Freitag, 27. September 2013

Schuldbewusstsein

von Raphael M. Bonelli
 
Schuldbewusstsein, Schuldgefühle, Gewissensbisse und ein „schlechtes Gewissen“ sind an und für sich Zeichen für psychische Gesundheit. Das klingt für den Laien provokant, leuchtet aber sofort ein, wenn man psychotherapeutisch mit Missbrauchstätern gearbeitet hat. Am Anfang der Therapie wird der traurige Tatbestand in der Regel geleugnet, verharmlost und uminterpretiert. Als Therapieerfolg werten muss man ja schon einen zarten Schimmer von Unrechtsverständnis – und eben ein wachsendes Schuldbewusstsein. Es geht nicht darum, dem Missbrauchstäter Schuldgefühle einzupflanzen, es geht darum, die verdrängte Schuld ins Bewusstsein zurückzuholen. Denn nur dieses Bewusstsein von Schuld macht Reue und damit eine Verhaltensänderung möglich.
 
Schuldbewusstsein ist ein kreatives Potenzial: Es für denkbar und möglich zu halten, etwas falsch gemacht zu haben, öffnet neue Handlungshorizonte. Fehlendes Schuldbewusstsein bedeutet nicht etwa das Fehlen von Schuld, sondern die Verdrängung der Schuld aus dem Bewusstsein, die jetzt im Unterbewussten ein Eigenleben führt. Verdrängte Schuld engt den Menschen ein und nimmt ihm Handlungsspielraum. 

[...] Ein "schlechtes Gewissen" ist die Erinnerung an eine eigene Handlung, die im Nachhinein als unrichtig, schädlich, schlecht, ja böse beurteilt wird. Auch das ist keine schwere Krankheit - und man kann es oft durch eine Entschuldigung aus der Welt schaffen. Ein Killerargument im menschlichen Zusammenleben lautet: "Du machst mir jetzt ein schlechtes Gewissen." Das ist ein Paradoxon: Als ob ein schlechtes Gewissen schon ein klarer Hinweis auf Unschuld wäre - und auf einen aggressiven Übergriff des Partners. Wir laufen damit nur Gefahr, durch halbgebildete Küchenpsychologie und Stammtischpädagogik uns gegenseitig das Leben zu erschweren: Durch eine zunehmende Psychologisierung des Alltags werden unter anderem psychoanalytische Hypothesen in banalisierter Form in Umlauf gesetzt. Tatsächlich macht ein gesundes Schuldbewusstsein überhaupt erst beziehungsfähig.

Gute Nacht!

Sonntag, 22. September 2013

Nach den Wahlen

von Ludwig Thoma

Es schreit nicht mehr in fetten Schriften
Das Für und Wider von der Wand.
So laßt uns alle Frieden stiften!
Ein jeder reiche seine Hand!

Zur Menschheit wird auf diesem Wege
Die heißentflammte Wählerschar;
Und wieder Nachbar und Kollege
Ist, wer noch gestern Schurke war.

Gute Nacht!

Dienstag, 17. September 2013

Über die Laster der Menschen

von Immanuel Kant
 
Die tierische Unmäßigkeit, im Genuß der Nahrung, ist der Mißbrauch der Genießmittel, wodurch das Vermögen des intellektuellen Gebrauchs derselben gehemmt oder erschöpft wird. Versoffenheit und Gefräßigkeit sind die Laster, die unter diese Rubrik gehören. Im Zustande der Betrunkenheit ist der Mensch nur wie ein Tier, nicht als Mensch, zu behandeln; durch die Überladung mit Speisen und in einem solchen Zustande ist er für Handlungen, wozu Gewandtheit und Überlegung im Gebrauch seiner Kräfte erfordert wird, auf eine gewisse Zeit gelähmt. 

Daß sich in einen solchen Zustand zu versetzen Verletzung einer Pflicht wider sich selbst sei, fällt von selbst in die Augen. Die erste dieser Erniedrigungen, selbst unter die tierische Natur, wird gewöhnlich durch gegorene Getränke, aber auch durch andere betäubende Mittel, als den Mohnsaft und andere Produkte des Gewächsreichs, bewirkt, und wird dadurch verführerisch, daß dadurch auf eine Weile geträumte Glückseligkeit und Sorgenfreiheit, ja wohl auch eingebildete Stärke hervorgebracht, Niedergeschlagenheit aber und Schwäche, und, was das Schlimmste ist, Notwendigkeit, dieses Betäubungsmittel zu wiederholen, ja wohl gar damit zu steigern, eingeführt wird.

Gute Nacht!

