Freitag, 30. Mai 2014

Memento

von Mascha Kaléko

Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?


Allein im Nebel tast ich todentlang
und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.


Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr -
und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur;
doch mit dem Tod der anderen muss man leben.

Gute Nacht!

Sonntag, 25. Mai 2014

Worauf man in Europa stolz ist

von Kurt Tucholsky
 
Dieser Erdteil ist stolz auf sich, und er kann auch stolz auf sich sein. Man ist stolz in Europa:
Deutscher zu sein.
Franzose zu sein.
Engländer zu sein.
Kein Deutscher zu sein.
Kein Franzose zu sein.
Kein Engländer zu sein.
An der Spitze der 3. Kompanie zu stehn.
Eine deutsche Mutter zu sein. Am deutschen Rhein zu stehn. Und überhaupt.
Ein Autogramm von Otto Gebühr zu besitzen.
Eine Fahne zu haben. Ein Kriegsschiff zu sein. (»Das stolze Kriegsschiff . . . «)
Im Kriege Proviantamtsverwalterstellvertreter gewesen zu sein.
Bürgermeister von Eistadt a. d. Dotter zu sein.
In der französischen Akademie zu sitzen. (Schwer vorstellbar.) In der preußischen Akademie für Dichtkunst zu sitzen. (Unvorstellbar.)
Als deutscher Sozialdemokrat Schlimmeres verhütet zu haben.
Aus Bern zu stammen. Aus Basel zu stammen. Aus Zürich zu stammen. (Und so für alle Kantone der Schweiz.)
Gegen Big Tilden verloren zu haben.
Deutscher zu sein. Das hatten wir schon. Ein jüdischer Mann sagte einmal:
»Ich bin stolz darauf, Jude zu sein. Wenn ich nicht stolz bin, bin ich auch Jude – da bin ich schon lieber gleich stolz!«

Gute Nacht!

Montag, 19. Mai 2014

Ehemals und Jetzt

von Friedrich Hölderlin

In jüngern Tagen war ich des Morgens froh,
Des Abends weint’ ich: jetzt, da ich älter bin,
Beginn’ ich zweifelnd meinen Tag, doch
Heilig und heiter ist mir sein Ende.  
Gute Nacht!

Mittwoch, 14. Mai 2014

Selbstbefreiung durch das Wissen

von Karl Popper
Dass es so etwas wie eine absolute Wahrheit gibt, und dass wir dieser Wahrheit näher kommen können, ist die Grundüberzeugung der Aufklärungsphilosophie, im Gegensatz zum historischen Relativismus der Romantik.
Aber der Wahrheit näher zu kommen ist nicht leicht. Es gibt nur einen Weg, den Weg durch unsere Irrtümer. Nur aus unseren Irrtümern können wir lernen; und nur der wird lernen, der bereit ist, die Irrtümer anderer als Schritte zur Wahrheit zu schätzen; und der nach seinen eigenen Irrtümern sucht, um sich von ihnen zu befreien.
Die Idee der Selbstbefreiung durch das Wissen ist also nicht etwa dasselbe wie die Idee der Naturbeherrschung. Es ist vielmehr die Idee einer geistigen Selbstbefreiung vom Irrtum, vom Irrglauben. Es ist die Idee einer geistigen Selbstbefreiung durch die Kritik an den eigenen Ideen.
Wir sehen hier, dass die Aufklärung den Fanatismus und den fanatischen Glauben nicht aus bloßen Nützlichkeitsgründen verurteilt; auch nicht weil sie hofft, dass wir mit einer nüchterneren Einstellung in der Politik und im praktischen Leben besser weiterkommen. Die Verurteilung des fanatischen Glaubens ist vielmehr eine Folge der Idee einer Wahrheitssuche durch die Kritik unserer Irrtümer. Und diese Selbstkritik und Selbstbefreiung ist nur in einer pluralistischen Atmosphäre möglich, das heißt in einer offenen Gesellschaft, die unsere Irrtümer und viele andere Irrtümer toleriert.
So enthielt die Idee der Selbstbefreiung durch das Wissen, die die Aufklärung vertrat, von Anfang an auch die Idee, dass wir lernen müssen, uns von unseren eigenen Ideen zu distanzieren, statt uns mit unseren Ideen zu identifizieren. Die Erkenntnis von der geistigen Macht der Ideen führt zu der Aufgabe, uns von der geistigen Übermacht falscher Ideen zu befreien. Im Interesse der Wahrheitssuche und der Befreiung vom Irrtum müssen wir uns dazu erziehen, unsere eigenen Ideen ebenso kritisch betrachten zu können wie die Ideen, gegen die wir kämpfen.


