Freitag, 25. Dezember 2015

Sein Tod ist noch nicht zu Ende

von Rabindranath Tagore
Von seinem ewigen Thron kommt Christus auf die Erde hernieder, wo er vor langer Zeit im bitteren Kelch des Todes sein unsterbliches Leben für die verströmte, die seinem Rufe folgten und für die, welche fernblieben. Er blickt um sich und sieht die Waffen des Bösen, die schon seine Zeit verwundeten. Die anmaßlichen Lanzen und Speere, die spitzen hinterlistigen Dolche, die Krummsäbel in hüllender Scheide, krumm und grausam, zischen und sprühen Funken, während sie an Riesenrädern geschärft werden.
Aber die furchtbarsten von allen in den Händen der Schlächter sind die Waffen, auf denen sein Name eingegraben ist. Die nach den heiligen Texten seiner eigenen Worte im Feuer des Hasses geschmiedet und mit heuchlerischer Gier gehämmert sind.
Er presst seine Hand auf sein Herz, er fühlt, dass der jahrtausendelange Augenblick seines Todes noch nicht zu Ende ist, dass unzählige neue Nägel, die geschmiedet sind von denen, die meisterlich ihr Handwerk verstehen, ihn am ganzen Körper durchbohren. Sie hatten ihn einst verwundet im Schatten ihrer Tempelstele. Sie werden immer wieder in Scharen geboren. Vor ihren geweihten Altären stehend rufen sie: "Schlagt zu!".
Und der Menschensohn schreit in seiner Qual: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?".

Gute Nacht!

Donnerstag, 17. Dezember 2015

Die blaue Blume

von Joseph von Eichendorff
Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.

Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au'n,
Ob nirgends in der Runde
Die blaue Blume zu schaun.

Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blum geschaut.

Gute Nacht!

Sonntag, 13. Dezember 2015

Schaden und Verdienst

von Ludwig Büchner
 

Einerseits erzeugen Armut, Besitzlosigkeit und Mangel an Erziehung und Bildung die meisten Verbrechen gegen Staat und Gesellschaft, während andrerseits übertriebener Reichtum Müssiggang und allerhand Laster im Gefolge hat; wodurch Staat und Gemeinde genötigt werden, eine kostspielige Justiz mit allen ihren hässlichen Anhängseln und eine ebenso kostspielige Armenpflege zu unterhalten. In moralischer Beziehung erzeugt der allgemeine Konkurrenzkampf hässliche Leidenschaften, wie Neid, Hass, Mitleidlosigkeit, Geldgier, Hartherzigkeit, gegenseitige Verfolgungssucht statt gegenseitiger Liebe und Unterstützung. Jeder denkt und handelt nur für sich und sein eignes Interesse, weil er weiss, dass im Notfall kein anderer für ihn eintreten oder dass er an der Gesamtheit keine Stütze finden würde. In einer richtig organisierten Gesellschaft müsste der Gewinn des Einzelnen zugleich der Gewinn der Gesamtheit sein und umgekehrt, und das Motto derselben müsste heissen: »Einer für alle und alle für einen«, während jetzt in der Regel das Gegenteil stattfindet. Unsre grössten Gewinne erzielen wir durch eine der traurigsten Ursachen oder durch den Tod derjenigen, welche uns im Leben die liebsten waren, indem wir sie beerben. Der Baumeister und alle bei Bauten beschäftigten Arbeiter müssen sich freuen, wenn Häuser einstürzen oder abbrennen; die Grubenarbeiter desgleichen, wenn hunderte ihrer unglücklichen Kameraden im Dunste der Bergwerke ersticken; der Arzt muss sich freuen, wenn es viele Krankheiten gibt; der Advokat nährt sich von Prozessen, welche seinen Mitbürgern Ruhe und Vermögen rauben; der Richter muss Gefallen haben an grossen Kriminalprozessen; die Offiziere müssen sich freuen, wenn das größte Übel, welches die Menschheit betreffen kann, der Krieg ausbricht, weil sie davon Beförderung erwarten; der Familienvater muss sich freuen, wenn seine Nachkommenschaft möglichst klein bleibt, obgleich der eigentliche Zweck der Familie dabei verloren geht; der Wirt oder der Verkäufer geistiger Getränke muss sich freuen, wenn die Trunksucht, und die verlorenen Töchter des Volkes müssen sich freuen, wenn die Unzucht zunimmt; alle Handwerker und Produzenten müssen sich freuen, wenn die von ihnen erzeugten Gegenstände übermässig rasch verbraucht werden; ein Gewitter oder Hagelschlag wird trotz des durch solche Naturereignisse angerichteten Schadens von dem Glaser oder Versicherungsagenten gern gesehen; wie denn überhaupt beinahe alles, was dem einen Schaden, dem ändern Verdienst bringt.

Gute Nacht!

Sonntag, 29. November 2015

Homo Ludens

von Johan Huizinga
Die Ausnahme- und Sonderstellung des Spiels wird in bezeichnender Weise darin offenbar, dass es sich so gern mit einem Geheimnis umgibt.
Schon kleine Kinder erhöhen den Reiz ihres Spiels dadurch, dass sie eine kleine Heimlichkeit daraus machen. Das ist etwas für uns, nicht für die anderen. Was die anderen da draußen tun, geht uns eine Zeitlang nichts an. In der Sphäre eines Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung. Wir «sind» und wir «machen» es «anders».
Diese zeitweilige Aufhebung der «gewöhnlichen Welt» ist bereits im Kinderleben völlig ausgebildet, ebenso deutlich sieht man sie aber bei den großen, im Kult verankerten Spielen der Naturvölker. Während des großen Einweihungsfestes, bei dem die Jünglinge in die Männergemeinschaft aufgenommen werden, sind nicht nur sie selber von dem gewöhnlichen Gesetz und den gewöhnlichen Regeln entbunden; im ganzen Stamm ruhen die Fehden. Alle Vergeltungstaten sind vorläufig ausgesetzt. Die zeitweilige Aufhebung des gewohnten Gesellschaftslebens einer großen heiligen Spielzeit zuliebe lässt sich auch in fortgeschrittenen Kulturen noch in zahlreichen Spuren finden. Hierzu gehört alles, was mit Saturnalien und Karnevalssitten verwandt ist. Auch bei uns kannte eine Vergangenheit mit rauheren privaten Sitten, ausgeprägteren Standesprivilegien und gemütlicherer Polizei noch die saturnalische Freiheit der jungen Leute des Stammes unter dem Namen «Studentenstreiche». An englischen Universitäten lebt sie formalisiert weiter im «Ragging», das im Lexikon als «an extensive display of noisy disorderly conduct, carried out in defiance of authority and discipline» beschrieben wird.
Das Anderssein und das Geheime des Spiels findet sichtbarsten Ausdruck in der Vermummung. In dieser wird «das Außergewöhnliche» des Spiels vollkommen. Der Verkleidete oder Maskierte «spielt» ein anderes Wesen. Er «ist» ein anderes Wesen. Kinderschreck, ausgelassene Lustigkeit, heiliger Ritus und mystische Phantasie gehen in allem, was Maske und Verkleidung heißt, unauflösbar durcheinander.
Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als «nicht so gemeint» und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben.


Gute Nacht!

Sonntag, 22. November 2015

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

von Rainer Maria Rilke

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

Gute Nacht!

Montag, 16. November 2015

Tugend

von Saadi

Ich beklagte mich bei einem der Scheiche, daß jemand etwas Ungeziemendes vom mir ausgesagt habe. Er erwiderte: Beschäme ihn durch deine Tugend.
Wandle recht, so daß kein schlechter Mann
Irgend Böses von dir sagen kann.
Wenn die Zither rechte Stimmung hält,
Zieht der Spieler nicht die Saiten an.

Gute Nacht!

Donnerstag, 5. November 2015

Kennzeichen eines rechten Freundes

von Friedrich von Logau
F rei.
R edlich.
E hrlich.
U nverdrossen.
N amhaft.
D emütig.

Ein Freund, der Freund sein soll, soll sein zugleiche frei,
Dass sagen er dir darf, was dir zu sagen sei.
Ein Freund, der Freund sein soll, der soll dich redlich meinen;
Soll innen sein nicht so und so von außen scheinen.
Ein Freund, der Freund sein soll, soll ehrlich sein für sich,
Damit er nicht zugleich beschäme sich und dich.
Ein Freund, der Freund sein soll, der soll sein unverdrussen,
Dass du habst seiner so, wie deiner selbst genussen.
Ein Freund, der Freund sein soll, soll namhaft gleichwohl sein;
Dann deines Freundes Ruhm hilft deinem Namen ein.
Ein Freund, der Freund sein soll, der soll der Demut pflegen
Und deinen Pfennig dir so hoch wie seinen legen.
Wer solchen Freund bekümmt, hat keinen schlechten Freund;
Er wird nicht viel gehabt; er wird nur oft vermeint.
Gute Nacht!

