Samstag, 31. Dezember 2016

Mitternacht naht

von Fernando Pessoa
Mitternacht naht, und die Stille hebt an,
Überall
In den verschiednen Stockwerken des Lebens …
Im dritten Stockwerk verstummt das Klavier …
Im zweiten Stock ist kein Schritt mehr zu hören …
Im Erdgeschoss schweigt das Radio …

Alles geht schlafen …

Ich bleibe allein mit dem ganzen Weltall.
Ich will nicht ans Fenster gehen:
Wenn ich hinausschaue, soviele Sterne!
Welch großes Schweigen dort oben!
Lieber lausche ich einsam,
mit dem Wunsche, nicht einsam zu sein,
ruhelos auf die Straßengeräusche …
Ein Auto - zu schnell! -
Doppelschritte, gesprächsvertieft …

Alles geht schlafen …

Ich allein wache und lausche schläfrig
und hoffe
auf irgend etwas, bevor der Schlaf kommt …

Auf irgend etwas …
Gute Nacht!

Freitag, 23. Dezember 2016

Was ist die Zeit?

von Gottfried Honnefelder

"Was ist die Zeit? Wenn mich jemand darüber fragte, weiß ich es. Wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht." sagt Augustinus.
Der Mensch lebt in der Zeit, und er weiß dies; darum kann er nach ihr fragen, und vermag doch keine rechte Antwort auf seine Frage zu finden. Er glaubt sich Herr seiner Zeit und ist ihr doch unterworfen, steht ihr gegenüber und ist zugleich in sie verstrickt. Er lebt nie anders als im Vorgriff auf die Zukunft, neue Welten entwerfend, und er kann dies nur kraft eines Rückgriffs auf die Vergangenheit - und sei es in der Weise des Protests. Die Zeit ist der Raum seiner Freiheit, die Geschichte ihr Resultat, deshalb lebt er nie anders als in der Geschichte. Aus ihr kommt er, sie gibt ihm Herkunft, Name, Rolle, in ihr bewegt er sich, ob er sie nun verneint oder bejaht, sie führt er fort, indem er sie bewahrt oder verwirft.
Sein Verhältnis zur Zeit gewinnt der Mensch aber erst durch Bilder und Sprache. Sie erlauben ihm, Vergangenes festzuhalten, Erfahrungen nicht nur zu machen, sondern auch weiterzugeben, Traditionen zu bilden, Geschichte und Geschichten zu erzählen. Sie befähigen ihn, das Gegenwärtige zu deuten und ermöglicht ihm zugleich, fiktive Welten zu erschaffen, Utopien zu entwerfen und sich selbst in anderen Entwürfen zu sehen.
Dies alles vermag Sprache, weil sie in der Folge ihrer Zeichen selbstgestaltete Zeit ist.


Gute Nacht!

Montag, 19. Dezember 2016

Nutzholz

von Liselotte Rauner
Wir schlagen die Wälder
Tag für Tag
und treffen uns selber
mit jedem Schlag
Was aufrecht grüne Kronen trägt
gefällt entlaubt geschält zersägt
wird Nutzholz - wird Papier
und darauf schreiben wir
Gedichte über Bäume
damit die nach uns kommen erfahren
wie wunderbar die Wälder waren

Gute Nacht!

Montag, 12. Dezember 2016

Der Aufbruch

von Franz Kafka

Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitest du, Herr?" „Ich weiß es nicht", sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen." „Du kennst also dein Ziel?" fragte er. „Ja", antwortete ich, „ich sagte es doch: ,Weg-von-hier`, das ist mein Ziel." „Du hast keinen Eßvorrat mit", sagte er. „Ich brauche keinen", sagte ich, „die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.

Gute Nacht!

Samstag, 3. Dezember 2016

Nacht um Nacht

von Max Dauthendey

Der Mond zieht hinterm Schiff einher,
Er wird des Abends Herr im Meer,
Begleitet Nacht um Nacht die Fahrt.

Ich hab’ ihm forschend nachgestarrt,
Ich fragte ihn: „Wohin so spät?“
- Auch er weiß nicht, wohin es geht.

Gute Nacht!

Freitag, 25. November 2016

Natur und Erkenntnis

von Hugo von Hofmannsthal

Es ist ganz gleich, ob ein Garten klein oder groß ist. Was die Möglichkeiten seiner Schönheit betrifft, so ist seine Ausdehnung so gleichgültig, wie es gleichgültig ist, ob ein Bild groß oder klein, ob ein Gedicht zehn oder hundert Zeilen lang ist. Die Möglichkeiten der Schönheit, die sich in einem Raum von fünfzehn Schritt im Geviert, umgeben von vier Mauern, entfalten können, sind einfach unmeßbar. Es können im Hof eines Bauernhauses eine alte Linde und ein gekrümmter Nußbaum beisammenstehen und zwischen ihnen im Rasen durch eine Rinne aus glänzenden Steinen das Wasser aus dem Brunnentrog ablaufen, und es kann ein Anblick sein, der durchs Auge hindurch die Seele so ausfüllt wie kein Claude Lorrain. Ein einziger alter Ahorn adelt einen ganzen Garten, eine einzige majestätische Buche, eine einzige riesige Kastanie, die die halbe Nacht in ihrer Krone trägt. Aber es müssen nicht große Bäume sein, sowenig, als auf einem Bild ein dunkelglühendes Rot oder ein prangendes Gelb auch nur an einer Stelle vorkommen muß. Hier wie dort hängt die Schönheit nicht an irgendeiner Materie, sondern an den nicht auszuschöpfenden Kombinationen der Materie. Die Japaner machen eine Welt von Schönheit mit der Art, wie sie ein paar ungleiche Steine in einen samtgrünen, dicken Rasen legen, mit den Kurven, wie sie einen kleinen kristallhellen Wasserlauf sich biegen lassen, mit der Kraft des Rhythmus, wie sie ein paar Sträucher, wie sie einen Strauch und einen zwerghaften Baum gegeneinanderstellen, und das alles in einem offenen Garten von soviel Bodenfläche wie eines unserer Zimmer. Aber von dieser Feinfühligkeit sind wir noch weltenweit, unsere Augen, unsere Hände (auch unsere Seele, denn was wahrhaft in der Seele ist, das ist auch in den Händen); immerhin kommen wir allmählich wieder dorthin zurück, wo unsere Großväter waren, oder mindestens unsere naiveren Urgroßväter: die Harmonie der Dinge zu fühlen, aus denen ein Garten zusammengesetzt ist: daß sie untereinander harmonisch sind, daß sie einander etwas zu sagen haben, daß in ihrem Miteinanderleben eine Seele ist, so wie die Worte des Gedichtes und die Farben des Bildes einander anglühen, eines das andere schwingen und leben machen.

Gute Nacht!

Freitag, 18. November 2016

Kopfschütteln

von Arnfrid Astel
Immer schneller zwischen den
streitenden Eheleuten hin
und her sehe ich, so
entsteht das Kopfschütteln.

Gute Nacht!

Samstag, 5. November 2016

Über die Sprache

von Konfuzius

Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist.
Ist das, was gesagt wird, nicht das was gemeint ist, so kommen keine guten Werke zustande.
Kommen keine guten Werke zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht.
Gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft das Recht nicht.
Trifft das Recht nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen.
Also dulde man keine Willkürlichkeit in den Worten.
Das ist es, worauf es ankommt.


Gute Nacht!

Donnerstag, 27. Oktober 2016

Vom Schenken

von Wilhelm Busch

Die erste alte Tante sprach:
»Wir müssen nun auch dran denken,
Was wir zu ihrem Namenstag
Dem guten Sophiechen schenken.«
 

Drauf sprach die zweite Tante kühn:
»Ich schlage vor, wir entscheiden
Uns für ein Kleid in Erbsengrün,
Das mag Sophiechen nicht leiden.«
 

Der dritten Tante war das recht:
»Ja«, sprach sie, »mit gelben Ranken!
Ich weiß, sie ärgert sich nicht schlecht
Und muß sich auch noch bedanken.

Gute Nacht!

Sonntag, 23. Oktober 2016

An meinen Sohn Johannes

von Matthias Claudius 

Gold und Silber habe ich nicht;
was ich aber habe, gebe ich dir.

