Freitag, 23. Juni 2017

Der Hahn, die Tauben und der Geier

von  Albrecht von Haller
Einige Tauben suchten sich an etwas Korn zu sättigen. Ein Haushahn kam dazu, brauchte Gewalt und vertrieb die Tauben. Im ersten Verdruß über das erlittene Unrecht sahen sie einen Geier, der eben über dem Hofe schwebte, und riefen ihn an, sie zu rächen. Der Geier kam, zerriß den Hahn und bald darauf die Tauben, die sich über den Tod ihres Feindes freueten.

Ihr Staaten, die so leicht ein schlechter Nutz entzweit,
Die ihr als einzeln schwach, und stark, wann einig, seid,
O lernt bei diesem Bild die kleine Rache meiden
Und lieber den Verlust als Unterdrückung leiden.
Die Fabel malt euch vor, was allemal geschah;
Bleibt einig oder bebt; der Geier ist schon da!
Gute Nacht!

Sonntag, 18. Juni 2017

Vom Glauben an die Menschen

von Hermann Hesse

Sie spüren in mir etwas wie einen Glauben, etwas was mich hält, eine Erbschaft von Christentum teils, teils Humanität, die nicht bloß anerzogen und nicht bloß intellektuell fundiert ist. Damit hat es seine Richtigkeit, nur könnte ich meinen Glauben nicht formulieren, je länger, je weniger. Ich glaube an den Menschen als an eine wunderbare Möglichkeit, die auch im größten Dreck nicht erlischt und ihm aus der größten Entartung zurückzuhelfen vermag, und ich glaube, diese Möglichkeit ist so stark und so verlockend, daß sie immer wieder als Hoffnung und als Forderung spürbar wird, und die Kraft, die den Menschen von seinen höhern Möglichkeiten träumen läßt und ihn immer wieder vom Tierischen wegführt, ist wohl immer dieselbe, einerlei ob sie heut Religion, morgen Vernunft und übermorgen wieder anders genannt wird. Das Schwingen, das Hin und Her zwischen dem realen Menschen und dem möglichen, dem erträumbaren Menschen ist dasselbe, was die Religionen als Beziehung zwischen Mensch und Gott auffassen.
Dieser Glaube an die Menschen, das heißt daran, daß der Sinn für Wahrheit, das Bedürfnis nach Ordnung dem Menschen innewohnt und nicht umzubringen ist, hält mich über Wasser. Ich sehe im übrigen die heutige Welt wie ein Irrenhaus und ein schlechtes Sensationsstück an, oft bis zum tiefsten Ekel degoutiert, aber doch so wie man Irre und Besoffene ansieht, mit dem Gefühl: wie werden die sich schämen, wenn sie eines Tages wieder zu sich kommen sollten!


Gute Nacht!

Montag, 12. Juni 2017

Auf dem Krankenlager

von Marie Itzerott
Leben will ich! — Leben, leben!
Will noch einmal schau'n die Rosen,
Einmal noch die Schmetterlinge
Seh'n mit lauen Lüften kosen!
Einmal nur des Aehrenfeldes
Duft mir soll die Brust noch weiten
Dann mag über meinem Leben
Sich das Dunkel breiten!

Leben will ich! — Leben, leben'.
Will am Hals dem Liebsten hangen,
Einmal mein Gesicht noch schmiegen
Dicht an seine braunen Wangen.
Einmal noch in seinem Lachen
Meine ganze Seele baden - -
Mag die Parze dann zerreißen
Meines Schicksals Faden!

Leben will ich! — Leben, leben!
Einmal noch mit Wonne fühlen,
Wie die übervollen Kräfte
Stürmisch mir am Herzen wühlen!
Fühlen will ich, daß ich lebe
Mit der ganzen Lebensfülle -
Von der Seele mag dann fallen
Leis und still die Hülle!


Gute Nacht!

Freitag, 9. Juni 2017

Moralische Sentenzen

von François de La Rochefoucauld

Wir reden wenig, wenn die Eitelkeit uns nicht reden macht. Einer der Gründe, warum man so selten Leute trifft, die im Gespräch verständig und angenehm erscheinen, ist der, dass es fast niemanden gibt, der nicht mehr an das dächte, was er sagen will als daran, auf das, was man ihm sagt, treffend zu antworten. Die Feinsten und Gescheitesten begnügen sich mit der Miene der Aufmerksamkeit, während man ihren Augen ansieht, wie sich ihr Geist von dem, was man sagt, entfernt und ungeduldig dem zuwendet, was sie sagen wollen.
Man vergisst, dass es ein schlechtes Mittel ist, anderen zu gefallen und sie zu gewinnen, wenn man sich selbst so eifrig zu gefallen sucht und dass die Kunst, gut zuzuhören und treffend zu antworten, die allerhöchste ist, die man im Gespräch zeigen kann.
Wie es der Charakter der großen Geister ist, mit wenig Worten viel zu sagen, so besitzen im Gegenteil die kleinen Geister die Gabe, viel zu sprechen und nichts zu sagen.


Gute Nacht!

Samstag, 3. Juni 2017

Der Juni

von Erich Kästner

Die Zeit geht mit der Zeit: Sie fliegt.
Kaum schrieb man sechs Gedichte,
ist schon ein halbes Jahr herum
und fühlt sich als Geschichte.

Die Kirschen werden reif und rot,
die süßen wie die sauern.
Auf zartes Laub fällt Staub, fällt Staub,
so sehr wir es bedauern.

Aus Gras wird Heu. Aus Obst Kompott.
Aus Herrlichkeit wird Nahrung.
Aus manchem, was das Herz erfuhr,
wird, bestenfalls, Erfahrung.

Es wird und war. Es war und wird.
Aus Kälbern werden Rinder
und, weil's zur Jahreszeit gehört,
aus Küssen kleine Kinder.

Die Vögel füttern ihre Brut
und singen nur noch selten.
So ist's bestellt in unsrer Welt,
der besten aller Welten.

Spät tritt der Abend in den Park,
mit Sternen auf der Weste.
Glühwürmchen ziehn mit Lampions
zu einem Gartenfeste.

Dort wird getrunken und gelacht.
In vorgerückter Stunde
tanzt dann der Abend mit der Nacht
die kurze Ehrenrunde.

Am letzten Tische streiten sich
ein Heide und ein Frommer,
ob's Wunder oder keine gibt.
Und nächstens wird es Sommer.

Gute Nacht!
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