Freitag, 13. September 2013

Über die wahre Freundschaft

von Cicero
 
Die Freundschaft ist nichts anderes als vollkommenste Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen, mit Wohlwollen und liebevoller Achtung verbunden. Mit Ausnahme der Weisheit glaube ich nicht, dass den Menschen von den Göttern etwas Besseres verliehen sei. Einige ziehen den Reichtum vor, andere eine feste Gesundheit, andere Macht, noch andere Ehrenstellen, viele sogar die sinnlichen Lüste. Das letzte ist tierisch; die anderen Güter aber sind vergänglich und ungewiss; auch hängen sie nicht von unserer Einsicht, sondern von den Launen des Glückes ab. Wer das höchste Glück in die Tugend setzt, zeigt dadurch eine herrliche Gesinnung; die Tugend gerade aber ist es, welche die Freundschaft erzeugt und erhält, und ohne Tugend findet Freundschaft sich auf keine Weise. 
Die hohe Bedeutung der Freundschaft ergibt sich vornehmlich daraus, dass aus der unendlich großen Gesellschaft des menschlichen Geschlechts überhaupt, die schon die Natur gestiftet hat, dies Verhältnis sich so zusammengezogen und eingeengt hat, dass sich das Band der Wertschätzung immer nur zwischen zwei oder wenigen Personen anknüpft. Nichts ist der Natur so angemessen, nichts unseren Bedürfnissen im Glück und Unglück so zusagend wie Freundschaft. 
Dem Glück verleiht die Freundschaft schöneren Glanz. Widerwärtiges erleichtert sie durch Mitgefühl und Teilnahme. Die aus dem Leben die Freundschaft wegnehmen, nehmen aus dem Weltenraum die Sonne weg. Weil der regelrechte Ratgeber der wahren Freundschaft die Tugend ist, so wird es eine schwierige Sache sein, eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, wenn Du vom Wege der Tugend abgewichen bist. Die meisten Menschen wollen törichter-, um nicht zu sagen unverschämterweise einen Freund besitzen, wie sie selbst nicht sein können; und was sie selbst ihren Freunden nicht zu leisten vermögen, das verlangen sie von ihnen.
Wer sein Ohr der Wahrheit so verschließt, dass er sie nicht einmal von seinen Freunden hören will, an dessen Rettung ist zu zweifeln.


Gute Nacht!

Samstag, 7. September 2013

Beruf des Storches

von Johann Wolfgang Goethe

Der Storch, der sich von Frosch und Wurm
An unserm Teiche nähret,
Was nistet er auf dem Kirchenturm,
Wo er nicht hingehöret?



Dort klappt und klappert er genug,
Verdrießlich anzuhören;
Doch wagt es weder alt noch jung
Ihm in das Nest zu stören.



Wodurch - gesagt mit Reverenz -
Kann er sein Recht beweisen,
Als durch die löbliche Tendenz
Aufs Kirchendach zu . . .

Gute Nacht!

Mittwoch, 4. September 2013

Vom Alter – De senectute

von Norberto Bobbio

Die Welt der alten Menschen, aller alten Menschen, ist in mehr oder weniger ausgeprägter Form die Welt der Erinnerung. Man sagt: am Ende bist du das, was du gedacht, geliebt, vollbracht hast. Ich möchte hinzufügen: du bist das, was du erinnerst. Außer den Gefühlen, die du geweckt hast, den Gedanken, die du gedacht hast, den Taten, die du vollbracht hast, sind die Erinnerungen, die du bewahrt und nicht in dir ausgelöscht hast, deine Reichtümer, und du bist nun ihr einziger Wächter. Die Dimension, in der der alte Mensch lebt, ist die Vergangenheit. Die Zeitspanne, die die Zukunft noch für ihn bereithält, ist zu kurz, als dass er sich Gedanken um das machen müsste, was kommen wird.

Verschwende die kurze Zeit nicht, die dir noch bleibt. Geh deinen Weg in Gedanken noch einmal. Die Erinnerungen werden dir helfen. Aber die Erinnerungen werden nicht auftauchen, wenn du nicht hingehst, sie in den entferntesten Winkeln deines Gedächtnisses aufzustöbern. (...) In der Erinnerung findest du (...) dich selber wieder, deine Identität. Die meisten von denen, die zu deiner Begleitung gehörten, haben dich inzwischen verlassen. (...) In dem Moment, da du sie dir ins Gedächtnis zurückrufst, lässt du sie wieder leben, einen Moment wenigstens, und damit sind sie nicht gänzlich tot, sind nicht vollkommen im Nichts verschwunden (...).

Gute Nacht!
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