Lieber Johannes!
Die Zeit kömmt allgemach heran, dass ich den Weg gehen muss, den man nicht wieder kömmt. Ich kann dich nicht mitnehmen und lasse dich in einer Welt zurück, wo guter Rat nicht überflüssig ist.
Niemand ist weise von Mutterleibe an; Zeit und Erfahrung lehren hier und fegen die Tenne.
Ich habe die Welt länger gesehen als du.
Es ist nicht alles Gold, lieber Sohn, was glänzet, und ich habe manchen Stern vom Himmel fallen und manchen Stab, auf den man sich verließ, brechen sehen.
Darum will ich dir einigen Rat geben und dir sagen, was ich funden habe und was die Zeit mich gelehret hat.
Es ist nichts groß, was nicht gut ist; und nichts wahr, was nicht bestehet.
Der Mensch ist hier nicht zu Hause, und er geht hier nicht von ungefähr in dem schlechten Rock umher. Denn siehe nur, alle andre Dinge hier mit und neben ihm sind und gehen dahin, ohne es zu wissen; der Mensch ist sich bewusst und wie eine hohe bleibende Wand, an der die Schatten vorüber gehen. Alle Dinge mit und neben ihm gehen dahin, einer fremden Willkür und Macht unterworfen, er ist sich selbst anvertraut und trägt sein Leben in seiner Hand.
Und es ist nicht für ihn gleichgültig, ob er rechts oder links gehe.
Lass dir nicht weismachen, dass er sich raten könne und selbst seinen Weg wisse.
Diese Welt ist für ihn zu wenig, und die unsichtbare siehet er nicht und kennet sie nicht.
Spare dir denn vergebliche Mühe, und dir kein Leid, und besinne dich dein.
Halte dich zu gut, Böses zu tun.
Hänge dein Herz an kein vergänglich Ding.
Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, lieber Sohn, sondern wir müssen uns nach ihr richten.
Was du sehen kannst, das siehe, und brauche deine Augen, und über das Unsichtbare und Ewige halte dich an Gottes Wort.
Bleibe der Religion deiner Väter getreu und hasse die theologischen Kannengießer.
Scheue niemand so viel als dich selbst. Inwendig in uns wohnet der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme uns mehr gelegen ist als an dem Beifall der ganzen Welt und der Weisheit der Griechen und Ägypter. Nimm es dir vor, Sohn, nicht wider seine Stimme zu tun; und was du sinnest und vorhast, schlage zuvor an deine Stirne und frage ihn um Rat. Er spricht anfangs nur leise und stammelt wie ein unschuldiges Kind doch wenn du seine Unschuld ehrst, löset er gemach seine Zunge und wird dir vernehmlicher sprechen.
Lerne gerne von andern, und wo von Weisheit, Menschenglück, Licht, Freiheit, Tugend etc. geredet wird, da höre fleißig zu. Doch traue nicht flugs und allerdings, denn die Wolken haben nicht alle Wasser, und es gibt mancherlei Weise. Sie meinen auch, dass sie die Sache hätten, wenn sie davon reden können und davon reden. Das ist aber nicht, Sohn. Man hat darum die Sache nicht, dass man davon reden kann und davon redet. Worte sind nur Worte, und wo sie so gar leicht und behände dahin fahren, da sei auf deiner Hut, denn die Pferde, die den Wagen mit Gütern hinter sich haben, gehen langsameren Schritts.
Erwarte nichts vom Treiben und den Treibern; und wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbass.
Wenn dich jemand will Weisheit lehren, da siehe in sein Angesicht. Dünket er sich hoch, und sei er noch so gelehrt und noch so berühmt, lass ihn und gehe seiner Kundschaft müßig. Was einer nicht hat, das kann er auch nicht geben. Und der ist nicht frei, der da will tun können, was er will, sondern der ist frei, der da wollen kann, was er tun soll. Und der ist nicht weise, der sich dünket, dass er wisse; sondern der ist weise, der seiner Unwissenheit inne geworden und durch die Sache des Dünkels genesen ist.
 
Gute Nacht!

Samstag, 15. Oktober 2016

Verhaltenes Schmerzen

von Justinus Kerner 

Könnt' ich mit meinem Gram
Mich in mich selbst versenken,
An was der Tod mir nahm,
Mit stiller Wehmut denken!

Könnt' in Waldeinsamkeit
Ich ein Einsiedler fliehen,
Dann würd' das herbe Leid
Mich minder heiß durchglühen.

Das laute Menschenwort,
So lieb und gut gemeinet,
Lockt mich wohl aus mir fort,
Das Auge nicht mehr weinet,

Doch tiefer brennt die Glut
Indes mir still im Herzen.
Nicht schmerzlicher was tut,
Als ein verhaltnes Schmerzen.

Gute Nacht!

Sonntag, 9. Oktober 2016

Über die allgemeine Erkenntnis des Menschen

von Blaise Pascal

Die erste Sache, die sich dem Menschen bei einer Selbstbetrachtung darbietet, ist sein Körper, das heißt eine gewisse Masse Materie, die ihm eigen ist. Um aber zu begreifen, was sie sei, muß er sie vergleichen mit allem, was über, und mit allem, was unter ihm ist, damit er seine rechten Grenzen erkenne.

Er bleibe doch nicht dabei stehen, einfach die Gegenstände zu betrachten, welche ihn umgeben; er betrachte die ganze Natur in ihrer ganzen erhabenen Majestät; er beschaue jenes glänzende Licht, welches gleich einer ewigen Fackel das Universum erleuchtet; die Erde erscheine ihm wie ein Punkt, gegenüber dem weiten Umkreis, den dieses Gestirn beschreibt; und er möge darüber erstaunen, daß dieser weite Umkreis selbst nur ein verschwindender Punkt ist gegenüber dem, den die Sterne, die im Firmamente dahinrollen, umfassen.

Wenn aber hier unser Denken stillsteht, so möge die Phantasie weiterschweifen. Sie wird weit eher ermüden auszumalen, als die Natur, Farben darzureichen. Alles, was wir von der Welt sehen, ist nur eine unmerkliche Spur in dem weiten Busen der Natur. Keine Idee reicht an die Ausdehnung ihrer Räume. Wir haben unsere Begriffe gut aufgeblasen, wir schaffen doch nur Atome gegenüber den wirklichen Dingen. Es ist eine unendliche Sphäre, deren Zentrum überall, deren Peripherie nirgends ist. Endlich ist es eins der größten deutlichen Kennzeichen der Allmacht Gottes, daß unsere Phantasie sich in diesem Gedanken verliert.

In sich zurückgekehrt, betrachte der Mensch, was er ist im Verhältnis zu dem, was ist; er erkenne sich als verirrt in diesem abgelegenen Bezirk der Natur; und darnach, wie ihm dieser kleine Kerker, in welchem er wohnt, das heißt diese sichtbare Welt erscheint, lerne er die Erde, die Königreiche, die Städte, sich selbst, seinen wahren Wert schätzen.
[...]
Der Mensch ist nur ein sehr schwaches Rohr der Natur; aber er ist ein denkendes Rohr. Das ganze Universum braucht sich nicht zu bewaffnen, ihn zu zermalmen. Etwas Dampf, ein Tropfen Wasser genügt, ihn zu töten. Aber wenn das Universum ihn auch zermalmt, der Mensch ist doch viel edler als das, was ihn tötet, denn er weiß, dass er stirbt; welchen Vorzug das Universum auch vor ihm hat, das Universum weiß nichts davon. Also besteht all unsere Würde in dem Gedanken.

Daran müssen wir uns wieder aufrichten, nicht am Raum noch an der Dauer. Sorgen wir also dafür, gut zu denken. Das ist das Prinzip der Moral!


Gute Nacht!

Donnerstag, 29. September 2016

Volkslied

von Joachim Ringelnatz

Wenn ich zwei Vöglein wär,
Und auch vier Flügel hätt,
Flög die eine Hälfte zu dir.
Und die andere, die ging auch zu Bett,
Aber hier zu Haus bei mir.

Wenn ich einen Flügel hätt
Und gar kein Vöglein wär,
Verkaufte ich ihn dir
Und kaufte mir dafür ein Klavier.

Wenn ich kein Flügel wär
(Linker Flügel beim Militär)
Und auch keinen Vogel hätt,
Flög ich zu dir.
Da 's aber nicht kann sein,
Bleib ich im eignen Bett
Allein zu zwei'n.

Gute Nacht!

