von Ludwig Bowitsch
Die Liebe, die Liebe ist blind!
Sie sieht nicht die Dornen im Wandern,
Sie sieht nicht die Fehler des Andern,
Die Liebe, die Liebe ist blind!
Die Liebe, die Liebe ist blind!
Sie baut nicht hinaus in die Ferne,
Sie trägt in der Brust ihre Sterne,
Die treuliche Führer ihr sind!
Die Liebe, die Liebe ist blind!
Sie preiset nur, was sie erkoren
Und merket nicht, was ihr verloren
Im Traum, der sie täuschend umspinnt!
Die Liebe, die Liebe ist blind!
Und blind nur zu sein, kann ihr taugen,
Denn öffnen dem Licht sich die Augen,
So stirbt das göttliche Kind!
Gute Nacht!
von Reiner Kunze
Mein Großvater war ein Steinkohlenbergmann, der tausend Meter tief unter der Erde arbeitete. Morgens, wenn die Sonne aufging, fuhr er ins Bergwerk ein, und abends, wenn sie unterging, fuhr er aus, sechs Tage in der Woche – vierzig Jahre lang. Einer der schönsten Augenblicke seines Lebens sei gewesen, als er nicht mehr habe einfahren müssen und an einem Wochentag plötzlich Sonne auf dem Brot gehabt habe.
Gute Nacht!
von Kurt Tucholsky
Du lernst ihn in einer Gesellschaft kennen.
Er plaudert. Er ist zu dir nett.
Er kann dir alle Tenniscracks nennen.
Er sieht gut aus. Ohne Fett.
Er tanzt ausgezeichnet. Du siehst ihn dir an ...
Dann tritt zu euch beiden dein Mann.
Und du vergleichst sie in deinem Gemüte.
Dein Mann kommt nicht gut dabei weg.
Wie er schon dasteht -- du liebe Güte!
Und hinten am Hals der Speck!
Und du denkst bei dir so: "Eigentlich ...
Der da wäre ein Mann für mich."
Ach, gnädige Frau! Hör auf einen wahren
und guten alten Papa!
Hättst du den Neuen: in ein, zwei Jahren
ständest du ebenso da!
Dann kennst du seine Nuancen beim Kosen;
dann kennst du ihn in Unterhosen;
dann wird er satt in deinem Besitze;
dann kennst du alle seine Witze.
Dann siehst du ihn in Freude und Zorn,
von oben und unten, von hinten und vorn ...
Glaub mir: wenn man uns näher kennt,
gibt sich das mit dem happy end.
Wir sind manchmal reizend, auf einer Feier ...
und den Rest des Tages ganz wie Herr Meyer.
Beurteil uns nie nach den besten Stunden.
Und hast du einen Kerl gefunden,
mit dem man einigermaßen auskommen kann:
dann bleib bei dem eigenen Mann!
Gute Nacht!
von Max Frisch
Sonderbar ist die Stille, die einen
keuchenden Kletterer auf dem Gipfel empfängt, eine Stille, die nicht auf
ihn gewartet hat, die sich nicht um seine Ankunft kümmert und ihn auf
eine unheimliche Weise fast verlegen macht, jetzt, da er sein Streben
erfüllt hat und stolz sein möchte, eine Stille, die nichts von Ehrgeiz
weiß ...
Endlich schnallt er seinen Rucksack ab.
Wie am ersten
Tag, als Gott das Licht schuf so blendet das weiße Gebirge ringsum, das
sich in den hohen und blauen Himmel zackt, so klar und scharf und spitz
wie lauter Kristalle, Gipfel neben Gipfel, so weit man schaut, wie
Gottes steile und silberne Handschrift, hingeschrieben an den glühenden
Rand dieser Welt!
Später, als er sich Stirn und Hals und Arme
eingeschmiert hat und endlich seine Sonnensalbe wieder versorgt, denkt
er vielleicht auch einen Augenblick lang an die junge Fremde, die ihn
gestern im Bach gesehen hat; aber nur einen Augenblick lang —
Es ist,
als löse sie alles Denken auf diese Stille, die über der Welt ist; man
hört nur noch sein eignes Herz, das klopft, oder mitunter den Wind, der
in den Ohrmuscheln saust. Und wenn einmal eine schwarze Dohle um die
Felsen segelt und wieder mit heiserem Schrei entschwindet, immer bleibt
diese einsame Stille zurück, die um alles Leben ist und jeden Aufschrei
verschluckt, als sei er nie gewesen, diese namenlose Stille, die
vielleicht Gott oder das Nichts ist.
Gute Nacht!