Montag, 2. November 2015

Wege zum Verstehen

von Hannah Arendt

Allein die Einbildungskraft befähigt uns, Dinge in ihrer richtigen Perspektive zu sehen, das, was zu nahe ist, in eine gewisse Distanz zu rücken, sodass wir es ohne vorgefasste Meinung und Vorurteil sehen und verstehen können; sie ermöglicht es, Abgründe der Ferne zu überbrücken, bis wir alles, was zu weit von uns entfernt ist, so sehen und verstehen können, als ob es unsere eigene Angelegenheit wäre. Dieses "Distanzieren" bestimmter Dinge und das Überbrücken der Abgründe zu anderen ist Teil des Verstehens-Dialogs, für dessen Zwecke die direkte Erfahrung einen zu nahen Kontakt herstellt und das bloße Wissen künstliche Barrieren errichtet. 

Ohne diese Art von Einbildungskraft, die tatsächlich Verstehen ist, wären wir niemals in der Lage, uns in der Welt zu orientieren. Sie ist der einzige innere Kompass, den wir haben. Wir sind Zeitgenossen nur so weit, wie unser Verstehen reicht. Wenn wir auf dieser Erde zu Hause sein wollen, müssen wir sogar um den Preis des Zu-Hause-Seins-in-diesem-Jahrhundert versuchen, an dem unendlichen Dialog mit seinem Wesen teilzunehmen.

Gute Nacht!

Sonntag, 25. Oktober 2015

Telephonüberwachung

von Arnfrid Astel

Der „Verfassungsschutz“
überwacht meine Gespräche.
Mit eigenen Ohren hört er:
Ich misstraue einem Staat,
der mich bespitzelt.
Das kommt ihm verdächtig vor.

Gute Nacht!

Dienstag, 20. Oktober 2015

Furcht

von George Sand
Die Furcht ist, glaube ich, das größte moralische Leiden der Kinder. Sie zu zwingen, den Gegenstand, der ihnen Furcht einflößt, nahe zu sehen oder zu berühren, ist ein Heilmittel, mit dem ich nicht einverstanden bin. Man muss sie vielmehr davon entfernen und sie zerstreuen, denn das Nervensystem beherrscht ihre Organisation, und wenn sie ihren Irrtum erkannt haben, haben sie doch, während man sie dazu zwang, soviel Angst ausgestanden, dass sie das Gefühl der Furcht nicht wieder verlieren. Es ist zum physischen Übel geworden, das ihre Vernunft nicht mehr bewältigen kann.


Gute Nacht!

Freitag, 2. Oktober 2015

Der Waldbach rauscht Erinnerung

von Christian Morgenstern

Der Waldbach rauscht Erinnerung ...
An so viel traute Stätten meines Lebens
erinnert mich sein nächtliches Gespräch.

Und wie ich so, den Kopf vergraben, sitze,
da bricht ein Born von Tränen in mir auf
und rauscht mit ihm unhörbar durch die Nacht.

Gute Nacht!

Samstag, 26. September 2015

Moment beim Lesen

von Kurt Tucholsky

Manchmal, o glücklicher Augenblick, bist du in ein Buch so vertieft, dass du in ihm versinkst – du bist gar nicht mehr da. Herz und Lunge arbeiten, dein Körper verrichtet gleichmäßig seine innere Fabrikarbeit, – du fühlst ihn nicht. Du fühlst dich nicht. Nichts weißt du von der Welt um dich herum, du hörst nichts, du siehst nichts, du liest. Du bist im Banne eines Buches. (So möchte man gern gelesen werden.)
Doch plötzlich lässt die stählerne Bindung um eine Spur nach, das Tau, an dem du gehangen hast, senkt sich um eine Winzigkeit, die Kraft des Autors ist vielleicht ermattet, oder er hat seine Intensität verringert, weil er sie sich für eine andre Stelle aufsparen wollte, oder er hat einen schlechten Morgen gehabt . . . plötzlich lässt es nach. Das ist, wie wenn man aus einem Traum aufsteigt. Rechts und links an den Buchseiten tauchen die Konturen des Zimmers auf, noch liest du weiter, aber nur mit dreiviertel Kraft, du fühlst dumpf, dass da außerhalb des Buches noch etwas andres ist: die Welt. Noch liest du. Aber schon schiebt das Zimmer seine unsichtbaren Kräfte an das Buch, an dieser Stelle ist das Werk wehrlos, es behauptet sich nicht mehr gegen die Außenwelt, ganz leise wirst du zerstreut, du liest nun nicht mehr mit beiden Augen . . . da blickst du auf.
Guten Tag, Zimmer. Das Zimmer grinst, unhörbar. Du schämst dich ein bisschen. Und machst dich, leicht verstört, wieder an die Lektüre.
Aber so schön, wie es vorher gewesen ist, ist es nun nicht mehr – draußen klappert jemand an der Küchentür, der Straßenlärm ist wieder da, und über dir geht jemand auf und ab. Und nun ist es ein ganz gewöhnliches Buch, wie alle andern.
Wer so durchhalten könnte: zweihundert Seiten lang! Aber das kann man wohl nicht.
 
Gute Nacht!

Montag, 21. September 2015

Der gnädige Löwe

von Christian Friedrich Daniel Schubart
Der Tiere schrecklichstem Despoten
Kam unter Knochenhügeln hingewürgter Toten
Ein Trieb zur Großmut plötzlich an.
Komm, sprach der gnädige Tyrann
Zu allen Tieren, die in Scharen
Vor seiner Majestät voll Angst versammelt waren,
Komm her, beglückter Untertan,
Nimm dieses Beispiel hier von meiner Gnade an!
Seht, diese Knochen schenk ich euch! –
Dir, rief der Tiere sklavisch Reich,
Ist kein Monarch an Gnade gleich! –
Und nur ein Fuchs, der nie den Ränken
Der Schüler Machiavells geglaubt,
Brummt in den Bart: Hm, was man uns geraubt
Und bis aufs Bein verzehrt, ist leichtlich zu verschenken!
Gute Nacht!

Dienstag, 15. September 2015

Das Unsagbare

von Max Frisch

Was wichtig ist: Das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von den Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen. Unser Anliegen, das eigentliche, lässt sich bestenfalls umschreiben, und das heisst ganz wörtlich: man schreibt darum herum: Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und das Eigentliche, das Unsagbare erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen. Unser Streben geht vermutlich dahin, alles auszusprechen, was sagbar ist; die Sprache ist wie ein Meissel, der alles weghaut, was nicht Geheimnis ist und alles Sagen bedeutet ein Entfernen. Es dürfte uns insofern nicht erschrecken, dass alles, was einmal zu Wort wird, einer gewissen Leere anheim fällt. Man sagt, was nicht das Leben ist. Man sagt es um des Lebens willen. Wie der Bildhauer, wenn er den Meissel führt, arbeitet die Sprache, indem sie die Leere, das Sagbare vorantreibt gegen das Geheimnis, gegen das Lebendige. Immer besteht die Gefahr, dass man das Geheimnis zerschlägt, und ebenso die andere Gefahr, dass man vorzeitig aufhört, dass man es einen Klumpen sein lässt, dass man das Geheimnis nicht stellt, nicht fasst,nicht befreit von allem, was immer noch sagbar wäre, kurzum, dass man nicht vordringt zu seiner letzten Oberfläche.

Diese Oberfläche letztlich allen Sagbaren, die eins sein müsste mit der Oberfläche des Geheimnisses, diese stofflose Oberfläche, die es nur für den Geist gibt und nicht in der Natur, wo es auch keine Linie gibt zwischen Berg und Himmel, vielleicht ist es das, was man die Form nennt? Eine Art tönender Grenze - .


Gute Nacht!

Freitag, 4. September 2015

Ich werde fortgehen im Herbst

von Mascha Kaléko
Ich werde fortgehn im Herbst
wenn die grauen Trauerwolken
meiner Jugend mich mahnen.
Keine Fahnen werden flattern
keine Böller knattern
Krähen werden aus dem Nebel schrein
Schweigen, Schweigen, Schweigen
hüllt mich ein.
Ich werde gehen wie ich kam
Allein.

