Dienstag, 28. Oktober 2014

Dichtung — insgesamt! — ist eine Fahrt ins Unbekannte

 von Wladimir Majakowski
Dichten ist dasselbe wie Radium gewinnen.
Arbeit: ein Jahr. Ausbeute: ein Gramm.
Man verbraucht, um ein einziges Wort zu ersinnen,
Tausende Tonnen Schutt oder Schlamm.
Doch neben dem Erz, dem zerfallenden, fahlen,
brennt jenes Wort ur-elementar;
es setzt in Bewegung mit seinem Strahlen
Millionen Herzen durch tausend Jahr.
Natürlich gibt's Dichter verschiedener Sorten.
Mancher treibt nur sein Zirkuszauberspiel bunt:
zieht endlos papierene Borten von Worten
sich und anderen aus dem Mund.
Was soll ich von lyrischen Kastraten sagen?
Leih'n sich von anderen Kraft und Gefühl.
Gewöhnliche Meister im Stehlen und Unterschlagen —
Veruntreuer gibt's ja im Lande jetzt viel.
Diese heutigen Oden und Gedichte,
umbrüllt vom Jubel, vom Klatschen umkracht,
gehn einst als Spesen ein in die Geschichte
dessen, was zwei, drei von uns vollbracht.
Gute Nacht!

Sonntag, 26. Oktober 2014

Über die Zeit

von Augustinus
 
Niemals also hat es eine Zeit gegeben, wo du nicht schon etwas geschaffen hattest, weil du ja die Zeit selbst geschaffen hast. Und keine Zeit ist ewig wie du, weil du immerdar derselbe bleibst. Wenn sie aber bliebe und nicht verginge, dann wäre sie keine Zeit. Denn was ist die Zeit? Wer vermöchte dies leicht und in Kürze auseinanderzusetzen. Wer kann nun darüber etwas je sprechen, es auch nur in Gedanken umfassen? Und doch erwähnen wir nichts so häufig und nichts ist als so selbstverständlich als die Zeit. Und wir verstehen es allerdings irgendwie, wenn wir davon sprechen, noch verkennen wir es, wenn wir eine andere von ihr reden hören. Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht; mit Zuversicht jedoch kann ich wenigstens sagen, daß ich weiß, daß, wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wem nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. Jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, daß sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist? Wenn dagegen die Gegenwart immer gegenwärtig wäre und nicht in die Vergangenheit Übergänge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wem also die Gegenwart nur darum zur Zeit wird, weil sie in die Vergangenheit übergeht, wie können wir da sagen, daß sie ist und wenn sie deshalb ist, weil sie sofort nicht mehr ist; so daß wir insofern in Wahrheit nur sagen könnten, daß sie eine Zeit ist, weil sie dem Nichtsein zustrebt?

Gute Nacht!

Montag, 20. Oktober 2014

Das Leiden am sinnlosen Leben

von Viktor E. Frankl

Wir leben im Zeitalter eines um sich greifenden Sinnlosigkeitsgefühls. In diesem unserem Zeitalter muss es sich die Erziehung angelegen sein lassen, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch das Gewissen zu verfeinern, so dass der Mensch hellhörig genug ist, um die jeder einzelnen Situation innewohnende Forderung herauszuhören. In einem Zeitalter, in dem die Zehn Gebote für so viele ihre Geltung zu verlieren scheinen, muss der Mensch instand gesetzt werden, die 10000 Gebote zu vernehmen, die in den 10000 Situationen verschlüsselt sind, mit denen ihn sein Leben konfrontiert. Dann wird ihm nicht nur ebendieses sein Leben wieder sinnvoll erscheinen, sondern er selbst wird dann auch immunisiert sein gegenüber Konformismus und Totalitarismus - diesen beiden Folgeerscheinungen des existentiellen Vakuums; denn ein waches Gewissen allein macht ihn "widerstands"-fähig, so dass er sich eben nicht dem Konformismus fügt und dem Totalitarismus beugt. 