Montag, 12. September 2016

Das Zeitdorf

von Kurt Tucholsky

In jeder kleinen Stadt sitzt einer und hat sie bis zum Hals herauf satt. Ah – die ewig gleichen Häuser, der Marktplatz, die dummen Hunde – die ewig gleichen Menschen, die Enge, die zu nahe Vertrautheit mit allen – und wenn Sie wüßten, wie ich mich sehne, einmal herauszukommen ... ! Wir haben hier in Messenthien so gar keine Anregungen ... Ein trübes Dorf. Paris! London! Sie ahnen nicht, wie beschränkt die Menschen hier sind ... Hinaus! Hinaus –!
In jeder Zeit sitzt einer und hat sie bis zum Hals herauf satt. Ah – die ewig gleichen Schlagworte, der Gemeinplatz, die dummen Bilder – die ewig gleichen Zeitgenossen, die Enge, die zu nahe Vertrautheit mit allen – und wenn Sie wüßten, wie ich mich sehne, einmal herauszukommen ... ! Wir haben hier im Jahre 1926 so gar keine Anregung ... Eine trübe Zeit. Renaissance! Das Jahr 2000! Sie ahnen nicht, wie beschränkt die Menschen von heute sind ... Hinaus! Hinaus!
Reisen bildet.
Es kommt freilich nicht darauf an, wo man seine Koffer hinträgt; es kommt darauf an, was man nach Hause bringt – im Kopf. Manche reisen durch die ganze Welt und kommen eine Kleinigkeit dümmer heim als der Nachtwächter von Messenthien. Ich kannte einen Kaufmann, der stak lange in Indien – seinem Intellekt nach hätte ich ihm kaum Magdeburg zugetraut.
Aber freilich erwarten die meisten Leute vom Draußen mehr, als da anzutreffen ist; und wenn nicht die Bewegung der Reise wäre, das Fremdsein, da bliebe nicht viel. »Es ist schön«, spricht der Weise, »die Dinge zu schauen – es ist schrecklich, sie zu sein.« Und man möchte ja nicht gleich überall wohnen. Denn wohnt man, so tauchen auf einmal alle Bekannten der kleinen Stadt wieder auf: die Ehrgeizige und der Dreigroschen-Mussolini – der Nachtwächter der Kunst und der Straßenreiniger der Zensur ... alle Vögel sind schon da. Und fluchtartig ergreift der Fremde erneut den Regenschirm.
Alles das gibt's auch in der Zeit. Wir sind eingefangen in der Zeit wie in einem kleinen Nest – umlauert, beklatscht, alle Welt kennt sich und rückt einem unangenehm nahe auf den Leib – da gibt's keine Flucht. Es ist manchmal, um aus der Zeit zu fahren.
Und wohin führen wir dann? In die Zeitfremde.
Wir müßten erst die Sprache der andern Epoche lernen – auch mit dem reinsten Deutsch des Jahres 1926 käme man in dem Berlin von 1805 nicht weit. Fremd ständen wir herum, wären erheitert und erschüttert, begeistert und beglückt, ermüdet und gelangweilt, wie auf einer Reise. Und wären wir akklimatisiert, sehnten wir uns fort, in eine andere Zeit.
Aber gäbe es das, so fiele vielleicht eins fort: der Größenwahn, den jede Epoche ihr eigen nennt. Die Welt ist erfüllt von Kleinstädtern der Zeit, von Leuten, die nie aus ihrer Zeit herausgekommen sind, die nichts andres gesehen haben als ihre kümmerlichen siebzig Jahre. Reisebeschreibungen haben sie ja gelesen, also Geschichtsbücher – aber das allein tut's nicht. Wie gut täte ihnen, sich einmal den Zeitwind um die Nase wehen zu lassen – Was sähen sie?
Sie sähen, wie andre Zeiten andre Sitten gebären – wie andre Zeiten andre Ideale haben, wie grade das, was ihnen selbstverständlich ist, es zu andrer Zeit nicht war – und da nur und ausschließlich das Selbstverständliche, das, worüber keiner mehr spricht, charakteristisch für einen Menschen ist, so kämen sie vielleicht gewandelt, durcheinandergeschüttelt, weiser zurück. Sie sagten nicht mehr: Das ist so! Sondern sie sagten: Ja, das ist heute so ... ! Aber sie sähen noch ein andres.
Sie sähen auf einmal, wie wenig die Bedeutung der Personen und der Sachen dem Aufwand an Radau entspricht, der stets vollführt wird, sie werden sich vorkommen, wie ein Fremder, der aus Versehen in einen Verwandtschaftskrach hineingeraten ist. »Oh!« denkt er sich. Und: »Warum schreien nur alle diese Leute so entsetzlich –?«


Gute Nacht!

Samstag, 3. September 2016

Ausgleichende Gerechtigkeit

von Mascha Kaléko
Die Strafe, die ich oft verdient,
Gestehen wir es offen:
Ist sonderbarerweise nie
Ganz pünktlich eingetroffen.

Der Lohn, der mir so sicher war
Nach menschlichem Ermessen,
Der wurde leider offenbar
Vom Himmel auch vergessen.

Doch Unglück, das ich nie bedacht,
Glück, das ich nie erhofft –
Sie kamen beide über Nacht.
So irrt der Mensch sich oft.

Gute Nacht!

Samstag, 20. August 2016

Schwere Träume

von Ludwig Uhland

Das war mir eine schwere Nacht,
Das war ein Traum von langer Dauer;
Welch weiten Weg hab ich gemacht
Durch alle Schrecken, alle Schauer!

Der Traum, er führt’ mich an der Hand,
Wie den Äneas die Sibylle,
Durch ein avernisch dunkles Land,
Durch aller Schreckgestalten Fülle.

Was hilft es, daß die Glocke rief
Und mich geweckt zum goldnen Tage,
Wenn ich im Innern heimlich tief
Solch eine Hölle in mir trage?

Gute Nacht!

Montag, 15. August 2016

Über das Alter

von Max Frisch

Niemand will wissen, was ihm im Alter bevorsteht.
Wir sehen es zwar aus nächster Nähe täglich, aber um uns selbst zu schonen, machen wir aus dem Altern ein Tabu: der Gezeichnete selber soll verschweigen, wie widerlich das Alter ist.
Das Gebot, das Alter zu ehren, stammt aus Epochen, als hohes Alter eine Ausnahme darstellte. Wird heute ein alter Mensch gepriesen, so immer durch Attest, dass er verhältnismäßig noch jung sei, geradezu noch jugendlich.
Unser Respekt beruht immer auf einem Noch („noch unermüdlich“, „noch heute eine Erscheinung“, „durchaus noch beweglich in seinem Geist“). Unser Respekt gilt in Wahrheit nie dem Alter, sondern ausdrücklich dem Gegenteil: dass jemand trotz seiner Jahre noch nicht senil sei.


Gute Nacht!

Donnerstag, 11. August 2016

Kalender 1913

von Erich Mühsam 

Januar:
Der Reiche klappt den Pelz empor,
und mollig glüht das Ofenrohr.
Der Arme klebt, daß er nicht frier,
sein Fenster zu mit Packpapier.
 
Februar:
Im Fasching schaut der reiche Mann
sich gern ein armes Mädchen an.
Wie zärtlich oft die Liebe war,
wird im November offenbar.
 

März:
Im Jahre achtundvierzig schien
die neue Zeit hinaufzuziehn.
Ihr, meine Zeitgenossen wißt,
daß heut noch nicht mal Vormärz ist.
 

April:
Wer Diplomate werden will,
nehm sich ein Muster am April.
Aus heiterm Blau bricht der Orkan,
und niemand hat`s nachher getan.
 

Mai:
Der Revoluzzer fühlt sich stark.
Der Reichen Vorschrift ist ihm Quark.
Er feiert stolz den ersten Mai.
(Doch fragt er erst die Polizei.)
 

Juni:
Mit Weib und Kind in die Natur
zur Heilungs-, Stärkungs-, Badekur.
Doch wer da wandert bettelarm,
Den fleppt der würdige Gendarm.
 

Juli:
Wie so ein Schwimmbad doch erfrischt,
wenn`s glühend heiß vom Himmel zischt!
Dem Vaterland dient der Soldat,
kloppt Griffe noch bei dreißig Grad.
 

August:
Wie arg es zugeht auf der Welt,
wird auf Kongressen festgestellt.
Man trinkt, man tanzt, man redet froh,
und alles bleibt beim status quo.
 

September:
Vorüber ist die Ferienzeit.
Der Lehrer hält den Stock bereit.
Ein Kind sah Berg und Wasserfall,
das andre nur den Schweinestall.
 

Oktober:
Zum Herbstmanöver rücken an
der Landwehr- und Reservemann.
Es drückt der Helm, es schmerzt das Bein.
O welche Lust, Soldat zu sein!
 

November:
Der Tag wird kurz. Die Kälte droht.
Da tun die warmen Kleider not.
Ach, wärmte doch der Pfandschein so
wie der versetzte Paletot!
 

Dezember:
Nun teilt der gute Nikolaus
die schönen Weihnachtsgaben aus.
Das arme Kind hat sie gemacht,
dem reichen werden sie gebracht.

Gute Nacht!