Gute Nacht!

Mittwoch, 7. Mai 2014

Über die Dummheit

von André Glucksmann

Wie Sand am Meer gibt es sie, die Beispiele für Dummheit, täglich nehmen sie zu und bestärken uns in der Illusion, wir seien unbeteiligte Beobachter. Aber es gibt keine Dummheit, die nicht auf irgendeine Weise auch die unsere wäre, und so wird der Wunsch, sie von Grund auf zu verstehen, von der Sorge hintertrieben, sich vor ihr zu schützen. Wir versuchen Distanz zu halten, tun es aber nur jenem gleich, der vom Regen in die Traufe geriet. Auf diesem Terrain wären die ausgepichtesten Kenner der Materie Ignoranten geblieben, hätten sie sich nicht mit Leib und Seele in dubiose Kämpfe und Erniedrigungen gestürzt, aus denen sie um Haaresbreite nicht mehr herausgekommen wären. Es ist ein Akt der Vorsicht, die Dummheit dem Gegenüber anzulasten, und so hält der Franzose den Deutschen für dumm, der Linke den Rechten, und umgekehrt. Doch nur die kennen die Dummheit, die sich in Gefahr begeben, die mit ihr auf du und du sind, sich ihrem Geschwätz aussetzen, ihre Fadheit auskosten, die sich von ihr behexen lassen, die Geschmack an ihr finden.
So haben die härtesten Kritiker des Totalitarismus - Solschenizyn, Orwell, Suwarin - ihre Lichter am Feuer eines Stalinismus entzündet, in dem sie selbst einmal gebrannt haben. Wer nie betrunken war, kann das Drama der Trunksucht schwerlich begreifen. Solange ich glaube, dass Dummheit etwas Zufälliges ist, etwas, das nur den anderen zustößt, und mir nur dann, wenn ich unter Fremdeinfluss stehe, werde ich nie begreifen, wie subtil dieses Phänomen ist.
Wahrlich harte Tatsachen und Erfahrungen, aber sie aufzulisten bringt niemandem etwas ein, außer meinem eigenen Selbstbewußtsein. »Wie töricht er ist! Bin ich dumm!« Hinter diesen Feststellungen verbirgt sich ein vertrackter und versteckter Mechanismus.
Dummheit — das sind wir. Und umgekehrt. Aus diesem Kreis gibt es kein Entrinnen. Er ist teuflisch, aber er gab den Philosophen zu denken. Historische Bedeutung erhielt diese Feststellung, als Sokrates, Nummer 1 unter den Philosophen, auf den Spruch des Orakels: »Erkenne dich selbst«, die richtige Antwort fand. Mit seinem »Ich weiß, daß ich nichts weiß« fasste er eine neue Art der Selbstreflexion in Worte, undogmatisch und ohne den Ehrgeiz, mehr zu wissen als die anderen oder eine Krankheit heilen zu können, die ihm selbst gänzlich unbekannt war. »Erkenne dich selbst« fordert behutsam dazu auf: »Wisse, daß du nichts weißt«, und ergänzt: »Erkenne die Dummheit in dir«.
Dass wir versucht haben, ein Jahrhundert lang ohne Philosophie auszukommen, das heißt, ohne die Dummheit eines Blickes zu würdigen, hat uns jedenfalls nicht zu höherer Weisheit verholfen.
Schlichte Dummheit scheint es nicht zu geben, zumindest ist sie schwer zu finden. Die aufgesetzte Schlichtheit gleicht einer Maske unter vielen, in einer Pantomime, deren Mitwirkende allesamt verkleidet sind.
 
Gute Nacht!
Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...

Gesamtzahl der Seitenaufrufe