Gute Nacht!

Montag, 31. August 2015

Über die Vernunft

von Khalil Gibran

Wenn die Vernunft zu dir spricht, höre auf das, was sie sagt, und du bist gerettet. Mach guten Gebrauch von ihren Weisungen, und du bist gegen alles gewappnet. Denn der Herr hat dir keinen besseren Führer gegeben als die Vernunft und keine stärkere Waffe als die Vernunft. Wenn die Vernunft zu deinem innersten Selbst spricht, bist du gegen das Verlangen gefeit. Denn die Vernunft ist ein kluger Minister, ein verlässlicher Führer und ein weiser Ratgeber. Die Vernunft ist ein Licht in der Finsternis, ebenso wie der Zorn eine Finsternis im Licht ist. Sei klug - lass dich von der Vernunft, nicht von den Trieben leiten! Bedenke aber, dass die Vernunft, und sei sie auch an deiner Seite, nichts vermag ohne die Hilfe des Wissens. Ohne ihren Blutsbruder, das Wissen, ist die Vernunft unbehaust und arm; und Wissen ohne Vernunft ist wie ein Haus ohne Hüter. Und selbst Liebe, Gerechtigkeit und Güte vermögen wenig, wenn die Vernunft nicht auch bei ihnen ist. Der Gelehrte, dem es an Urteilskraft mangelt, gleicht einem Soldaten, der unbewaffnet in die Schlacht zieht. Seine Wut wird den reinen Quell des Lebens seiner Gemeinschaft vergiften, und er wird wie der Alkohol-Samen in einem lauteren Wassers sein. Vernunft und Bildung sind Leib und Seele. Ohne den Körper ist die Seele nichts als leerer Wind. Ohne die Seele ist der Leib nur ein sinnloses Gestell.


Gute Nacht!

Sonntag, 23. August 2015

Wie er wolle geküsset sein

von Paul Fleming
Nirgends hin, als auf den Mund:
Da sinkts in des Herzen Grund.
Nicht zu frei, nicht zu gezwungen,
Nicht mit gar zu faulen Zungen.

Nicht zu wenig, nicht zu viel:
Beides wird sonst Kinderspiel.
Nicht zu laut und nicht zu leise:
Bei der Maß' ist rechte Weise.

Nicht zu nahe, nicht zu weit:
Dies macht Kummer, jenes Leid.
Nicht zu trocken, nicht zu feuchte,
Wie Adonis Venus reichte.

Nicht zu harte, nicht zu weich,
Bald zugleich, bald nicht zugleich.
Nicht zu langsam, nicht zu schnelle,
Nicht ohn' Unterschied der Stelle.

Halb gebissen, halb gehaucht,
Halb die Lippen eingetaucht,
Nicht ohn Unterschied der Zeiten,
Mehr alleine denn bei Leuten.

Küsse nun ein jedermann,
Wie er weiß, will, soll und kann!
Ich nur und die Liebste wissen,
Wie wir uns recht sollen küssen. 
Gute Nacht!

Montag, 10. August 2015

Geduld

von Gerhard Branstner

„Das Wichtigste ist Geduld“, sagte ein Mann zu seinem Freund, als diesem ein hohes Amt übertragen worden war. Der Freund versprach, den Rat zu befolgen.
„Vergiss es nicht“, wiederholte der Mann, „das Wichtigste ist Geduld.“
Der Freund nickte zustimmend. Doch der Mann sagte
ein drittes Mal: „Das Wichtigste ist, niemals die Geduld zu verlieren.“
Da wurde der Freund ärgerlich und rief: „Hältst du mich für einen Schwachkopf? Scher dich zum Teufel mit deinem albernen Geschwätz!“
„Siehst du, jetzt hast du sie schon verloren“, sagte der Mann, „dabei habe ich dir dreimal gesagt, dass Geduld das Wichtigste ist.“

Also: Geduld braucht man vor allem dann, wenn man sie leicht verlieren kann.


Gute Nacht!

Freitag, 31. Juli 2015

Der Bär und die Krähe

von Joseph Franz Ratschky

Ein alter Bär, den die Musik
Des Jagdhorns einst aus seinem Walde jagte,
Erhohlte nach und nach sich von der Angst, und wagte
Hübsch sachte sich nach seinem Hain zurück.
Bey seiner Ankunft war die erste seiner Sorgen,
Sich nach dem Eichbaum umzusehn,
In dessen hohlem Bauch er sich beym kalten When
Des Wintersturmes oft verborgen.
Als er der Eiche nahe kam,
Entdeckt' er mit Verdruss und Gram
Auf einem Zweig ein Nest voll junger Krähen.
Du Metze! fieng er flugs die Mutter an zu schmähen,
Was hast du hier auf meinem Baum zu thun?
Fort! packe dich von dannen ohne Zaudern!
Denn deiner Fratzen stätes Plaudern
Und Zwitschern liesse mich den ganzen Tag nicht ruhn,
Und falls mich auch ihr Lärm nicht molestirte,
So müsst' ich stäts in Sorgen seyn,
Ob deine junge Brut nicht etwan obendrein
Mir auf den Kopf herab hofierte.

Der Bär schloss seine Rede kaum,
So fieng die alte Kräh' ihr Recht auf diesen Baum
Durch manchen Grund vor Meister Petzen
Weitläufig an in's Licht zu setzen.
Doch der erbosste Bär vertrug
Nicht gerne Widerspruch. Er kletterte die Eiche
Hinan mit Brummen, und erschlug
Die junge Brut mit einem Streiche.

Gespornt von Wuth und Rachbegier,
Flog Mutter Krähe nun zum Jäger, und entdeckte
Ihm das verwilderte Revier,
Wo sich der alte Bär versteckte.
Der Jäger wandert' alsobald
Mit seinen Doggen in den Wald,
Und fand den armen Petz in seines Baumes Lücke.
Vergebens sucht der Bär dem Tode zu entfliehn:
Die tapfern Hunde fassen ihn
Erbarmungslos bey der Perücke.

Vertrage dich mit jedermann,
Um niemands Hass auf dich zu laden;
Denn wer dir auch nicht nützen kann,
Kann doch in manchem Fall dir schaden.


Gute Nacht!

Mittwoch, 22. Juli 2015

"In Darwino Veritas"

von Wilhelm Busch

Sie stritten sich beim Wein herum,
Was das nun wieder wäre
Das mit dem Darwin wär gar zu dumm
Und wider die menschliche Ehre.


Sie tranken manchen Humpen aus,
Sie stolperten aus den Türen,
Sie grunzten vernehmlich und kamen zu Haus
Gekrochen auf allen vieren

Gute Nacht!

Samstag, 18. Juli 2015

Lügenmärchen

von Robert Eduard Prutz
Jüngst stieg ich einen Berg hinan,
    Was sah ich da!
Ich sah ein allerliebstes Land,
Der Wein wuchs an der Mauer,
Und dicht am Throne, rechter Hand,
Stand Bürgersmann und Bauer.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
Unterdessen nimmt michs Wunder.

Und weiter stieg ich frisch hinan,
    Was sah ich da!
Kein Leutnant war, kein Fähnrich dort
Und kein Rekrut zu sehen,
Man wußte nicht das kleinste Wort
Von stehenden Armeen.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.

Und weiter frisch den Berg hinan,
    Was sah ich da!
Das ganze liebe Land entlang,
Ins Bad und auf die Messe,
Man reiste frei und reiste frank
Und brauchte keine Pässe.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.
 
Und wiederum ein Stück hinan,
    Was sah ich da!
Ein Jeder durfte laut und frei
Von Herzen räsonniren,
Man wußte nichts von Polizei
Und nichts von Denunciren.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.

Und noch einmal den Berg hinan,
    Was sah ich da!
Die Volksvertreter, Mann für Mann,
Da ging's um Kopf und Kragen;
Doch dachte kein Minister dran,
Den Urlaub zu versagen.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
    Ganz ungenirte
    Volksdeputirte?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.

Und immer höher ging's hinan,
    Was sah ich da!
Sah Poesie und Wissenschaft
Mit Lust die Schwingen breiten,
Und die Censur war abgeschafft
In alle Ewigkeiten.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
    Ganz ungenirte
    Volksdeputirte?
    Freie Autoren
    Ohne Censoren?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.
 