Sonntag, 7. August 2016

Vom Entstehen der Persönlichkeit

von Hermann Hesse

Es ist immer schwer, geboren zu werden. Sie wissen, der Vogel hat Mühe, aus dem Ei zu kommen. Denken Sie zurück und fragen Sie: war der Weg denn so schwer? nur schwer? War er nicht auch schön? Hätten Sie einen schöneren, einen leichteren gewußt?... man muß seinen Traum finden, dann wird der Weg leicht. Aber es gibt keinen immerwährenden Traum, jeden löst ein neuer ab, und keinen darf man festhalten wollen.
Die Not der Jugend ... hört mit der Jugend nicht auf, geht sie aber doch am meisten an. Es ist der Kampf um die Individualisierung, um das Entstehen einer Persönlichkeit.
Nicht jedem Menschen ist es gegeben, eine Persönlichkeit zu werden, die meisten bleiben Exemplare und kennen die Nöte der Individualisierung gar nicht. Wer sie aber kennt und erlebt, der erfährt auch unfehlbar, daß diese Kämpfe ihm mit dem Durchschnitt, dem normalen Leben, dem Hergebrachten und Bürgerlichen in Konflikt bringen. Aus den zwei entgegengesetzten Kräften, dem Drang nach einem persönlichen Leben und der Forderung der Umwelt nach Anpassung, entsteht die Persönlichkeit. Keine entsteht ohne revolutionäre Erlebnisse, aber der Grad ist natürlich bei allen Menschen verschieden, wie auch die Fähigkeit, ein wirklich persönliches und einmaliges Leben (also kein Durchschnittsleben) zu führen ...
Der werdende junge Mensch, wenn er den Drang zu starker Individualisierung hat, wenn er vom Durchschnitts- und Allerwelts-Typ stark abweicht, kommt notwendig in Lagen, die den Anschein des Verrückten haben ... Es gilt nun nicht, seine »Verrücktheiten« der Welt aufzuzwingen und die Welt zu revolutionieren, sondern es gilt, sich für die Ideale und Träume der eigenen Seele gegen die Welt so viel zu wehren, daß sie nicht verdorren. Die dunkle Innenwelt, wo diese Träume zu Hause sind, ist beständig bedroht, sie wird von den Kameraden verspottet, von den Erziehern gemieden, sie ist kein fester Zustand, sondern ein beständiges Werden.
Unsre Zeit macht es da den Feineren in der Jugend besonders schwer. Es besteht überall das Streben, die Menschen gleichförmig zu machen und ihr Persönliches möglichst zu beschneiden. Dagegen wehrt sich unsre Seele, mit Recht.
Ein Lebensweg mag von gewissen Situationen aus noch so sehr determiniert erscheinen, er trägt doch stets alle Lebensund Wandlungsmöglichkeiten in sich, deren der Mensch selbst irgend fähig ist. Und die sind desto größer, je mehr Kindheit, Dankbarkeit, Liebefähigkeit wir haben.
Mit der Selbstbeschränkung des Berufes und des Mannesalters muß man seine Jugend nicht begraben. »Jugend« ist das in uns, was Kind bleibt, und je mehr dessen ist, desto reicher können wir auch im kühlbewußten Leben sein.
Welchen Beruf ein junger Mann auch wähle, und wie seine Auffassung vom Beruf und sein Eifer für ihn auch sei – immer tritt er damit in eine organisierte, erstarrte Welt aus dem blühenden Chaos des Jugendtraumes, und immer wird er enttäuscht sein. Diese Enttäuschung mag an sich kein Schade sein, Ernüchterung kann auch Sieg bedeuten. Aber die meisten Berufe, und zwar gerade die »höheren«, spekulieren in ihrer jetzigen Organisation auf die egoistischen, feigen, bequemen Instinkte des Menschen. Er hat es leicht, wenn er fünfe grade sein läßt, wenn er sich duckt, wenn er den Herrn Vorgesetzten nachahmt; und er hat es unendlich schwer, wenn er Arbeit und Verantwortlichkeit sucht und liebt.
Wie die Herden-Jünglinge sich mit diesen Dingen abfinden, geht mich nichts an. Die Geistigen finden hier eine gefährliche Klippe. Sie sollen die Berufe, gerade auch die staatlich organisierten Berufe, nicht fliehen, sie sollen sie probieren! Aber sie sollen sich nicht vom Beruf abhängig machen.


Gute Nacht!

Samstag, 30. Juli 2016

Die einen kommen erster Klasse zur Welt

von Gerd Wollschon

Die einen kommen erster Klasse zur Welt,
die anderen kommen zweiter Klasse zur Welt.
Die einen werden gebildet,
die anderen werden ausgebildet.
Die einen stellen danach etwas dar,
die anderen stellen danach etwas her.
Die einen verdienen,
die anderen dienen.
Der Unternehmer heißt Unternehmer, weil er etwas unternimmt.
Der Arbeiter heißt Arbeiter, weil er arbeitet.

Gute Nacht!

Sonntag, 17. Juli 2016

Aphorismen

von Georg Christoph Lichtenberg

Es gibt keine wichtigere Lebensregel in der Welt als die: Halte dich, soviel du kannst, zu Leuten, die geschickter sind als du, aber doch nicht so sehr unterschieden sind, dass du sie nicht begreifst. Das Erheben wird deinem Ehrgeiz durch Instinkt leichter werden als dem Allzugroßen das Herablassen aus kalter Entschließung.

Der Umgang mit vernünftigen Leuten ist deswegen jedermann so sehr anzuraten, weil ein Dummkopf auf diese Art durch Nachahmen klug handeln lernen kann, denn die größten Dummköpfe können nachahmen, selbst die Affen, Pudelhunde und Elefanten können es.

Ich habe sehr häufig gefunden, daß gemeine Leute, die nicht rauchten, an Orten, wo das Rauchen gewöhnlich ist, immer sehr gute und tätige Menschen waren. Bei dem gemeinen Mann ist es leicht zu erklären; es verrät bei dieser Klasse vorzüglich schon etwas Gutes, sich von einer solchen Mode nicht hinreißen zu lassen, oder überhaupt etwas zu unterlassen, was wenigstens von Anfang nicht behagt. Auch muß ich gestehen, daß von allen den Gelehrten, die ich in meinem Leben habe kennen gelernt, und die ich eigentlich Genies nennen möchte, kein einziger geraucht hat. – Hat wohl Lessing geraucht?

Es ist für die Vervollkommnung unseres Geistes gefährlich, Beifall durch Werke zu erhalten, die nicht unsere ganze Kraft erfordern. Man steht alsdann gewöhnlich stille. Rochefoucauld glaubt daher, es habe noch nie ein Mensch alles das getan, was er habe tun können; ich halte dafür, daß dieses größtenteils wahr ist. Jede menschliche Seele hat eine Portion Indolenz, wodurch sie geneigt wird, das vorzüglich zu tun, was ihr leicht wird.

Wenn ich noch ein Zeichen des Verstandes angeben soll, das mich selten betrogen hat, so ist es dieses, dass Leute, die sehr viel älter sind, als sie scheinen, selten viel Verstand hatten, und umgekehrt junge Leute, die alt aussehen, sich auch dem Verstand des Alters nähern. Man wird mich verstehen und nicht etwa glauben, dass [ich] unter jung Aussehen Gesundheit und frische Farbe und unter Anschein des Alters Falten und Blässe verstehe.

Eine angenehme Stimme ist sehr oft mit sonst übrigens guten Eigenschaften des Leibes und der Seele verbunden. Und doch sind so viel Sängerinnen Huren und die meisten Menschen haben schlechte Stimmen.

Man gibt falsche Meinungen, die man von Menschen gefasst hat, nicht gern auf, sobald man sich dabei auf subtile Anwendung von Menschenkenntnis etwas zugute tun [zu] können für berechtigt hält und glaubt, solche Blicke in das Herz des andern könnten nur gewisse Eingeweihte tun. – Es gibt daher wenige Fächer der menschlichen Erkenntnis, worin das Halbwissen größern Schaden tun kann, als dieses Fach.


Gute Nacht!

Samstag, 9. Juli 2016

Ode an die Katze

von Pablo Neruda

Unvollkommen
waren die Tiere
lange Schwänze, triste
Häupter.
Allmählich
nahmen sie sich zusammen,
wurden zur Landschaft,
bekamen Tupfen, Grazie, Flügel.
Die Katze,
alleine die Katze
trat gleich vollkommen auf
die Nase erhoben
war von Geburt an völlig fertig:
Sie läuft allein und weiß genau, was sie will.

Der Mensch möchte Fisch sein und Vogel,
die Schlange hätte gerne Schwingen,
der Hund ist ein fehlgeleiteter Löwe,
der Ingenieur wäre lieber Dichter,
die Fliege übt den Flug der Schwalbe,
der Dichter eifert nach der Fliege,
nur die Katze
will nichts als Katze sein,
und jede Katze ist Katze
vom Bart bis zum Schwanz,
von der Vorahnung zur lebendigen Ratte,
von der Nacht bis zu den goldenen Augen.

Nichts Ganzes
gleicht ihr,
weder Mond noch Blüte
sind
so wohlgeordnet:
Sie ist ein Eines
wie Sonne und Topasstein,
und ihr geschmeidig gestrichelter Umriß
ist fest und fein gezogen
wie die Buglinie eines Schiffes.
Ihre gelben Augen
lassen
nur einen Schlitz frei,
damit die Nacht ihr Kleingeld hineinwirft.

