Dienstag, 28. Mai 2013

Das Leben — eine Reise

von José Ortega Y Gasset

Das Leben ist eine Reise, sagten die Asketen und richteten mit verändertem Zielpunkt den Pfeil ihrer Sehnsucht auf die ewige Herberge. Warum wählten sie ein Stück des Lebens — eine Reise — als Gleichnis des Ganzen?
Auf der Reise tritt die Flüchtigkeit unserer Beziehung zu den Dingen am schärfsten hervor. Sie rollen an uns, wir rollen an ihnen vorbei; sie streifen uns nur in einem Punkt, einen Augenblick unserer Person, so daß ihre Berührung, wie rund und weich sie auch sei, uns immer ein wenig schmerzhaft durchfährt wie ein Riß und Stich.
Wenn wir einer Landschaft, einer Freundschaft, einem Glück zujubeln: es kommt, es kommt, müssen wir die Lippen schon bereiten zu dem wehmütigen: es vergeht, es vergeht. Wie man sich am Anblick eines schmucken Reiters nicht ergötzen kann — schreibt der Padre Juan Eusebio Nieremberg in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts —, wenn er beständig mit verhängten Zügeln dahersprengt, ebenso kann man die Dinge dieser Welt nicht genießen, weil sie nicht stillhalten und unaufhörlich mit verhängten Zügeln davoneilen. Da die Güter des Lebens — fügt er hinzu — so vergänglich sind, gibt Gott sie uns nur spärlich und gibt uns das Leben in Teilchen und mischt so viele Teile Tod hinein, wie er uns Stücklein Leben gibt.
Denn weil wir die Dinge nicht festhalten können, schließt der wackere Pater, daß sie nichts taugen oder, wie er sagt, verächtlich sind. Verächtlich! bei Gott, nein! Just weil sie so wundervoll sind, will ihre eilige Flucht uns das Herz brechen.  

Wenn die Welt aus Zahnschmerz bestünde, wäre Vergänglichkeit ihr bestes Verdienst.

Gute Nacht!

Samstag, 25. Mai 2013

Wege zu sich selbst

von Marc Aurel

Sooft du an der Unverschämtheit jemandes Anstoß nimmst, frage dich sogleich: Ist es auch möglich, daß es in der Welt keine unverschämten Leute gibt? Das ist nicht möglich. Verlange also nicht das Unmögliche. Jener ist eben einer von den Unverschämten, die es in der Welt geben muß. Dieselbe Frage sei dir zur Hand hinsichtlich der Schlauköpfe, der Treulosen und jedes Fehlenden. Denn sobald du dich daran erinnerst, daß das Dasein von Leuten dieses Gelichters nun einmal nicht zu verhindern ist, wirst du auch gegen jeden einzelnen derselben milder gesinnt werden. Auch das frommt, wenn man sogleich bedenkt, welche Tugend die Natur dem Menschen diesen Untugenden gegenüber verliehen hat. So verlieh sie ja dem Rücksichtslosen gegenüber, als eine Art Gegengift, die Sanftmut, und wieder einem andern eine andere Gegenkraft, und im ganzen steht es in deiner Gewalt, den Irrenden den rechten Weg zu zeigen. Jeder Fehlende aber irrt, insofern er sein Ziel verfehlt. Und nun, welchen Nachteil hast du dadurch erlitten? Du wirst finden, daß keiner von denen, über die du dich so sehr ereiferst, durch irgendeine seiner Übeltaten deine denkende Seele hat verschlechtern können, vielmehr haben eben in dieser dein Übel und dein Schaden ihren vollen Grund. Wenn aber ein ungebildeter Mensch eben wie ein Ungebildeter sich beträgt, was ist denn Schlimmes oder Seltsames daran? Sieh zu, ob du nicht vielmehr dich selbst deshalb anklagen solltest, daß solch ein fehlerhaftes Benehmen von diesem Menschen dir so unerwartet kam. Gab dir ja doch deine Vernunft Anlaß genug zu dem Gedanken, daß es wahrscheinlich sei, er werde sich so vergehen, und dennoch vergaßest du das und wunderst dich jetzt, daß er sich vergangen hat. Besonders aber, sooft du dich über Treulosigkeit und Undank von jemand zu beschweren hast, richte deinen Blick auf dein eigenes Innere. Denn offenbar liegt hier der Fehler auf deiner Seite, wenn du einem Menschen von dieser Gesinnung zutrautest, daß er sein Wort halten werde, oder wenn du ihm nicht ohne allerlei Nebenabsichten eine Wohltat erzeigtest und nicht vielmehr in dem Gedanken, daß du von deiner Handlung selbst schon alle Frucht eingeerntet habest. Denn was willst du noch weiter, wenn du einem Menschen eine Wohltat erwiesen hast? Genügt es dir nicht, daß du deiner Natur gemäß etwas getan hast, sondern verlangst du noch eine Belohnung dafür? Als ob das Auge dafür, daß es sieht, oder die Füße dafür, daß sie gehen, einen Lohn fordern könnten! Denn wie diese Glieder dazu geschaffen sind, daß sie im Vollzug ihrer natürlichen Verrichtungen ihren Zweck erfüllen, so erfüllt auch der Mensch, zum Wohltun geboren, sooft er eine Wohltat erweist oder etwas für den allgemeinen Nutzen Förderliches leistet, seinen natürlichen Zweck und empfängt damit das Seinige.