Und weiter, weiter, frisch hinan,
    Was sah ich da!
Ich sah die Weisen, Hand in Hand,
Wie sie der Lüge wehrten,
Und wie für Recht und Vaterland
Mitkämpften die Gelehrten.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
    Ganz ungenirte
    Volksdeputirte?
    Freie Autoren
    Ohne Censoren?
    Die Philosophen
    Nicht hinter'm Ofen?
Unterdessen nimmt michs Wunder.
 
Und immer wieder ging's hinan,
    Was sah ich da!
Im ganzen Lande keine Spur
Von Muckern und von Frommen,
Und Niemand kann durch Beten nur
Ins Ministerium kommen.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
    Ganz ungenirte
    Volksdeputirte?
    Freie Autoren
    Ohne Censoren?
    Die Philosophen
    Nicht hinter'm Ofen?
    Kein Pietismus,
    Kein Servilismus?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.
 
Und nun zum letztenmal hinan,
    Was sah ich da!
Ein Jeder durft' auf eignem Bein
Die ew'ge Wahrheit suchen,
Kein Pfaffe durfte kreuz'ge! schrein
Und von der Kanzel fluchen.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
    Ganz ungenirte
    Volksdeputirte?
    Freie Autoren
    Ohne Censoren?
    Die Philosophen
    Nicht hinter'm Ofen?
    Kein Pietismus,
    Kein Servilismus?
    Sanfte Theologen –

    Das ist gelogen!

Unterdessen nimmt mich's Wunder.
Gute Nacht!

Montag, 13. Juli 2015

Von der Kürze des Lebens

von Seneca

Ihr lebt, als würdet ihr immer leben; niemals werdet ihr eurer Gebrechlichkeit euch bewusst; ihr habt nicht acht darauf, wieviel Zeit bereits vorüber ist; ihr verschwendet sie, als wäre sie unerschöpflich, während inzwischen gerade der Tag, der irgend einem Menschen oder einer Sache zuliebe hingegeben wird, vielleicht der letzte ist. Ihr fürchtet alles, als wäret ihr nur sterblich; ihr begehrt alles, als wäret ihr auch unsterblich. Wie oft vernimmt man die Äußerung: "Mit dem fünfzigsten Jahre begebe ich mich in den Ruhestand, mit dem sechzigsten mach' ich mich frei von aller amtlichen Tätigkeit." Und wer leistet die Bürgschaft für ein längeres Leben? Wer soll den Dingen gerade den Lauf geben, den du ihnen bestimmst? Schämst du dich nicht, nur den Rest deines Lebens für dich zu behalten und dir für dein geistiges Wohl nur diejenige Zeit vorzubehalten, die sich zu nichts mehr verwenden lässt? Welche Verspätung, mit dem Leben anzufangen, wenn man aufhören muss! Was für eine Torheit, was für ein gedankenloses Übersehen der Sterblichkeit, auf das fünfzigste und sechzigste Jahr alle Heilspläne hinauszuschieben und es sich in den Kopf zu setzen, das Leben zu beginnen an dem Punkte, bis zu dem es nur wenige bringen.


Gute Nacht!

Freitag, 3. Juli 2015

Deutschstunde

von Helmut Lamprecht
"Was will der Dichter damit sagen?"
pflegte unser Studienrat zu fragen.
Meist war er mit unseren Antworten so unzufrieden,
dass wir uns fragten,
warum die Dichter nicht gleich das sagten,
was sie gar nicht sagen wollten.
Gute Nacht!

Donnerstag, 25. Juni 2015

Über den Ehrgeiz

von Yoshida Kenkô
 

Wer mit seinen Kenntnissen prunkt und sich ehrgeizig in einen Wettstreit mit anderen einlässt, der ist wie gehörntes Vieh, das seine Hörner zum Kampfe senkt oder wie ein scharfzähniges Tier, das seine Zähne weißt.
Für einen Menschen aber ziemt es sich, mit seinen Fähigkeiten nie zu prahlen oder darin mit anderen zu wetteifern. Es ist überdies etwas sehr Übles, andere übertreffen zu wollen.
Wenn Leute von hohem Rang, großem Talent oder mit berühmten Ahnen glauben, sie seien aus diesem Grunde anderen überlegen, so begehen sie, mögen sie ihre Überzeugung auch nicht offen äußern, in ihrem Herzen einen schweren Irrtum. Sie sollten sich eher bemühen, sich zu beherrschen und ihre Vorzüge zu vergessen, denn gerade diese Überheblichkeit sieht töricht aus, bewirkt, dass die Mitmenschen allerlei beanstanden und fordert das Unglück heraus.
Ein Mann, der sein Fach wirklich versteht, ist sich seiner Mängel selber deutlich bewusst und aus diesem Grunde nie mit sich selbst zufrieden. Er wird sich seiner Fähigkeiten niemals rühmen. Verfügt ein bejahrter Mann auf irgendeinem Gebiet über bedeutendes Wissen und fragen sich seine Zeitgenossen besorgt, wen sie nach seinem Tod wohl um Rat angehen könnten, so darf er sich wohl sagen, er lebe, gewissermaßen zur Rechtfertigung aller seiner Altersgenossen, nicht umsonst. Aber es erscheint mir doch etwas kläglich, wenn er sich wie in seiner Jugendzeit immer weiter abmüht und sich nicht die geringste Muße gönnt. Er sollte eher dann und wann sagen: "Ich habe das ganz vergessen".
Bietet jedoch einer, der die allermeisten Dinge dieser Welt gut kennt, sein Wissen jedermann ohne Zögern an, so urteilen die Leute meist, mit seinen Fähigkeiten sei es wohl gar nicht so weit her und es könnte ja auch sein, dass er sich einmal irre. Fügt er jedoch bescheiden hinzu, so genau wisse er es freilich nicht, so sind die Zuhörer meist sofort überzeugt, dass er in seinem Fach ein Meister sei. Spricht er aber auch über Dinge, die er nicht versteht, mit solch kämpferischer Überheblichkeit, dass niemand einen Widerspruch wagt, so ist es sehr jämmerlich, weil die Zuhörer gefügig weiterlauschen, obgleich sie ihm gar nicht glauben.


Gute Nacht!

Mittwoch, 17. Juni 2015

Nur zwei Dinge

von Gottfried Benn
Durch so viele Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage-
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Gute Nacht!

Montag, 8. Juni 2015

Auf der Schulbank

von Albrecht Goes

"Den bösen Tag nimm auch für gut": es kann nicht gemeint sein, dass wir uns in eine unwahrhaftige Schönfärberei, in einen Glückskrampf hineinschwingen sollen - das Schwere ist schwer, und das Rätselvolle bleibt rätselvoll, und Tränen sind erlaubt; nur dies ist gemeint: begreif: du sitzt nicht im Zeugnisconvent, sondern - auf der Schulbank.
Auf der Schulbank - und das heißt: es geht weiter. Du wirst dein Heute nicht ohne dein Gestern leben können, du wirst in deinem Heute mit deinem Gestern leben. Aber weil es weitergeht, wird in jedem Tag auch etwas vom Erstaunen sein, als erführst du's zum erstenmal - und in jedem auch etwas wie Anlass zur Dankbarkeit, wie man im Abschiednehmen dankt, und es ist ja auch Abschied: denn diesen Tag, ja - diesen Tag lebst du zum letztenmal.


Gute Nacht!

Freitag, 29. Mai 2015

Ich bringe eine Botschaft

von Günter Kunert
1
Ich bringe eine Botschaft,
Und die heißt: Keine Sicherheit. Der auf Frieden
Hofft wie auf das Stillestehen der Zeit,
Ist ein Narr. Wohl: Die Waffen ruhen
Ein wenig, und die Toten der letzten Schlachten
Ruhen ein wenig, doch
Die Lebenden ruhen nicht.
 
2
Der im stahltapezierten Felsenzimmer
Die Raketen richtet
Auf die Brust seines Kameraden drüben, auf
Dessen Mutter und Stadt und Feld und Land, muß
Wissen, daß
Auf der anderen Seite die gleichen Ziele
Anvisiert werden: Sicherheit
Findet sich im Nirgendwo. Nicht getroffen
Von dem alles verheerenden Schuß
Werden einzig die Generationen, die vorher
Ins Nichts sich begaben.
 
3
Mit bleichen Gesichtern
Durchblättern am frühen Morgen die Städter
In den rollenden Zügen die Zeitungen hastig:
Wie steht der Kampf
In der brennenden Dschungeln von Laos,
Auf der anderen Seite des Erdballs?
Mühselig buchstabierend lesen sie die Namen
Äußerst fremder Orte und Generäle, die
Sie gleichgültig ließen, ahnten sie nicht:
Ihnen
Erwächst Gefahr.
 