O kleiner
Kaiser ohne Weltreich,
Eroberer du ohne Heimat,
winziger Salontiger, Bräutigam,
Pascha im Himmel
liebeshungriger Dächer,
jaulst nach dem Sturmwind
der Liebe
bei jedem Wetter,
wenn du auftrittst
und setzt
vier weiche Pfoten
auf den Boden,
witternd,
allem mißtrauend,
was erdgebunden,
denn unrein
ist alles
dem makellosen Fuß der Katze.

O ungebundenes Raubtier
des Hauses, Nachtspur
hochmütig,
Turnerin, träge
und unnahbar,
abgrundtiefe Katze,
Geheimdienst
in den Zimmern,
Hoheitszeichen
lange schon
verschwundenen Samtes,
wahrscheinlich ist
kein Rätsel
an deinem Benehmen,
vielleicht bist du kein Geheimnis,
jedermann kennt dich, du gehörst
dem geheimnislosesten der Anwohner,
vielleicht dünken sich alle,
wähnen sich Herren,
Besitzer, Onkel
von Katzen, Weggefährten,
Kollegen,
Lehrlinge und Freunde
ihrer Katze.

Ich nicht.
Ich spiele nicht mit.
Ich kenne die Katze nicht.
Alles kenn ich, das Leben und seine vielen Inseln,
das Meer, die unzählbare Großstadt,
die Botanik,
die Blütenbestäubung samt ihrer Irrwegen,
das Mal und Minus der Mathematik,
der Welt vulkanische Trichter,
die irreale Schale des Krokodils,
des Feuerwehrmanns verkannte Güte,
des Priesters blauen Atavismus,
nur eine Katze kann ich nicht enträtseln.
Meine Vernunft prallt ab an ihrem Gleichmut,
in ihren Augen stehen goldne Ziffern.
Gute Nacht!

Montag, 4. Juli 2016

Von der Kunst des Liebens

von Erich Fromm
 

Im Gegensatz zur symbiotischen Vereinigung ist die reife Liebe eine Vereinigung, bei der die eigene Integrität und Individualität bewahrt bleibt. Liebe ist eine aktive Kraft im Menschen. Sie ist eine Kraft welche die Wände niederreisst, die den Menschen von seinem Mitmenschen trennen, eine Kraft, die ihn mit anderen vereinigt. Die Liebe lässt ihn das Gefühl der Isolation und Abgetrenntheit überwinden und erlaubt ihm, trotzdem er selbst zu sein und seine Integrität zu behalten. In der Liebe kommt es zu dem Paradoxon, dass zwei Wesen eins werden und trotzdem zwei bleiben. 

Gute Nacht!

Mittwoch, 22. Juni 2016

Zur Teleologie

von Heinrich Heine
Beine hat uns zwei gegeben
Gott der Herr, um fortzustreben.
Wollte nicht, daß an der Scholle
Unsre Menschheit kleben solle;
Um ein Stillstandsknecht zu sein,
Gnügte uns ein einzges Bein.

Augen gab uns Gott ein Paar,
Daß wir schauen rein und klar;
Um zu glauben, was wir lesen.
Wär ein Auge gnug gewesen.
Gott gab uns die Augen beide.
Daß wir schauen und begaffen,
Wie er hübsch die Welt erschaffen
Zu des Menschen Augenweide;
Doch beim Gaffen in den Gassen
Sollen wir die Augen brauchen
Und uns dort nicht treten lassen
Auf die armen Hühneraugen,
Die uns ganz besonders plagen,
Wenn wir enge Stiefel tragen.

Gott versah uns mit zwei Händen,
Daß wir doppelt Gutes spenden;
Nicht um doppelt zuzugreifen
Und die Beute aufzuhäufen
In den großen Eisentruhn,
Wie gewisse Leute tun –
(Ihren Namen auszusprechen.
Dürfen wir uns nicht erfrechen –
Hängen würden wir sie gern.
Doch sie sind so große Herrn,

Philanthropen, Ehrenmänner,
Manche sind auch unsre Gönner,
Und man macht aus deutschen Eichen
Keine Galgen für die Reichen.)

Gott gab uns nur eine Nase,
Weil wir zwei in einem Glase
Nicht hineinzubringen wüßten
Und den Wein verschlappern müßten.

Gott gab uns nur einen Mund,
Weil zwei Mäuler ungesund.
Mit dem einen Maule schon
Schwätzt zuviel der Erdensohn.
Wenn er doppeltmäulig wär,
Fräß und log er auch noch mehr.
Hat er jetzt das Maul voll Brei,
Muß er schweigen unterdessen,
Hätt er aber Mäuler zwei,
Löge er sogar beim Fressen.

Mit zwei Ohren hat versehn
Uns der Herr. Vorzüglich schön
Ist dabei die Symmetrie.
Sind nicht ganz so lang wie die,
So er unsern grauen braven
Kameraden anerschaffen.
Ohren gab uns Gott die beiden,
Um von Mozart, Gluck und Haydn
Meisterstücke anzuhören –
Gäb es nur Tonkunst-Kolik
Und Hämorrhoidal-Musik
Von dem großen Meyerbeer,
Schon ein Ohr hinlänglich wär! –

Als zur blonden Teutelinde
Ich in solcher Weise sprach,
Seufzte sie und sagt«: Ach!
Grübeln über Gottes Gründe,
Kritisieren unsern Schöpfer,
Ach! das ist, als ob der Topf
Klüger sein wollt als der Töpfer!
Doch der Mensch fragt stets: Warum?
Wenn er sieht, daß etwas dumm.

Freund, ich hab dir zugehört,
Und du hast mir gut erklärt,
Wie zum weisesten Behuf
Gott dem Menschen zwiefach schuf
Augen, Ohren, Arm und Bein,
Während er ihm gab nur ein Exemplar von Nas und Mund –
Doch nun sage mir den Grund:
Gott, der Schöpfer der Natur,
Warum schuf er einfach nur
Das skabröse Requisit,
Das der Mann gebraucht, damit
Er fortpflanze seine Rasse
Und zugleich sein Wasser lasse?
Teurer Freund, ein Duplikat
Wäre wahrlich hier vonnöten,
Um Funktionen zu vertreten,
Die so wichtig für den Staat
Wie fürs Individuum,
Kurz fürs ganze Publikum.
Eine Jungfrau von Gemüt
Muß sich schämen, wenn sie sieht.
Wie ihr höchstes Ideal
Wird entweiht so trivial!
Wie der Hochaltar der Minne
Wird zur ganz gemeinen Rinne!
Psyche schaudert, denn der kleine
Gott Amur der Finsternis,
Er verwandelt sich beim Scheine
Ihrer Lamp – in Mankepiß.

Also Teutelinde sprach,
Und ich sagte ihr: Gemach!
Unklug wie die Weiber sind,
Du verstehst nicht, liebes Kind,
Zwei Funktionen, die so greulich
Und so schimpflich und abscheulich
Miteinander kontrastieren
Und die Menschheit sehr blamieren.
Gottes Nützlichkeitssystem,
Sein Ökonomieproblem
Ist, daß wechselnd die Maschinen
Jeglichem Bedürfnis dienen,
Den profanen wie den heilgen,
Den pikanten wie langweilgen, –
Alles wird simplifiziert;
Klug ist alles kombiniert:
Was dem Menschen dient zum Seichen,
Damit schafft er seinesgleichen.
Auf demselben Dudelsack
Spielt dasselbe Lumpenpack.
Feine Pfote, derbe Patsche,
Fiddelt auf derselben Bratsche,
Orgelt auf demselben Leder,
Springt und singt und gähnt ein jeder,
Und derselbe Omnibus
Führt uns nach dem Tartarus.

Gute Nacht!

