals widerlegen konnte. ... Heute ist es eigentlich irreführend, die Evolution als Theorie zu bezeichnen, nachdem man in den letzten 140 Jahren so umfangreiche Beweise für ihr Vorhandensein entdeckt hat. Evolution ist keine Theorie mehr, sondern schlechterdings eine Tatsache.


Gute Nacht!

Samstag, 2. Dezember 2017

Der Dezember

von Erich Kästner
Das Jahr ward alt. Hat dünne Haar.
Ist gar nicht sehr gesund.
Kennt seinen letzten Tag, das Jahr.
Kennt gar die letzte Stund.

Ist viel geschehn. Ward viel versäumt.
Ruht beides unterm Schnee.
Weiß liegt die Welt, wie hingeträumt.
Und Wehmut tut halt weh.

Noch wächst der Mond. Noch schmilzt er hin.
Nichts bleibt. Und nichts vergeht.
Ist alles Wahn. Hat alles Sinn.
Nützt nichts, daß man's versteht.

Und wieder stapft der Nikolaus
durch jeden Kindertraum.
Und wieder blüht in jedem Haus
der goldengrüne Baum.

Warst auch ein Kind. Hast selbst gefühlt,
wie hold Christbäume blühn.
Hast nun den Weihnachtsmann gespielt
und glaubst nicht mehr an ihn.

Bald trifft das Jahr der zwölfte Schlag.
Dann dröhnt das Erz und spricht:
"Das Jahr kennt seinen letzten Tag,
und du kennst deinen nicht." 

Gute Nacht!
G
M
T
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