4
Durch die noch stillen Wälder ziehen sich
Panzergräben
Auf den Landkarten erst, doch wer durch die Wälder
Geht, spüret
Schon einen Hauch.
 
5
Tödlichem Gas gleich
Wallt über uns die Gewohnheit: wem es nichts
Ausmacht,
Mit einem Bein im Grabe zu stehen, wird bald
Mit beiden drin liegen.
 
6
Auf einem Vulkan läßt sich leben, besagt
Eine Inschrift im zerstörten Pompeji.
 
7
Und die Bürger der vom Meere geschluckten
Ortschaft Vineta
Bauten für ihr Geld Kirchen, deren Glocken
Noch heute mancher zu hören vermeint, statt
Einen schützenden Deich.
 
8
Der ich ähnlich vielen, wenig
Neigung verspüre
Mein Dasein fortzuführen
Als unterseeisches Geläute, als mehr oder
Weniger klassische Inschrift,
Bringe nur eine kurze Botschaft: Keine Sicherheit
Heißt sie.
 
9
Solange die Zerstörung einträglicher ist
Denn Aufbauen, und
Solange
Nicht Abgeschafft sind,
Derer die Einträglichkeit ist, solange
Wird vielleicht hin und wieder sein: Ein wenig
Ruhe. Sicherheit
Keine.

Gute Nacht!

Sonntag, 24. Mai 2015

Über die Glückseligkeit

von Immanuel Kant
Es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d.i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist. Nun ist's unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, u.s.w. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde. Man kann also nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Ratschlägen, z.B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung u.s.w., von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern.


Gute Nacht!

Sonntag, 17. Mai 2015

Eigenliebe

von Voltaire
Ein Bettler in der Umgebung von Madrid bat würdevoll um Almosen. Ein Passant sagte zu ihm: "Schämen Sie sich nicht, diesem schmachvollen Gewerbe nachzugehen, wo Sie doch arbeiten können?" - "Mein Herr", erwiderte der Bettler, "ich bitte Sie um Geld und nicht um Ratschläge." Dann wand er ihm den Rücken zu, seine kastilische Würde wahrend.
Dieser Mann war ein stolzer Bettler. Seine Eitelkeit wurde durch eine Kleinigkeit verletzt, er bettelte aus Eigenliebe und duldete nicht, dass ein anderer ihm aus Eigenliebe Vorwürfe machte.
Ein Missionar begegnete auf seiner Reise durch Indien einem mit Ketten beladenen Fakir, der nackt wie ein Affe auf dem Bauch lag und sich für die Sünden seiner indischen Landsleute peitschen liess, die ihm ein paar kleine Münzen schenkten.
"Welche Selbstverleugnung!" sagte ein Zuschauer.
"Selbstverleugnung?" entgegnete der Fakir. "Lassen sie sich sagen, dass ich mich auf dieser Welt nur prügeln lasse, um es ihnen in der anderen heimzuzahlen, wenn sie das Pferd sind und ich der Reiter!"
Diejenigen, die gesagt haben, die Eigenliebe sei die Grundlage all unseres Fühlens und Handelns, haben also in Indien, in Spanien und auf der ganzen bewohnbaren Erde durchaus recht gehabt. Wie man nicht schreibt, um den Menschen zu beweisen, dass sie ein Gesicht haben, so braucht man ihnen auch nicht zu beweisen, dass sie sich von Eigenliebe leiten lassen.
Diese Eigenliebe dient unserer Selbsterhaltung. Insofern gleicht sie dem Fortpflanzungsorgan: auch dieses ist unentbehrlich, ist uns lieb und wert, bereitet uns Freude. Und wir müssen es verstecken!


Gute Nacht!

Freitag, 8. Mai 2015

schtzngrmm

von Ernst Jandl
schtzngrmm
schtzngrmm
t-t-t-t
t-t-t-t
grrrmmmmm
t-t-t-t
s------c------h
tzngrmm
tzngrmm
tzngrmm
grrrmmmmm
schtzn
schtzn
t-t-t-t
t-t-t-t
schtzngrmm
schtzngrmm
tssssssssssssssssssss
grrt
grrrrrt
grrrrrrrrrt
scht
scht
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
tzngrmm
tzngrmm
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
scht
scht
scht
scht
grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
t-tt
Gute Nacht!

Dienstag, 5. Mai 2015

Beziehungen

von Arthur Schnitzler

In den Beziehungen zwischen Menschen gibt es so wenig einen Stillstand wie im Leben des einzelnen. Es gibt Beginn, Entwicklung, Höhepunkt, Abstieg und Ende, und gerade so wie beim Individuum selbst Erkrankungen der verschiedensten Art: Unpässlichkeiten, angeborene Krankheiten, Erschöpfungszustände, Alterserscheinungen; - und auch an Hypochondrien fehlt es keineswegs. Manche Beziehungen gehen schon an Kinderkrankheiten zugrunde; auch solche, die durch Sorgfalt, gute Pflege, kurz, durch eine vernünftige Hygiene erhalten werden können; andere schwinden in der Blüte ihrer Jahre durch interkurrente Krankheiten dahin, andere wieder sterben früher oder später an konstitutionellen Leiden, die selten rechtzeitig diagnostiziert wurden; einige altern rasch, andere langsam, manche sind scheintot und können durch Geduld, durch Anwendung der richtigen Mittel, durch guten Willen wieder zum Leben erweckt werden. Aber auch darin gleichen die menschlichen Beziehungen den Menschen selbst, dass nur wenige sich in das Unvermeidliche fügen, Wissen, Leiden und Alter mit Würde tragen und in Schönheit sterben.


Gute Nacht!

Freitag, 24. April 2015

Angst im Dunkeln

von Robert Walser

Die Eltern prägen den Kindern die fürchterliche Angst vor dem Dunkel ein und schicken dann zur Strafe die Unartigen in stille, schwarze Kammern. Da greift nun das Kind im Dunkel, im dicken Dunkel und stößt nur auf Dunkel. Des Kindes Angst und das Dunkel kommen ganz gut miteinander aus, aber nicht das Kind mit der Angst. Das Kind hat soviel Talent, Angst zu haben, daß die Angst immer größer wird. Sie bemächtigt sich des kleinen Kindes, denn sie ist etwas so Großes, Dickes, Schweratmendes; das Kind würde zum Beispiel gern schreien wollen, aber es wagt es nicht. Dieses Nicht-Wagen vergrößert noch seine Angst; denn etwas Furchtbares muß da sein, wenn man nicht einmal vor Angst Angstschreie ausstoßen darf. Das Kind glaubt, jemand horche im Dunkel. Wie schwermütig einen das macht, sich solch ein armes Kind vorzustellen. Wie die armen Öhrchen sich anstrengen, ein Geräusch zu erhorchen: nur den tausendsten Teil eines Geräuschleins. Nichts hören ist viel angstvoller als etwas hören, wenn man schon einmal im Dunkel steht und hinhorcht. Überhaupt schon: hinhorchen und beinahe das eigene Horchen hören. Das Kind hört nicht auf, zu hören. Manchmal horcht es, und manchmal hört es nur, denn das Kind weiß zu unterscheiden in seiner namenlosen Angst. Wenn man sagt: hören, so wird eigentlich etwas gehört, aber wenn man sagt: horchen, so horcht man vergeblich, man hört nichts, man möchte hören. Horchen ist Sache des Kindes, das in eine dunkle Kammer eingesperrt wird, zur Strafe für Unarten. Denke man sich jetzt, daß jemand herankäme, leise, fürchterlich leise. Nein, das lieber nicht denken. Lieber das nicht denken. Derjenige, der das denkt, stirbt mit dem Kinde vor Schreck. So zarte Seelen haben Kinder, und solchen Seelen solche Schrecknisse zudenken! Eltern, Eltern, stecket nie eure unartigen Kinder in dunkle Kammern, wenn ihr sie vorher gelehrt habt, Angst vor dem sonst so lieben, lieben Dunkel zu empfinden.


Und trotzdem: Gute Nacht!

Freitag, 17. April 2015

Das Hungerlied

von Georg Weerth

Verehrter Herr und König,
Weißt du die schlimme Geschicht?
Am Montag aßen wir wenig,
Und am Dienstag aßen wir nicht.