Dienstag, 14. Juni 2016

Kinder auf Reisen

von Jean Paul

Über lange Kinderreisen wünscht' ich ein Wort zu sagen. Kurze von einigen Wochen hält man mit Recht für ein Geist und Leib reifendes Versetzen dieser zarten Bäumchen, weil der Tausch der alten düstern Ecken-Enge gegen die luftige Landschaft von Menschen- und Sitten-Wechsel erheitern und befruchten muß. Etwas anderes aber sind Kinderreisen mit Städte-Hausierern und Länderrennern, wenn kleine Wesen die große Tour (durch die Stadt ist schon eine für sie) durch halb Europa machen, auf welcher das jeden Tag versetzte Bäumchen sich übertreibt und erschöpft. Wenn schon Erwachsene von ihrem Länder-Umsegeln gefüllte Köpfe und geleerte Herzen mitbringen, weil das tägliche Laufen durch Kompagnie-Gassen von Menschen mit Spießruten oder doch ohne Bruderküsse zuletzt so erkälten muß, wie das Hofleben tut, worin, wie in einem englischen Tanze, der Tänzer die Kolonne auf- und niederspringt und seine Hand kalt einer jeden gibt: wie muß erst langes Reisen – dem Erwachsenen nur Herbstreif – als Frühlingreif das Kind verwüsten! Langes Zusammenleben mit verbundnen Menschen entwickelt in diesem die Liebewärme; das Einerlei der Menschen, Häuser, Kindheitplätze, ja der Gerätschaften hängt sich geliebt an das Kind und verstärkt, wie eine magnetisch gehaltene Last, das magnetische Anziehen; und so wird in dieser Frühzeit der reiche Magnetbruch künftigen Liebens aufgetan, weil das Kind beinahe alles liebgewinnt, was es täglich sieht – im Dorfe eine leichte Sache –, den Holzhacker der Eltern, die Botenfrau, den alten Peter, der jeden Sonnabend um einen Sonntag bettelt, ja sogar ferne, stundenweit entlegne Honoratiores von Bekanntschaft. Mit einer Kindheit voll Liebe aber kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten. – Nun soll aber statt dergleichen ein Kind auf Reisen gehen – z. B. etwa durch halb Europa – und soll, da man dessen Wohn-Marktflecken samt Einwohnern nicht hinter dem Wagen aufpacken, noch in den Gastzimmern der großen Städte abpacken kann, jeden Tag auf neue Menschen, Stuben, Kellner, Gäste stoßen, an welchen allen das junge Herz aus Zeitmangel nicht zum reifen Ausbruche der Teilnahme kommen kann: – was kann dann aus dem kleinen Wesen werden? Ein Hofmännchen oder Hofweibchen ohne Hof, kühl, hell, fein, matt, satt, süß und schön.


Gute Nacht!

Montag, 6. Juni 2016

Empfindung

von Arthur Rimbaud
In blauer Sommernacht werd` ich durch Felder geh`n,
Hälmchen zertreten auf den kühlen Pfaden
Und träumerisch ein Prickeln spüren an den Zeh`n.
Ich werde meinen bloßen Kopf im Winde baden.


Ich werde dann nicht sprechen, werde an nichts denken:
Doch wird die Liebe meine Seele ganz durchtränken;
Und ich werd` geh`n, wie ein Zigeuner, fort durchs Blau,
Durch die Natur, - so glücklich wie mit einer Frau.

Gute Nacht!

Montag, 30. Mai 2016

Suchbild. Über meinen Vater

von Christoph Meckel

Im erwachsenen Menschen steckt ein Kind, das will spielen. Es steckt in ihm ein Befehlshaber, der will strafen. In meinem erwachsenen Vater steckte ein Kind, das mit den Kindern Himmel auf Erden spielte. Es lebte in ihm eine Sorte Offizier. die bestrafen wollte im Namen der Disziplin. Nutzlose Affenliebe des glücklichen Vaters. Hinter dem Verschwender von Zuckerbroten kam ein Offizier mit der Peitsche daher. Der hielt für seine Kinder Strafen bereit. Der beherrschte so etwas wie ein System von Strafen. ein ganzes Register. Zu Anfang gab es Schelte und Wutausbruch - das war erträglich und ging wie der Donner vorbei. Dann kam das Ziehen, Drehen und Kneifen am Ohr, die Ohrfeige und der berühmte Katzenkopf. Es folgte die Verbannung aus dem Zimmer, danach das Fortgesperrtsein ins Kellerloch. Und weiter: die Kindsperson wurde ignoriert, durch strafendes Schweigen gedemütigt und beschämt. Es wurde zu Besorgungen mißbraucht, ins Bett verurteilt oder zum Kohleschleppen abkommandiert. Zum Schluß. als Mahnmal und Höhepunkt erfolgte die Strafe, die Strafe schlechthin, die exemplarische Bestrafung. Das war die Prügelstrafe. Die Prügel erfolgten gnadenlos und präzis, laut oder leise gezählt, und ohne Bewährung.
Erstmals im Alter von vier Jahren wurde mein Glauben an den Vater verletzt. [...] Zehn Tage lang, zu lang für jedes Gewissen, segnete mein Vater die ausgestreckten, vier Jahre alten Handflächen seines Kindes mit scharfem Stöckchen. Sieben Tatzen täglich auf jede Hand: macht hundertvierzig Tatzen und etwas mehr: es machte der Unschuld des Kindes ein Ende. Was immer im Paradies geschah, mit Adam, Eva, Lilith, Schlange und Apfel, das gerechte biblische Schlagwetter vor der Zeit, das Gebrüll des Allmächtigen und sein ausweisender Finger – ich weiß davon nichts. Es war mein Vater, der mich von dort vertrieb.


Gute Nacht!

Mittwoch, 25. Mai 2016

Des Abends Brauen sind eingesunken

von Sergej Jessenin

Des Abends Brauen sind eingesunken,
Fremde Pferde stehn unten vorm Haus.
Hab' ich gestern die Jugend vertrunken?
War die Liebe zu dir gestern aus?

Knarre doch nicht, du verspäteter Wagen!
Wie unser Leben so spurlos verfliegt!
Morgen ist es das Krankenhauslager,
Das dann vielleicht auf immer mich wiegt.

Morgen vielleicht, ein anderer wieder,
Geh' ich geheilt die Straße voran,
Höre die Blätter, des Regens Lieder -
Davon erblühen die Kräfte im Mann.

Dann vergeß ich die Nacht und die Lüge,
Alles, was quälend mich fast zerbricht.
Antlitz, liebendes! Trauteste Züge!
Dich alleine vergesse ich nicht.

Mag ich mir auch eine andre erwählen,
Will ich doch ihr, zu der ich entbrannt,
Auch von dir, Geliebte, erzählen,
Die ich einstmals Liebste genannt.

Wie unser Leben, das nie verflossen,
Hinfloß, erzähl ich ihr später bei Nacht ...
Du mein Kopf, voller Streiche und Possen,
Wozu hast du mich wieder gebracht?

Gute Nacht!

Freitag, 20. Mai 2016

Ruhm und Ehre

von Arthur Schopenhauer

Die Ehre hat einen negativen Charakter, welches sie vom Ruhm unterscheidet, der einen positiven Charakter hat; sie ist nämlich die Meinung nicht von besonderen Eigenschaften, die bei uns hinzukommen, sondern von der Regel nach zu erwartenden Eigenschaften, die uns nicht abgehen. Sie besagt nur, dass wir keine Ausnahme sind; während der Ruhm besagt, dass wir Ausnahmen sind. Ruhm muss erst erworben werden, und zwar dadurch dass man Eigenschaften zeigt, die andere derselben Art nicht haben, dadurch man also ausgezeichnet ist: wer des Ruhmes ermangelt, der hat ihn nicht verloren, sondern er hat ihn nicht erworben. Die Ehre hingegen versteht sich von selbst, und wer keine hat, der hat sie verloren und zwar verliert er sie durch Taten, und Einer kann sie haben, ohne dass man nachweisen kann, was er dafür getan hat: nur wird vorausgesetzt, dass er vorkommenden Falls dieses tun und jenes lassen wird, und es ist hinreichend, dass er hiervon bis jetzt nicht das Gegenteil bewiesen hat. Darum ist ihr Charakter negativ, welches sich auch darin zeigt, dass sie viel öfter beruht auf dem, was wir unterlassen, als auf dem was wir tun und mehr negative als positive Vorschriften erteilt. Ruhm ist dagegen das Positive und wird allein durch besondere, bestimmt gegebene Taten (oder Werke) erworben. Die Ehre betrifft also lauter Eigenschaften, die Jeder derselben Gattung haben soll, und die sich also von selbst verstehen: seine Ehre ist die allgemeine Meinung Anderer, dass sie ihm nicht abgehen, dass er also in dieser Hinsicht keine Ausnahme von der Regel macht.


Gute Nacht!

Montag, 2. Mai 2016

Unentrinnbar

von Albert Ehrenstein

Wer weiß, ob nicht
Leben Sterben ist,
Atem Erwürgung,
Sonne die Nacht?
Von den Eichen der Götter
Fallen die Früchte
Durch Schweine zum Kot,
Aus dem sich die Düfte
Der Rosen erheben
In entsetzlichem Kreislauf,
Leiche ist Keim,
Und Keim ist Pest.

Gute Nacht!