Gute Nacht!

Montag, 20. Mai 2013

Wie man einen Vogel malt

von Jacques Prevert

Male zuerst einen Käfig
mit einer offenen Tür
dann male
irgend etwas Hübsches
irgend etwas Einfaches
irgend etwas Schönes
irgend etwas Nützliches
was nur den Vogel angeht
Dann lehne die Leinwand an einen Baum
in einem Garten
in einem Wäldchen
verbirg dich hinter dem Baum
ohne zu sprechen
ohne dich zu rühren...

Bisweilen kommt der Vogel bald
aber er kann ebensogut viele Jahre brauchen
bis er sich dazu entschließt
Verlier nicht den Mut

warte

Warte wenn es sein muß jahrelang
denn der rasche oder langsame Anflug des Vogels
hat nichts zu tun mit dem Gelingen des Bildes

Wenn der Vogel kommt
falls er kommt
so sei ganz still
Warte bis der Vogel in den Käfig schlüpft
und wenn er hineingeschlüpft ist
schließe mit dem Pinsel leise die Tür

dann

tilge nacheinander alle Gitterstäbe aus
wobei du keine einzige Feder
des Vogels berühren darfst

Sodann male den Baum
und wähle den schönsten seiner Äste
für den Vogel

Male auch das grüne Laub und den frischen Wind
den Sonnenstaub
und das Gesumm der Grastiere in der Sommerglut
Und dann warte ob der Vogel sich entschließt zu singen
Wenn der Vogel nicht singt
so ist es ein schlechtes Zeichen
ein Zeichen daß das Bild schlecht ist
Aber wenn er singt ist es ein gutes Zeichen
ein Zeichen daß du das Bild mit deinem Namen zeichnen darfst
dann zupfst du ganz sacht
eine Feder aus dem Vogelgefieder
und schreibst in einer Ecke des Bildes deinen Namen nieder

Gute Nacht!