So oder so: mehr denn je ist Erziehung - Erziehung zur Verantwortung. Und verantwortlich sein heißt selektiv sein, wählerisch sein. Wir leben in einer affluent society, werden "reizüberflutet" von den mass media, und wir leben im Zeitalter der Pille. Wollen wir nicht in der Flut all dieser Reize, in einer totalen Promiskuität untergehen, dann müssen wir unterscheiden lernen, was wesentlich ist und was nicht, was Sinn hat und was nicht, was sich verantworten läßt und was nicht.
Gute Nacht!

Dienstag, 14. Oktober 2014

Chor der Geretteten

von Nelly Sachs 

Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich -
Unsere Leiber klagen noch nach
Mit ihrer verstümmelten Musik.
Wir Geretteten,
Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht
Vor uns in der blauen Luft -
Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.
Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub.
Wir Geretteten
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Laßt uns das Leben leise wieder lernen.
Es könnte sonst eines Vogels Lied,
Das Füllen des Eimers am Brunnen
Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen
Und uns wegschäumen -
Wir bitten euch:
Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund -
Es könnte sein, es könnte sein
Daß wir zu Staub zerfallen -
Vor euren Augen zerfallen in Staub.
Was hält denn unsere Webe zusammen?
Wir odemlos gewordene,
Deren Seele zu Ihm floh aus der Mitternacht
Lange bevor man unseren Leib rettete
In die Arche des Augenblicks.
Wir Geretteten,
Wir drücken eure Hand,
Wir erkennen euer Auge -
Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied,
Der Abschied im Staub
Hält uns mit euch zusammen.

Gute Nacht!

Montag, 6. Oktober 2014

Die seltsamen Methoden der fränkischen Kreuzritter

von Usama ibn Munqidh

Der Herr von Munaitira schrieb an meinen Onkel und bat ihn, einen Arzt zu
senden, der seine kranken Gefährten heilen sollte. Mein Onkel schickte ihm einen christlichen Arzt mit dem Namen Tābit. 

Nach kaum zehn Tagen kam er wieder zurück, und wir sagten zu ihm: »Du hast die Kranken ja schnell geheilt«, worauf er erzählte:»Sie führten mir einen Ritter vor, der einen Abszess am Bein hatte, und eine Frau, die an Auszehrung litt. Dem Ritter machte ich ein erweichendes Pflaster, und der Abszess öffnete und besserte sich; der Frau verschrieb ich eine Diät und führte ihrer Säftemischung Feuchtigkeit zu.
Da kam ein fränkischer Arzt daher und sagte:
»Der weiß doch überhaupt nicht, wie sie zu behandeln sind!«, wandte sich an den Ritter und fragte ihn: »Was willst du lieber: mit einem Bein leben oder mit beiden Beinen tot sein?«
Der antwortete: »Lieber mit einem Bein leben!«
Da sagte er:»Holt mir einen kräftigen Ritter und ein scharfes Beil!«

Ritter und Beil kamen, ich stand dabei. Er legte das Bein auf einen Holzblock und sagte zu dem Ritter,: »Gib dem Bein einen tüchtigen Hieb, der es abtrennt.«
Er schlug, unter meinen Augen, einmal zu, und da das Bein nicht abgetrennt war, ein zweites Mal: das Mark des Beines spritzte weg, und der Ritter starb sofort.
Hierauf untersuchte er die Frau und sagte: »Die da hat einen Dämon im Kopf, der sich in sie verliebt hat. Schert ihr die Haare!« Sie schoren sie, und sie aß wieder von ihren gewohnten Speisen, Knoblauch und Senf, wodurch ihre Auszehrung sich verschlimmerte. 

»Der Teufel steckt in ihrem Kopf!«, urteilte er, nahm ein Rasiermesser und schnitt ihr kreuzförmig über den Kopf, entfernte die Haut in der Mitte, bis der Schädelknochen freilag, und rieb ihn mit Salz ein: die Frau starb augenblicklich.
Da fragte ich:
»Habt ihr mich noch nötig?«
Sie verneinten, und ich ging weg, nachdem ich von ihrer Heilkunde gelernt hatte, was ich vorher nicht wusste.
«

Gute Nacht!

