Sonntag, 24. September 2017

Über Demokratie und Vernunft

von Karl Jaspers

Die Demokratie setzt die Vernunft im Volke voraus, die sie erst hervorbringen soll. Die widervernünftige Gewalt verschwindet nicht, solange nicht alle vernünftig sind. Wenn aber die Vernunft das Volk im Stiche lässt, was dann? Man kann unterscheiden den Willen der augenblicklichen Mehrheit und den vernünftigen Grundwillen in dem dauernden Wesen des Volkes. Jener augenblickliche Wille kann irren. Die Minorität, vielleicht sehr wenige können aus jenem Grundwillen die Wahrheit vertreten. Aber in der Realität gibt es kein Organ, das Instanz jenes Grundwillens wäre. Jede Einrichtung, das Staatsoberhaupt, das kleinste Gremium, Parlament und Volksabstimmung - jede kann versagen und dem Widervernünftigen verfallen. Wir sind gebunden an reale Instanzen. In der Demokratie sind wir an Majoritäten gebunden mit der Voraussetzung, dass deren Beschlüsse in der Folge als irrig korrigiert werden können. Wenn aber der Beschluss jede Korrektur ausschließt, da er schlechthin vernichtend wirkt? Den Missbrauch der Einrichtungen der Demokratie gegen die Idee der Demokratie mit Sicherheit zu verhindern, ist keine Einrichtung fähig, sondern nur die dauernde vernünftige Gesinnung der Menschen, die jener Einrichtungen sich bedienen. 

Gute Nacht!

Montag, 18. September 2017

Der wandernde Student

von Joseph von Eichendorff
Bei dem angenehmsten Wetter
Singen alle Vögelein,
Klatscht der Regen auf die Blätter,
Sing ich so für mich allein.

Denn mein Aug kann nichts entdecken,
Wenn der Blitz auch grausam glüht,
Was im Wandern könnt erschrecken
Ein zufriedenes Gemüt.

Frei von Mammon will ich schreiten
Auf dem Feld der Wissenschaft,
Sinne ernst und nahm zu Zeiten
Einen Mund voll Rebensaft.

Bin ich müde vom Studieren,
Wann der Mond tritt sanft herfür,
Pfleg ich dann zu musizieren
Vor der Allerschönsten Tür.

Gute Nacht!

Mittwoch, 13. September 2017

Aus dem Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars

von Jean-Jacques Rousseau

Stets würde ich der Natur so nahe als möglich bleiben, um den Sinnen, die ich aus ihrer Hand empfangen habe, zu schmeicheln, da ich mich nicht gegen die Ueberzeugung zu verschließen vermag, daß ich desto wahreren Genuß finden würde, je mehr ich ihn aus der Natur schöpfte. Bei der Wahl zur Nachbildung bestimmter Gegenstände würde ich sie beständig zum Muster nehmen; bei der Befriedigung meiner Begierden würde ich ihr stets den Vorzug einräumen; in Sachen des Geschmacks würde mir stets zu Rate ziehen; von den Speisen würden mir stets diejenigen am besten gefallen, zu deren Zubereitung sie selbst das meiste beigetragen hat, und die durch die wenigsten Hände zu gehen brauchen, ehe sie auf unseren Tisch gelangen. Den Fälschungen, mit denen man uns zu täuschen sucht, würde ich vorbeugen; dem Vergnügen würde ich entgegenkommen. Meine törichte und rohe Eßlust würde keinen Haushofmeister bereichern. Er sollte mir nicht schweres Gold wie Gift wirkende Leckerbissen verkaufen.Meine Tafel sollte gewiß nicht mit dem Prunk kostbaren Schmutzes und aus weiter Ferne herbeigeschafften Aases besetzt werden. Ich würde mich zur Befriedigung meiner Sinnlichkeit keine Mühe verdrießen lassen, weil diese Mühe schon an und für sich ein Vergnügen ist und das erwartete dadurch erhöht. Gelüftete es mich nach einem Gericht vom äußersten Ende der Welt her, so würde ich lieber, wie Apicius, mich aufmachen, um es an Ort und Stelle zu genießen, als es mir kommen zu lassen; denn auch den ausgesuchtesten Speisen fehlt es stets an einer Würze, die man nicht gleichzeitig mit ihnen versenden kann und die kein Koch zu ersetzen vermag: die Luft des Klimas, welches sie hervorgebracht hat.


Gute Nacht!

Samstag, 2. September 2017

Der September

von Erich Kästner
Das ist ein Abschied mit Standarten
aus Pflaumenblau und Apfelgrün.
Goldlack und Astern flaggt der Garten,
und tausend Königskerzen glühn.

Das ist ein Abschied mit Posaunen,
mit Erntedank und Bauernball.
Kuhglockenläutend ziehn die braunen
und bunten Herden in den Stall.

Das ist ein Abschied mit Gerüchen
aus einer fast vergessenen Welt.
Mus und Gelee kocht in den Küchen.
Kartoffelfeuer qualmt im Feld.

Das ist ein Abschied mit Getümmel,
mit Huhn am Spieß und Bier im Krug.
Luftschaukeln möchten in den Himmel.
Doch sind sie wohl nicht fromm genug.

Die Stare gehen auf die Reise.
Altweibersommer weht im Wind.
Das ist ein Abschied laut und leise.
Die Karussells drehn sich im Kreise.
Und was vorüber schien, beginnt.

Gute Nacht!
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