Und am Mittwoch mußten wir darben,
Und am Donnerstag litten wir Not;
Und ach, am Freitag starben
Wir fast den Hungertod!

Drum laß am Samstag backen
Das Brot, fein säuberlich -
Sonst werden wir sonntags packen
Und fressen, o König, dich!

Gute Nacht!

Freitag, 10. April 2015

Vom Begehren

von Thomas Hobbes

Nach der Ordnung der Natur geht die Wahrnehmung dem Begehren voraus. Denn ob das, was wir sehen, angenehm sein wird oder nicht, läßt sich nur auf Grund von Erfahrung, d.h. durch Wahrnehmung, wissen. Daher pflegt man zu sagen, das Unbekannte reize uns nicht. Indessen kann es eine Begierde, etwas Unbekanntes kennen zu lernen, geben. Sie erklärt, dass kleine Kinder nur wenig begehren, größere Kinder mehr und Unbekanntes versuchen und mit fortschreitendem und gereiftem Alter die Menschen, besonders die Gelehrten, unzählige, auch nicht notwendige Dinge kennen zu lernen streben. Und was sie als angenehm erprobt haben, begehren sie späterhin wiederholt, von der Erinnerung getrieben. Bisweilen wird auch etwas, was beim ersten Kennenlernen unangenehm ist, wenn es nur selten oder neu gewesen ist, durch die Gewohnheit nicht mehr als unangenehm, später sogar als angenehm empfunden. So großen Einfluss hat die Gewohnheit auf die Sinnesänderung einzelner Menschen.

Gute Nacht!

Sonntag, 5. April 2015

Im Ei

von Günter Grass

Wir leben im Ei.
Die Innenseite der Schale
haben wir mit unanständigen Zeichnungen
und den Vornamen unserer Feinde bekritzelt.
Wir werden bebrütet.

Wer uns auch brütet,
unseren Bleistift brütet er mit.
Ausgeschlüpft eines Tages,
werden wir uns sofort
ein Bildnis des Brütenden machen.

Wir nehmen an, dass wir gebrütet werden. /
Wir stellen uns ein gutmütiges Geflügel vor /
und schreiben Schulaufsätze
über Farbe und Rasse
der uns brütenden Henne.

Wann schlüpfen wir aus?
Unsere Propheten im Ei
streiten sich für mittelmäßige Bezahlung
über die Dauer der Brutzeit.
Sie nehmen einen Tag X an.

Aus Langeweile und echtem Bedürfnis
haben wir Brutkästen erfunden.
Wir sorgen uns sehr um unseren Nachwuchs im Ei.
Gerne würden wir jener, die über uns wacht
unser Patent empfehlen.

Wir aber haben ein Dach überm Kopf.
Senile Küken,
Embryos mit Sprachkenntnissen
reden den ganzen Tag
und besprechen noch ihre Träume.

Und wenn wir nun nicht gebrütet werden?
Wenn diese Schale niemals ein Loch bekommt?
Wenn unser Horizont nur der Horizont
unser Kritzeleien ist und auch bleiben wird?
Wir hoffen, dass wir gebrütet werden.

Wenn wir auch nur noch vom Brüten reden,
bleibt doch zu befürchten, dass jemand,
außerhalb unserer Schale, Hunger verspürt,
uns in die Pfanne haut und mit Salz bestreut.-
Was machen wir dann, ihr Brüder im Ei?

Gute Nacht!

Sonntag, 29. März 2015

Über die Lebensführung

von Dag Hammarskjöld

In jedem Augenblick wählst du dein Selbst. Aber wählst du – dich selbst? Körper und Seele haben tausend Möglichkeiten, aus denen du viele Ichs bauen kannst. Doch nur eines von ihnen ergibt die Kongruenz zwischen dem, der wählte, und dem Gewählten.
Nur eines – und du findest es erst, wenn du alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hast, alles neugierige Tasten, verlockt von Staunen und Begehren, zu seicht und flüchtig, um Halt zu finden im Erlebnis des höchsten Mysteriums des Lebens: dem Wissen um das anvertraute Pfund, das „du“ bist.
Ist das Leben arm? Ist nicht vielmehr deine Hand zu klein, sind deine Augenlinsen nicht zu trübe? Du bist es, der wachsen muss.
Den Rahmen unseres Schicksals dürfen wir nicht wählen. Des Rahmens Inhalt aber geben wir.
Wer das Abenteuer sucht, wird Abenteuer haben – nach dem Maß seines
Muts. Wer das Opfer sucht, der wird geopfert – nach dem Maß seiner Reinheit.


Gute Nacht!

Montag, 23. März 2015

Der Kuckuck

von Christian Fürchtegott Gellert

Der Kuckuck sprach mit einem Star,
Der aus der Stadt entflohen war.
»Was spricht man«, fing er an zu schreien,
»Was spricht man in der Stadt von unsern Melodeien?
Was spricht man von der Nachtigall?« –
»Die ganze Stadt lobt ihre Lieder.« –
»Und von der Lerche?« rief er wieder. –
»Die halbe Stadt lobt ihrer Stimme Schall.« –
»Und von der Amsel?« fuhr er fort. –
»Auch diese lobt man hier und dort.« –
»Ich muß dich doch noch etwas fragen:
Was«, rief er, »spricht man denn von mir?« –
»Das«, sprach der Star, »das weiß ich nicht zu sagen;
Denn keine Seele red't von dir.« –
»So will ich«, fuhr er fort, »mich an dem Undank rächen
Und ewig von mir selber sprechen.«

Gute Nacht!

Samstag, 14. März 2015

Geschichtschreibung

von Theodor Fontane

»Bei hellem Tageslichte
Hab' ich es anders gesehn.«
»Gewiß. Geschichten und Geschichte
Wachsen und wechseln schon im Entstehn!«

Gute Nacht!

Sonntag, 8. März 2015

Ein Traum

von Luise Rinser 

Ein Mensch, jung, betritt einen Laden. Er fragt den Verkäufer: „Was verkaufen Sie?“. Die Antwort: „Alles, was Sie wünschen.“ „Ja, dann“, sagt der junge Mensch, „dann möchte ich das Ende aller Kriege und dass kein Kind mehr verhungert und dass die Menschen miteinander reden statt sich totzuschlagen und dass mehr Freude ist und ...“
Der Verkäufer sagt: „Aber wir verkaufen keine Früchte, nur Samen“.


Gute Nacht!