Montag, 18. April 2016

Die Treue der Bücher

von Amos Oz

Einmal, ich war sieben oder acht Jahre alt, sagte mir Mutter, [...] es stimme zwar, dass Bücher sich im Laufe der Jahre verändern könnten, genauso wie Menschen sich mit der Zeit veränderten, aber der Unterschied liege darin, dass Menschen dich letztlich fast alle im Stich ließen, sobald sie keinen Nutzen oder keine Freude oder kein Interesse oder einfach keinen Gefallen mehr an dir fänden, während Bücher dich niemals im Leben im Stich ließen. Du würdest sie natürlich gelegentlich beiseite legen, manche sogar viele Jahre oder auch für immer. Aber sie, die Bücher, würden dir auch dann, auch wenn du ihnen untreu geworden warst, niemals endgültig den Rücken kehren: Ganz still und bescheiden würden sie auf dem Regal auf dich warten, sogar jahrzehntelang würden sie warten, ohne zu klagen. Bis du eines Nachts plötzlich eines von ihnen brauchtest, und sei es um drei Uhr früh, und sei es auch ein Buch, das du Jahr um Jahr vernachlässigt, ja fast aus dem Gedächtnis gelöscht hattest, es wird dich nicht enttäuschen, sondern vom Regal herunterkommen und in dem Moment bei dir sein, in dem du es brauchst. Es wird nicht mit dir abrechnen, keine Ausflüchte erfinden und sich nicht fragen, ob es sich für es lohnt, ob du es verdienst oder ob du noch zu ihm passt, sondern wird einfach sofort kommen, wenn du es bittest zu kommen.


Gute Nacht!

Montag, 4. April 2016

Über Vernunft, Weisheit und Leidenschaft

von Cicero

Die Vernunft hat etwas Erhabenes und Großes an sich, das mehr zum Herrschen als zum Gehorchen angelegt ist. Sie erachtet alles rein erdhaft Menschliche für gering. Sie selber ist etwas Großes und Erhabenes, das nichts fürchtet, vor niemandem weicht und immer unbezwinglich bleibt.
Alles wissen wollen, was es auch immer sein mag, ist ein Zeichen von Neugier, aber durch die Beschäftigung mit großen Dingen zum Streben nach Wissenschaft geführt zu werden, darf als Kennzeichen großer Männer gelten.
Nur die Weisheit ist es, welche die Traurigkeit aus den Herzen vertreibt und die uns nicht vor Angst erstarren lässt. Unter ihrem Geleit lässt sich im Seelenfrieden leben, wenn einmal die Glut der Leidenschaften gelöscht ist. Diese nämlich sind unersättlich, sie richten nicht nur den Einzelnen, sondern auch die ganze Familie zugrunde, sie erschüttern sogar den ganzen Staat.
Aus den Leidenschaften und Begierden entstehen Hass, Zerwürfnis, Zwietracht, Aufstand und Krieg. Sie wüten nicht nur nach außen und richten sich im blinden Hass nicht nur gegen Andere, auch drinnen im eigenen Herzen sind sie zerstritten und leben im Widerstreit miteinander. Daraus kann ja nur ein Leben voller Bitterkeit entstehen. Deshalb vermag nur der Weise, der alle Eitelkeit der Welt und allen Irrtum beseitigt hat, der mit den von der Natur gezogenen Grenzen zufrieden ist, ohne Verdruss und Angst zu leben.
 
Gute Nacht!

Donnerstag, 31. März 2016

Der Maienkäfer

von Gottlieb Konrad Pfeffel 

An Sarasin

Bathyll, ein kleiner Schäfer,
Fing einen Maienkäfer,
Band ihn an eine Schnur
Und schrie: Flieg auf, mein Tierchen!
Du hast ein langes Schnürchen
An deinem Fuß, versuch’ es nur.

Nein, sprach der, laß mich nur liegen.
Was hilft’s, an einem Faden nun zu fliegen?
Nein, lieber gar nicht frei.
Im vollen Flug empfinden,
Daß uns Despoten binden,
Freund, ist die härtste Sklaverei.

Gute Nacht!

Mittwoch, 16. März 2016

Alter und Weisheit

von Michel de Montaigne

Wir nennen die Grämlichkeit unserer Launen und den Ekel an den gegenwärtigen Dingen Weisheit; im Grunde aber entsagen wir nicht so wohl den Lastern, als wechseln vielmehr damit, und nach meiner Meinung immer zu schlimmerem Übergange.
Außer einer dummen ärmlichen Ruhmredigkeit, einer langweiligen Geschwätzigkeit, einer ungeselligen unduldsamen Grämlichkeit, einer albernen Abergläubigkeit und einem lächerlichen Streben nach Reichtum, wenn wir ihn nicht mehr nutzen können, finde ich auch noch im Alter mehr Neid, Ungerechtigkeit und Schadenfreude.
Das Alter zieht noch mehr Runzeln auf unserem Verstand als auf unsere Stirne, und findet man wenige Seelen, und sehr selten, welchen man bei hohem Alter nicht das Sauer- und Kantigwerden anmerkte. Der Mensch geht mit gleichem Schritte auf sein Wachstum zu wie auf sein Abnehmen.
Wenn man die Weisheit des Sokrates beleuchtet und verschiedene Umstände bei seiner Verurteilung in Betracht zieht, so möchte ich fast glauben, dass letzter ihm gewissermaßen willkommen war und er sich mit Fleiß nicht nachdrücklicher verteidigte: er hatte schon beinahe an 70 Jahren die Last eines glanzvollen Lebens auf seinen Schultern getragen und die blendenden Strahlen seines gewöhnlichen Lichtes unterhalten.
Was für Verwandlungen sehe ich hierin bei vielen von meinen Bekannten täglich vorfallen? Es ist eine schwere Krankheit, die uns ganz natürlicher Weise und ganz unbemerkt beschleicht. Es gehört ein großer Vorrat von Studium dazu, und eine außerordentliche Vorsicht, um den Unvollkommenheiten auszuweichen, womit uns das Alter heimsucht, oder wenigstens ihren Fortschritt zu hemmen.
 
Gute Nacht!

Dienstag, 8. März 2016

Für einen übertreibenden Deutschthümler

von Kathinka Zitz-Halein
Deutscher, sei deutscher als deutsch,
dann dringet die wahre Verdeutschung
Dir in das deutsche Geblüt,
bleibend mit deutschem Bestand.

Dann läßt durch deutsche Befeindung 

du nimmer dich feige entdeutschen,
Sinkest dann gänzlich durchdeutscht, 

einst in's germanische Grab.

Gute Nacht!

Samstag, 27. Februar 2016

Was ein Kind gesagt bekommt

von Bertolt Brecht
Der liebe Gott sieht alles.
Man spart für den Fall des Falles.
Die werden nichts, die nichts taugen.
Schmökern ist schlecht für die Augen.
Kohlentragen stärkt die Glieder.
Die schöne Kinderzeit, die kommt nicht wieder.
Man lacht nicht über ein Gebrechen.
Du sollst Erwachsenen nicht widersprechen.
Man greift nicht zuerst in die Schüssel bei Tisch.
Sonntagsspaziergang macht frisch.                           
Zum Alter ist man ehrerbötig.
Süßigkeiten sind für den Körper nicht nötig.
Kartoffeln sind gesund.
Ein Kind hält den Mund. 

Gute Nacht!

Samstag, 20. Februar 2016

Guter Rat

aus dem Buch Sirach

Jeder Freund sagt zwar: Ich bin auch dein Freund –; aber einige sind nur dem Namen nach Freunde. Wenn ein Gefährte und Freund einem Feind wird, so bleibt der Gram darüber bis in den Tod.
Ach wo kommt doch das Übel her, dass alle Welt so voll Falschheit ist? Wenn's dem Freund gut geht, so freuen sie sich mit ihm; wenn's ihm aber schlecht geht, werden sie seine Feinde. Sie stehen ihm bei, wenn es um den Bauch geht; aber wenn es Kampf gibt, verstecken sie sich hinter dem Schild. Vergiss den Freund nicht in deinem Herzen, und denke an ihn, wenn du reich wirst.
Jeder Ratgeber will raten, aber einige raten zu ihrem eignen Nutzen. Darum hüte dich vor dem Ratgeber: Überlege zuvor, was ihm nützlich sein kann, denn er denkt vielleicht daran, zu seinem Vorteil zu raten; lass ihn nicht über dich bestimmen, damit er nicht sagt: Du bist auf dem rechten Weg –, selbst aber beiseite steht und Acht gibt, wie es dir ergehen wird.
Berate dich nicht mit dem, der dich missgünstig betrachtet, und vor denen, die dich beneiden, verbirg deinen Plan. Man fragt ja auch nicht eine Frau um Rat, wie man ihre Nebenbuhlerin freundlich behandeln soll, oder einen Ängstlichen, wie man Krieg führen soll, oder einen Kaufmann, wie hoch er deine und seine Ware schätzt, oder einen Käufer, wie teuer du etwas verkaufen sollst, oder einen Missgünstigen, wie man denken, oder einen Unbarmherzigen, wie man barmherzig sein soll, oder einen Faulen, wie man viel arbeiten kann, oder einen für ein Jahr angeworbenen Tagelöhner, ob seine Arbeit schon zu Ende ist, oder einen trägen Hausknecht, wie viel man leisten kann.


Gute Nacht!