Mittwoch, 15. Mai 2013

Von der Einsamkeit

von Michel de Montaigne

Gewiß, der Mensch von Verstand hat nichts verloren, solang er sich selbst besitzt. Als die Barbaren die Stadt Nola verwüsteten, hatte dabei Paulinus, der daselbst Bischof war, alles das Seinige eingebüßt und war obendrein gefangengenommen.
Dennoch betete er folgendermaßen: »Behüte mich, lieber Herr Gott, daß ich diesen Verlust nicht fühle, denn du weißt, daß sie noch nichts von dem berührt haben, was mein ist.« – Die Reichtümer, die ihn reich, die Güter, die ihn gut machten, waren noch unangetastet. Darin eben besteht die Richtigkeit der Wahl der Schätze, die weder Motten noch Rost fressen, und des Orts ihrer Niederlage, wozu niemand gelangen und den niemand verraten kann als wir selbst.
Sorge derjenige, der's vermag, daß er Weib, Kinder, Vermögen und vor allen Dingen Gesundheit habe; aber laß ihn seine Seele nicht so fest daran hängen, daß er sein ganzes Glück darauf baue.
Man muß ein Hinterstübchen für sich absondern, in welchem man seinen wahren Freiheitssitz und seine Einsiedelei aufschlagen kann. Hier müssen wir vernünftigen Umgang mit uns selbst unterhalten; und zwar so abgesondert, daß darin keine andre Bekanntschaft oder Mitteilung fremder Dinge stattfinde. Hier mache man ernsthafte Überlegungen, und hier lache man, als ob man weder Frau noch Kinder, noch Verwandte, noch Hausgesinde hätte, damit, wenn der Fall eintreten sollte, daß man sie verlöre, es einem nicht schwer sei, sich ohne sie zu behelfen.
Unsre Seele ist, ihrer Natur nach, für alle Lagen geschickt. Sie ist fähig, sich selbst Gesellschaft zu sein; fähig anzugreifen; fähig sich zu verteidigen, zu empfangen und zu geben.


Gute Nacht!

Mittwoch, 8. Mai 2013

Der Münchner im Himmel

von Ludwig Thoma

Alois Hingerl, Nr. 172, Dienstmann in München, besorgte einen Auftrag mit solcher Hast, daß er vom Schlage gerührt zu Boden fiel und starb.
Zwei Engel zogen ihn mit vieler Mühe in den Himmel, wo er von St. Petrus aufgenommen wurde. Der Apostel gab ihm eine Harfe und machte ihn mit der himmlischen Hausordnung bekannt. Von acht Uhr früh bis zwölf Uhr mittags »frohlocken«, und von zwölf Uhr mittags bis acht Uhr abends »Hosianna singen«. – »Ja, wann kriagt ma nacha was z'trink'n?« fragte Alois. – »Sie werden Ihr Manna schon bekommen«, sagte Petrus.
»Auweh!« dachte der neue Engel Aloisius, »dös werd schö fad!« In diesem Momente sah er einen roten Radler, und der alte Zorn erwachte in ihm. »Du Lausbua, du mistiga!« schrie er, »kemmt's ös do rauf aa?« Und er versetzte ihm einige Hiebe mit dem ärarischen Himmelsinstrument.
Dann setzte er sich aber, wie es ihm befohlen war, auf eine Wolke und begann zu frohlocken:
»Ha-lä-lä-lä-lu-u-hu-hiah!«...
Ein ganz vergeistigter Heiliger schwebte an ihm vorüber. – »Sie! Herr Nachbar! Herr Nachbar!« schrie Aloisius, »hamm Sie vielleicht an Schmaizla bei Eahna?« Dieser lispelte nur »Hosianna!« und flog weiter.
»Ja, was is denn dös für a Hanswurscht?« rief Aloisius. »Nacha hamm S' halt koan Schmaizla, Sie Engel, Sie boaniga! Sie ausg'schamta!« Dann fing er wieder sehr zornig zu singen an: »Ha-ha-lä-lä-lu-u-uh – – Himmi Herrgott – Erdäpfi – Saggerament – – lu – uuu – iah!«
Er schrie so, daß der liebe Gott von seinem Mittagsschlafe erwachte und ganz erstaunt fragte: »Was ist denn da für ein Lümmel heroben?«
Sogleich ließ er Petrus kommen und stellte ihn zur Rede. »Horchen Sie doch!« sagte er. Sie hörten wieder den Aloisius singen: »Ha – aaaaah – läh – – Himml – Himml Herrgott – Saggerament – uuuuuh – iah!« ...
Petrus führte sogleich den Alois Hingerl vor den lieben Gott, und dieser sprach: »Aha! Ein Münchner! Nu natürlich! Ja, sagen Sie einmal, warum plärren denn Sie so unanständig?«
Alois war aber recht ungnädig, und er war einmal im Schimpfen drin. »Ja, was glaab'n denn Sie?« sagte er. »Weil Sie der liabe Good san, müaßt i singa, wia 'r a Zeiserl, an ganz'n Tag, und z'trinka kriagat ma gar nix! A Manna, hat der ander g'sagt, kriag i! A Manna! Da balst ma net gehst mit dein Manna! Überhaupts sing i nimma!«
»Petrus«, sagte der liebe Gott, »mit dem können wir da heroben nichts anfangen, für den habe ich eine andere Aufgabe. Er muß meine göttlichen Ratschlüsse der bayrischen Regierung überbringen; da kommt er jede Woche ein paarmal nach München.«
Des war Aloisius sehr froh. Und er bekam auch gleich einen Ratschluß für den Kultusminister Wehner zu besorgen und flog ab.
Allein, nach seiner alten Gewohnheit ging er mit dem Brief zuerst ins Hofbräuhaus, wo er noch sitzt. Herr von Wehner wartet heute noch vergeblich auf die göttliche Eingebung.