Samstag, 4. Oktober 2014

Kungfutse beim weisen Laotse

von Tschuang-Tse

Kungfutse besuchte den weisen Laotse. Eifrig legte er seine zwölf klassischen Bücher vor ihm nieder. „Ich glaube, du willst zuviel auf einmal“, sagte der Alte. „was ist der Kernpunkt deiner Lehre?“ „Ich lehre Nächstenliebe und Gerechtigkeit“, antwortete Kungfutse. „Sind dies Teile der menschlichen Natur?“ „Der Charakter eines Menschen ist nicht gut ohne Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Also sind Nächstenliebe und Gerechtigkeit ein Teil seiner Natur. Was sonst könnten sie sein?“ sagte Kungfutse beredt. Doch Laotse fragte still: „Was verstehst du unter Nächstenliebe und Gerechtigkeit?“
„Gleiches Glück allen Menschen zu bieten und alle Menschen ohne Unterschied und ungeteilt zu lieben: das ist die Essenz von Nächstenliebe und Gerechtigkeit.“
„Du redest, wie man heutzutage so redet“, sagte der Alte. „Du sagst: 'ohne Unterschied' und 'ungeteilt' und setzest damit 'geteilt' und 'Unterschied' voraus. Wer war es denn, der Unterschiede schuf und zerteilte?
Wenn du die Menschen lehren willst, ihren verlorenen Hirten wiederzufinden, erinnere dich bitte daran, dass das Universum bereits ein ungeteiltes Ganzes ist. Sonne und Mond scheinen gerecht und unterschiedslos für alle, ihre Bahn verläuft regelmäßig und am vorgezeichneten Platz. Die Tiere leben schon immer in Herden beieinander oder auch einzeln. Die Bäume wachsen an dem für sie geeigneten Ort, und niemand braucht ihnen zu sagen, wie sie es richtig und gerecht machen sollen. Warum siehst du dir nicht einfach dieses Leben (Tao) und diese Gerechtigkeit (Te) an? Du schwenkst deine Fahne von Nächstenliebe und Gerechtigkeit und verwirrst damit alles nur noch mehr. Du kommst mir vor wie ein Mann, dessen Sohn gestorben ist, und nun geht er herum und schlägt ungeduldig die Trommel in der Hoffnung, ihn dadurch wiederzufinden. Ach lehre doch lieber die Menschen, zu ihrer eigenen vollkommenen Einfachheit zurückzufinden. Das ist nämlich schon das höchste Tao.
Der Schwan ist weiß, ohne dass ihn jemand künstlich reinigt. Der Rabe ist schwarz, ohne dass ihn jemand angeschwärzt hat. Hell und Dunkel, Weiß und Schwarz, alles ist von selbst an seinem natürlichen Platz. Das ist gut. All dieses Streben der Menschen nach gutem Ruf und organisierter Gerechtigkeit ist hoffnungslos. Weißt du, an was mich das erinnert? Wenn ein Teich ausgetrocknet ist und die Fische auf dem Trockenen liegen, versuchen sie sich gegenseitig mit ihren Mäulern zu befeuchten. Aber was ihnen wirklich helfen würde, wäre einzig und allein, wenn jemand sie zurückwürfe in die Flüsse und Meere.“
Kungfutse ging nach Hause und konnte drei Monate nicht reden; in tiefes Nachdenken versunken. Dann besuchte er den Alten noch einmal. Sie saßen lange schweigend beieinander, vielleicht tranken sie Tee oder kochten sich Reis. Sie betrachteten die Pflanzen des Gartens, sahen die Sonne kommen und gehen, die Tiere aufstehen und sich schlafenlegen. Es war alles sehr still, sehr einfach und in seiner Ordnung, sehr liebevoll und sehr gerecht. Laotse lächelte, und Kungfutse sagte: „Jetzt verstehe ich es.“


Gute Nacht!
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