Montag, 2. März 2015

Woran man zweifeln kann

von René Descartes

Schon vor Jahren bemerkte ich, wie viel Falsches ich von Jugend auf als wahr hingenommen habe, und wie zweifelhaft alles sei, was ich später darauf gründete; darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben von Grund auf alles umstürzen und ganz von vorne anfangen, wenn ich je irgend etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften aufstellen wolle. Dies schien mir aber eine ungeheure Aufgabe zu sein, und so wartete ich jenes reife, für wissenschaftliche Untersuchungen angemessenste Alter ab.
Darum habe ich so lange gezögert, daß ich jetzt eine Schuld auf mich laden würde, wenn ich die Zeit, die mir zum Handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte.
Das trifft sich nun sehr günstig. Mein Geist ist von allen Sorgen frei, und ich habe mir eine ruhige Muße verschafft. So ziehe ich mich in die Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller meiner Meinungen unternehmen.
Dazu wird es indessen nicht nötig sein, daß ich von allen die Falschheit nachweise; dies könnte ich vielleicht niemals erreichen! Vielmehr rät uns schon die Vernunft, bei Ansichten, die nicht durchaus gewiß und unzweifelhaft sind, uns ebenso sorgfältig der Zustimmung zu enthalten, als bei solchen, die ganz sicher falsch sind, und so wird es, um alle von uns abzuweisen, genügen, daß ich in jeder einzelnen einen Grund zum Zweifeln finde. Auch braucht man sie darum nicht einzeln durchzugehen; das wäre eine endlose Arbeit! Vielmehr werde ich – da ja bei Untergrabung der Fundamente alles, was darauf gebaut ist, von selbst zusammenstürzt – sogleich die Grundlagen selbst angreifen, auf die alles sich stützte, was ich früher für wahr hielt.
Alles nämlich, was ich bis heute für das Allerwahrste hingenommen habe, empfing ich unmittelbar oder mittelbar von den Sinnen; diese aber habe ich bisweilen auf Täuschungen ertappt, und es ist eine Klugheitsregel, niemals denen volles Vertrauen zu schenken, die uns auch nur ein einziges Mal getäuscht haben.
Indessen, wenn uns auch die Sinne zuweilen über kleine und ferner liegende Gegenstände täuschen, so ist doch vielleicht das meiste andere derart, daß ein Zweifel ganz unmöglich ist, wiewohl es auch aus den Sinnen herrührt, so z. B. die Wahrnehmung, daß ich hier bin, am Ofen sitze, meinen Winterrock anhabe, dies Papier hier mit den Händen berühre u. dgl. Wie könnte ich leugnen, daß diese Hände, dieser ganze Körper mein sind? – ich müßte mich denn mit gewissen Verrückten vergleichen, deren Gehirn ein hartnäckiger melancholischer Dunst so schwächt, daß sie unbeirrt versichern, sie seien Könige, während sie gänzlich arm sind, oder sie tragen Purpur, während sie nackt sind, oder sie hätten einen Kopf von Thon oder seien ganz Kürbisse oder seien aus Glas geblasen. Allein das sind Wahnsinnige, und ich würde ebenso verrückt erscheinen, wenn ich auf mich anwenden wollte, was von ihnen gilt.
Trefflich fürwahr! Bin ich denn nicht ein Mensch, der nachts zu schlafen pflegt und dann alles das, und oft noch viel Unglaublicheres im Traume erlebt, wie jene im Wachen? Wie oft aber erst glaube ich nachts im Traume ganz Gewöhnliches zu erleben; ich glaube hier zu sein, den Rock anzuhaben und am Ofen zu sitzen – und dabei liege ich entkleidet im Bette!
Jetzt aber schaue ich sicherlich mit ganz wachen Augen auf dies Papier. Dies Haupt, das ich bewege, ist nicht vom Schlafe befangen. Mit Überlegung und Bewußtsein strecke ich diese Hand aus und habe Empfindungen dabei. So deutlich würde ich nichts im Schlafe erleben!
Ja, aber erinnere ich mich denn nicht, daß ich auch schon von ähnlichen Gedanken in Träumen getäuscht worden bin? – Während ich aufmerksamer hierüber nachdenke, wird mir ganz klar, daß ich nie durch sichere Merkmale den Schlaf vom Wachen unterscheiden kann, und dies macht mich so stutzig, daß ich gerade dadurch fast in der Meinung bestärkt werde, daß ich schlafe.
Wohlan denn! Ich schlafe, und unwahr sollen alle jene Einzelheiten sein: daß ich die Augen öffne, den Kopf bewege, die Hände ausstrecke, ja sogar, daß ich solche Hände, solch einen Körper habe! Gleichwohl aber müssen wir gestehen, daß uns im Schlafe gleichsam gewisse Malereien erschienen, die nur nach dem Vorbilde wirklicher Dinge gebildet werden konnten, und daß darum wenigstens Augen, Kopf, Hände und der ganze Körper, als Dinge überhaupt nicht in der Einbildung, sondern in Wirklichkeit existieren. Denn es können ja selbst die Maler nicht einmal dann, wenn sie Sirenen und Satyrisken in den allerungewöhnlichsten Gestalten darzustellen suchen, diesen in jeder Beziehung neue Eigentümlichkeiten beilegen; sie verbinden vielmehr lediglich Glieder verschiedener Geschöpfe beliebig miteinander. Ja, selbst wenn sie sich vielleicht etwas so Neues ausdenken, daß man überhaupt nie Ähnliches gesehen hat, also etwas völlig Erdichtetes und Unwirkliches, so müssen doch sicherlich mindestens die Farben wirklich sein, mit denen sie dasselbe darstellen. Wenngleich daher auch Augen, Kopf, Hände und ähnliches, selbst als Dinge überhaupt, bloße Vorstellungen sein könnten, so muß man doch aus ganz demselben Grunde wie oben anerkennen, daß notwendigerweise wenigstens irgend etwas Anderes noch Einfacheres und Allgemeineres wirklich sein müsse, aus dem – gleich wie oben aus den wirklichen Farben – alle jene wahren oder falschen Bilder von Dingen gebildet werden, die in unserem Denken vorhanden sind. Solcher Art scheinen zu sein das Wesen des Körpers im allgemeinen und seine Ausdehnung, desgleichen die Gestalt der ausgedehnten Dinge, ferner die Quantität oder ihre Größe, und die Zahl; ebenso der Ort, wo sie sind, die Zeit, während der sie bestehen und Ähnliches.
Somit könnten wir hieraus wohl nicht mit Unrecht schließen, daß die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle andere Wissenschaften, die von der Betrachtung der zusammengesetzten Körper abhängen, zwar ungewiß seien, während hingegen die Arithmetik, Geometrie und andere der Art, die lediglich die einfachsten und allgemeinsten Dinge behandeln, und sich wenig darum kümmern, ob dieselben in Wirklichkeit da sind oder nicht, etwas Sicheres und Unzweifelhaftes enthalten; denn ob ich nun schlafe oder wache: zwei und drei geben zusammen fünf, und das Quadrat hat nicht mehr als vier Seiten. Es scheint unmöglich, daß so offenbare Wahrheiten in den Verdacht der Falschheit geraten könnten.


Gute Nacht!

Donnerstag, 26. Februar 2015

Die Worte des Wahns

 von Friedrich Schiller
Drei Worte hört man, bedeutungschwer,
    Im Munde der Guten und Besten.
Sie schallen vergeblich, ihr Klang ist leer,
    Sie können nicht helfen und trösten.
Verscherzt ist dem Menschen des Lebens Frucht,
So lang er die Schatten zu haschen sucht.

So lang er glaubt an die goldene Zeit,
    Wo das Rechte, das Gute wird siegen -
Das Rechte, das Gute führt ewig Streit,
    Nie wird der Feind ihm erliegen,
Und erstickst du ihn nicht in den Lüften frei,
Stets wächst ihm die Kraft auf der Erde neu.

So lang er glaubt, daß das buhlende Glück
    Sich dem Edeln vereinigen werde -
Dem Schlechten folgt es mit Liebesblick;
    Nicht dem Guten gehöret die Erde,
Er ist ein Fremdling, er wandert aus
Und suchet ein unvergänglich Haus.

So lang er glaubt, daß dem ird'schen Verstand
    Die Wahrheit je wird erscheinen -
Ihren Schleier hebt keine sterbliche Hand;
    Wir können nur rathen und meinen.
Du kerkerst den Geist in ein tönend Wort,
Doch der freie wandelt im Sturme fort.

Drum, edle Seele, entreiß dich dem Wahn
    Und den himmlischen Glauben bewahre!
Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,
    Es ist dennoch das Schöne, das Wahre!
Es ist nicht draußen, da sucht es der Thor;
Es ist in dir, du bringst es ewig hervor.

Gute Nacht!

Sonntag, 22. Februar 2015

Was ist Liebe?

von Erich Fromm 

Kann man Liebe haben? Wenn man das könnte, wäre Liebe ein Ding, eine Substanz, mithin etwas, was man haben und besitzen kann. Die Wahrheit ist, dass es kein solches Ding wie "Liebe" gibt. "Liebe" ist eine Abstraktion; vielleicht eine Göttin oder ein fremdes Wesen, obwohl niemand je diese Göttin gesehen hat. In Wirklichkeit gibt es nur den Akt des Liebens. Lieben ist ein produktives Tätigsein, es impliziert, für jemanden (oder etwas) zu sorgen, ihn zu kennen, auf ihn einzugehen, ihn zu bestätigen, sich an ihm zu erfreuen - sei es ein Mensch, ein Baum, ein Bild, eine Idee. Es bedeutet, ihn (sie, es) zum Leben zu erwecken, seine Lebendigkeit zu steigern. Es ist ein Prozess, der einen erneuert und wachsen lässt. Wird Liebe aber in der Weise des Habens erlebt, so bedeutet dies, das Objekt, das man "liebt", einzuschränken, gefangen zu nehmen oder zu kontrollieren. Eine solche Liebe ist erwürgend, lähmend, erstickend, tötend statt belebend. Was als Liebe bezeichnet wird, ist meist ein Missbrauch des Wortes, um zu verschleiern, dass in Wirklichkeit nicht geliebt wird.


Gute Nacht!