Gute Nacht!

Freitag, 3. Mai 2013

Das bittersüße eh'lich Leben

von Hans Sachs
 

Gott sei gelobet und geehrt,
Der mir ein frumb Weib hat beschert,
Mit der ich zwei und zwanzig Jahr
Gehaust hab, Gott gab länger gar.

Wiewohl sich in mein ehling Leben
Hat Süß und Saures oft begeben
Gar wohl gemischt von Freud und Leid,
Erst auf, dann ab, ohn Unterscheid.

Sie hat mir nit stets kochet Feigen,
Will schwankweis Dir ein Teil anzeigen.
Sie ist mein Himmel meiner Seel,
Sie ist auch oft mein Pein und Hell,

Sie ist mein Engel auserkoren,
Ist oft mein Fegeteufel woren,
Sie ist mein Wünschelrut und Segen,
Ist oft mein Schauer und Platzregen.

Sie oft mein Mai und Rosenhag,
Ist oft mein Blitz und Donnerschlag.
Mein Frau ist oft mein Schimpf und Scherz.
Sie oft mein Jammer, Angst und Schmerz,

Sie ist mein Wunn und Augenweid,
Ist oft mein Traurn und Herzensleid,
Sie ist mein Freiheit und mein Wahl,
Ist oft mein Gfengnis und Notstall,

Sie ist mein Hoffnung und mein Trost,
Ist oft mein Zweifel, Hitz und Frost.
Mein Frau ist meine Zier und Lust,
Ist oft mein Graun und Suppenwurst,

Ist oft mein Königlicher Sal,
Ist oft mein Krankheit und Spital.
Mein Frau, die hilft mit treulich nähren,
Thut mir auch oft das Mein verzehren,

Mein Frau, die ist mein Schild und Schutz,
Ist oft mein Frevel, Poch und Trutz.
Sie ist mein Fried und Einigkeit
Und oft mein täglich Hebenstreit,

Sie ist mein Fürsprech und Erlediger,
Ist oft mein Ankläger und Prediger.
Mein Frau ist mein getreuer Freund,
Oft worden auch mein größter Feind,

Mein Frau oft mietsam ist und gütig.
Sie ist auch zornig oft und wütig,
Sie mein Tugend und mein Laster,
Sie ist mein Wund und auch mein Pflaster.

Sie ist mein Herzens Aufenthalt
Und machet mich doch grau und alt.

Gute Nacht!
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