Dienstag, 17. Februar 2015

Von Katzen

von Theodor Storm
Vergangnen Maitag brachte meine Katze
Zur Welt sechs allerliebste kleine Kätzchen,
Maikätzchen,alle weiß mit schwarzen Schwänzchen.
Fürwahr, es war ein zierlich Wochenbettchen!
Die Köchin aber, Köchinnen sind grausam,
Und Menschlichkeit wächst nicht in einer Küche -
Die wollte von den sechsen fünf ertränken,
Fünf weiße, schwarzgeschwänzte Maienkätzchen
Ermorden wollte dies verruchte Weib.
Ich half ihr heim! - Der Himmel segne
Mir meine Menschlichkeit! Die lieben Kätzchen,
Sie wuchsen auf und schritten binnen kurzem
Erhobnen Schwanzes über Hof und Herd;
Ja, wie die Köchin auch ingrimmig drein sah,
Sie wuchsen auf, und nachts vor ihrem Fenster
Probierten sie die allerliebsten Stimmchen.
Ich aber, wie ich sie so wachsen sahe,
ich preis mich selbst und meine Menschlichkeit. -
Ein Jahr ist um, und Katzen sind die Kätzchen,
Und Maitag ist's! - Wie soll ich es beschreiben,
Das Schauspiel, das sich jetzt vor mir entfaltet!
Mein ganzes Haus, vom Keller bis zum Giebel,
Ein jeder Winkel ist ein Wochenbettchen!
Hier liegt das eine, dort das andre Kätzchen,
In Schränken, Körben, unter Tisch und Treppen,
Die Alte gar - nein, es ist unaussprechlich,
Liegt in der Köchin jungfräulichem Bette!
Und jede, von den sieben Katzen
Hat sieben, denkt euch! sieben junge Kätzchen,
Maikätzchen, alle weiß mit schwarzem Schwänzchen!
Die Köchin rast, ich kann der blinden Wut
Nicht Schranken setzen dieses Frauenzimmers;
Ersäufen will sie alle neunundvierzig!
Mir selber, ach, mir läuft der Kopf davon -
O Menschlichkeit, wie soll ich dich bewahren!
Was fang ich an mit sechsundfünfzig Katzen!

Gute Nacht!

Dienstag, 10. Februar 2015

Genuss und Leiden

von Arthur Schopenhauer 

Alle Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus nie positiv. Es ist nicht eine ursprünglich und von selbst auf uns kommende Beglückung, sondern muß immer die Befriedigung eines Wunsches seyn. Denn Wunsch, d. h. Mangel, ist die vorhergehende Bedingung jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der Genuss auf. Daher kann die Befriedigung oder Beglückung nie mehr seyn, als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Noth: denn dahin gehört nicht nur jedes wirkliche, offenbare Leiden, sondern auch jeder Wunsch, dessen Importunität unsere Ruhe stört, ja sogar auch die ertödtende Langeweile, die uns das Daseyn zur Last macht. – Nun aber ist es so schwer, irgend etwas zu erreichen und durchzusetzen: jedem Vorhaben stehen Schwierigkeiten und Bemühungen ohne Ende entgegen, und bei jedem Schritt häufen sich die Hindernisse. Wann aber endlich Alles überwunden und erlangt ist, so kann doch nie etwas Anderes gewonnen seyn, als daß man von irgend einem Leiden, oder einem Wunsche, befreit ist, folglich nur sich so befindet, wie vor dessen Eintritt. – Unmittelbar gegeben ist uns immer nur der Mangel, d. h. der Schmerz. Die Befriedigung aber und den Genuss können wir nur mittelbar erkennen, durch Erinnerung an das vorhergegangene Leiden und Entbehren, welches bei seinem Eintritt aufhörte. Daher kommt es, daß wir der Güter und Vortheile, die wir wirklich besitzen, gar nicht recht inne werden, noch sie schätzen, sondern nicht anders meynen, als eben es müsse so seyn: denn sie beglücken immer nur negativ, Leiden abhaltend. Erst nachdem wir sie verloren haben, wird uns ihr Werth fühlbar: denn der Mangel, das Entbehren, das Leiden ist das Positive, sich unmittelbar Ankündigende. Daher auch freut uns die Erinnerung überstandener Noth, Krankheit, Mangel u.dgl., weil solche das einzige Mittel die gegenwärtigen Güter zu genießen ist. Auch ist nicht zu leugnen, daß in dieser Hinsicht und auf diesem Standpunkt des Egoismus, der die Form des Lebenwollens ist, der Anblick oder die Schilderung fremder Leiden uns auf eben jenem Wege Befriedigung und Genuss giebt.


Gute Nacht!

Freitag, 6. Februar 2015

Gestern

von Günter Bruno Fuchs

Jestern
kam eena klingeln
von Tür zu
Tür. Hat nuscht
jesagt. Kein
Ton. Hat so schräg
sein Kopf
jehalten, war
still. Hat nuscht
jesagt,
als wenn der
von jestern
war
und nur mal
rinnkieken wollte,
wies sich so
lebt.

Gute Nacht!

Dienstag, 3. Februar 2015

Die Wärmflasche

von Klabund


Ich leide an kalten Füßen. Ob dieses Gebrechen in meinen verkrüppelten Zehen seinen Ursprung hat, weiß ich nicht. Um es des Nachts zu beheben, bedarf es einer Wärmflasche, die meinen Füßen die lästige Kälte entzieht und sie mit wohliger Wärme wie mit dicker Wolle umhüllt. Leicht sinke ich in tönende Träume. Ich wandle auf heißem Wüstensande. Die Palmen stehen wie Staubwedel am Wege. Kamele trotten, schwer beladen mit Datteln und Feigen, durch meinen dämmernden Blick. Araber in weißem Burnus, silberbeschlagene Pistolen und Gewehre schwenkend, galoppieren auf edlen Pferden an mir vorüber. Auf Gebetteppichen knien die Gläubigen, die Blicke fromm nach Mekka gewandt. 
Neckische Mädchen, völlig nackt, werfen Perlen schwarzer Blicke nach mir. Die Sonne steht hoch. Die Hitze wird immer unerträglicher. Alle Dinge haben ihren Schatten verloren. Auch der meine ist wie ein dünner Quell im Wüstensand versickert. Der Schweiß bricht mir aus der Stirn. Meine Sohlen brennen. Sandflöhe beißen sich zwischen meine verkrüppelten Zehen fest. Mit Mühe und Not erreiche ich die schützende Oase. Bäume fächeln plötzlich Kühlung, tausend Schatten laufen ding- und ursachlos über den Weg, und herrlich er wünscht rieselt ein lauwarmer Bach mir über meine nackten Füße... denn die Wärmflasche ist ausgelaufen. Ich liege in einem nassen Bett, und auf das Dienstmädchen fluchend, die den Verschluß der Wärmflasche zu lose angeschraubt, halb schon wieder in sanftem Schlaf, beginne ich vom Eismeer zu träumen.

Gute Nacht!

Dienstag, 27. Januar 2015

Selbstlosigkeit

von Marc Aurel

Mancher, der jemandem eine Gefälligkeit erwiesen hat, ist sogleich bei der Hand, sie ihm in Rechnung zu stellen; ein anderer ist zwar dazu nicht sogleich bereit, denkt sich aber doch denselben in anderer Hinsicht als seinen Schuldner, und hat den geleisteten Dienst immer in Gedanken. Ein dritter dagegen weiß gewissermaßen nicht einmal, was er geleistet hat; er ist dem Weinstocke gleich, der Trauben trägt und nichts weiter will, zufrieden, daß er seine Frucht gegeben hat. Wie ein Pferd, das dahin rennt, ein Hund nach der Jagd, und eine Biene, die ihren Honig bereitet: so der Mensch, der Gutes getan hat; er posaunt es nicht aus, sondern schreitet zu einem andern guten Werke, wie der Weinstock sich berankt, um zu seiner Zeit wieder Trauben zu tragen. Man soll also denjenigen sich anschließen, die hierin gewissermaßen ohne Überlegung handeln? Allerdings. Aber, sprichst du, man muß doch wissen, was man tut, und einem geselligen Wesen ist es ja, wie's heißt, eigentümlich zu wissen, daß es zum Nutzen der Gesellschaft wirkt, und bei Gott! auch zu wollen, daß sein Mitgenosse das empfinde. Wohl wahr, was du da sagst; aber du verstehst den Sinn meiner Worte nicht recht und wirst deshalb zur Klasse derjenigen gehören, deren ich zuvor gedacht habe; denn sie lassen sich durch einen gewissen Schein von Vernunftmäßigkeit irreführen. Willst du hingegen den wahren Sinn meiner Äußerung erfassen, so fürchte nicht, darüber irgendeine gemeinnützige Handlung zu unterlassen.

Gute Nacht!
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