Donnerstag, 11. Februar 2016

Das Kutschpferd

von Christian Fürchtegott Gellert
Ein Kutschpferd sah den Gaul den Pflug im Acker ziehn
und wieherte mit Stolz auf ihn hin.
Wann, sprach es, und fing an, die Schenkel schön zu heben,
wann kannst du dir ein solches Ansehn geben?
Und wann bewundert dich die Welt?
Schweig, rief der Gaul, und laß mich ruhig pflügen!
Denn baute nicht mein Fleiß das Feld,
wo würdest du den Hafer kriegen,
der deiner Schenkel Stolz erhält?

Die ihr die Niedern so verachtet,
vornehme Müßgiggänger, wißt,
daß selbst der Stolz, mit dem ihr sie betrachtet,
daß euer Vorzug selbst, aus dem ihr sie verachtet,
auf ihren Fleiß gegründet ist.
Ist der, der sich und euch durch seine Händ ernährt,
nichts Bess´res als Verachtung wert?

Gesetzt, du hättest bess´re Sitten:
so ist der Vorzug doch nicht dein.
Denn stammtest du aus ihren Hütten,
so hättest du auch ihre Sitten;
und was du bist und mehr, das würden sie auch sein,
wenn sie wie du erzogen wären.
Dich kann die Welt sehr leicht, ihn aber nicht entbehren.
Gute Nacht!

Freitag, 5. Februar 2016

Das Märchen der Kindheit

von Jacques Lusseyran

Meine Eltern waren für mich vollkommen. Mein Vater, der eine Hochschule für Physik und Chemie absolviert hatte und von Beruf Chemie-Ingenieur war, war ebenso intelligent wie gütig. Meine Mutter, die Physik und Biologie studiert hatte, war ganz Aufopferung und Verständnis. Beide waren mir gegenüber großzügig und aufmerksam. Aber wozu spreche ich davon? Der kleine Junge von damals wurde dessen nicht gewahr. Er gab seinen Eltern keine Qualitäten. Er dachte nicht einmal über sie nach. Er hatte es nicht nötig, über sie nachzudenken. Seine Eltern liebten ihn, und er liebte sie. Das war ein Geschenk des Himmels.
Meine Eltern — das war Schutz, Vertrauen, Wärme. Wenn ich an meine Kindheit denke, spüre ich noch heute das Gefühl der Wärme über mir, hinter mir und um mich, dieses wunderbare Gefühl, noch nicht auf eigene Rechnung zu leben, sondern sich ganz, mit Leib und Seele, auf andere zu stützen, welche einem die Last abnehmen.
Meine Eltern trugen mich auf Händen, und das ist wohl der Grund, warum ich in meiner ganzen Kindheit niemals den Boden berührte. Ich konnte weggehen, konnte zurückkommen; die Dinge hatten kein Gewicht und hafteten nicht an mir. Ich lief zwischen Gefahren und Schrecknissen hindurch, wie Licht durch einen Spiegel dringt. Das ist es, was ich als Glück meiner Kindheit bezeichne, diese magische Rüstung, die — ist sie einem erst einmal umgelegt — Schutz gewährt für das ganze Leben.


Gute Nacht!

Donnerstag, 28. Januar 2016

Würd’ es mir fehlen, würd’ ich’s vermissen?

von Theodor Fontane
Heut’ früh, nach gut durchschlafener Nacht,
Bin ich wieder aufgewacht.
Ich setzte mich an den Frühstückstisch,
Der Kaffee war warm, die Semmel war frisch,
Ich habe die Morgenzeitung gelesen
(Es sind wieder Avancements gewesen).
Ich trat ans Fenster, ich sah hinunter,
Es trabte wieder, es klingelte munter,
Eine Schürze (beim Schlächter) hing über dem Stuhle,
Kleine Mädchen gingen nach der Schule —
Alles war freundlich, alles war nett,
Aber wenn ich weiter geschlafen hätt’
Und tät’ von alledem nichts wissen,
Würd’ es mir fehlen, würd’ ich’s vermissen?
Gute Nacht!

Montag, 25. Januar 2016

Fremdenhass

von Max Frisch

Wie steht es mit dem Fremdenhass? Ich kenne viele Landsleute, aber leider nicht aus allen Bevölkerungsschichten; Bauern beispielsweise nicht. Beispiele von Fremdenhass habe ich selber kaum erlebt; ich muss aber annehmen, dass es ihn gibt. Fremdenhass ist natürlich. Er entspringt unter anderem der Angst, dass andere in dieser oder jener Richtung begabter sein könnten, jedenfalls sind sie anders begabt, beispielsweise in Lebensfreude, glücklicher. Das weckt Neid, selbst wenn man der Bessergestellte ist, und Neid ist erpicht auf Anlässe für Geringschätzung. Man ist tüchtig, aber nun zeigt sich, daß andere es auch sind: aber ohne die Mißmutigkeit, die wir nördlich der Alpen als Voraussetzung oder schon als Beweis von Tüchtigkeit zu betrachten gewohnt sind. Daß die Südländer schmutzig sind, das ist eine Hoffnung, dann sind wir, wenn wir in dieser Welt nicht singen, dafür wenigstens sauberer; aber nicht einmal diese Hoffnung bestätigt sich ohne weiteres: ein Landarzt versichert mir, dass die Italiener, im Gegensatz zu einheimischen Kunden, mit gewaschenen Füßen kommen. Von Rassenhaß in der Schweiz, wie es in italienischen Zeitungen heißt, würde ich nicht sprechen; Fremdenhass genügt. Das ist keine Ideologie, sondern ein Reflex.
Es braucht wenig, dass man, um sich die Selbstprüfug zu sparen, zu Verurteilungen übergeht: Das Fremde als das Schlechtere. Insofern ist jede Messerstecherei eigentlich willkommen; da sieht man's mal wieder, dass man besser ist.
[…] Aber auch wenn die Fremden, wie es sich für Fremde gehört, sehr brav sind, etwas bleibt schwierig: sie sind da. […] Die Konfrontation mit einer anderen Lebensart, das irritiert jenes Selbstbewußtsein, das der Einzelne bezieht aus dem sakrosankten Eigenlob eines nationalen Kollektivs.


Gute Nacht!

Sonntag, 17. Januar 2016

Neue Wellen

von Ödön von Horváth

Während ich schreibe, höre ich draußen das Meer.
Denn mein Haus steht am Ufer.
Und das Meer will über das Ufer, es brandet und braust und der Sturm springt über das Dach, als wär die Welt ein Märchen.
Es ist zwar nicht mein Dach, unter dem ich da sitze und schreibe, es gehört einem alten Fischer und ich hab nur ein Zimmer gemietet, aber man sagt halt so, dass einem das Haus gehört, wenn man drinnen wohnt. Mir gehört eigentlich nichts. Nur der Koffer und eine alte Schreibmaschine – und ohne diese könnt ich kaum leben, denn die gehört zu meinem Beruf.
Ich bin nämlich Schriftsteller, aber trotzdem gehts mir nicht schlecht – ich meine: in materieller Hinsicht. Ja, ich bin sogar in einer ausgesprochen glücklichen Lage, denn einer der angesehensten Verleger hat einen Vertrag mit mir geschlossen. Jetzt hab ich endlich Gelegenheit, richtig arbeiten zu können, da ich der brennenden Sorge um das tägliche Brot enthoben bin. Ich hab mein Bettchen und mein Süppchen. Vorerst zwar nur für ein halbes Jahr, aber heut will ich nicht weiterdenken. Ich lasse die Zukunft verschleiert und konzentriere mich mit Haut und Haar auf meine Arbeit. Ich habe die Stadt verlassen, hier in der Einsamkeit wird mir schon was einfallen. Hier bin ich mit mir allein und es stört mich nur mein eigener Schatten. Ich schreibe ein Theaterstück.
Ob es ein Trauerspiel werden wird oder ein Lustspiel – ich weiß es nicht. Ich hab einen guten Einfall, eine alltägliche Liebesgeschichte in höchstens vier Akten. Aber ich seh noch keinen richtigen Schluß. Soll die Frau sich vergiften oder nicht? Und was mach ich mit dem Mann? Vielleicht wärs doch besser, wenn sie am Leben bliebe, obwohl ich ein Realist bin.
Viele Pläne gehen durch meinen Kopf und das leere Papier ist so schrecklich weiß. Aber hier in der Einsamkeit wird sich schon alles herauskristallisieren.
Ich liebe das Meer.
Es kommt mit neuen und neuen Wellen, immer wieder, immer wieder – und ich weiß es noch nicht, ob es ein Lustspiel wird oder ein Trauerspiel.
Gestern war der Sturm noch stärker. In der Nacht sind die Netze zerrissen und ein Kahn kam nicht mehr zurück. Vielleicht taucht er auf über das Jahr mit schwarzen Segeln und fährt als Gespenst über die Wasser ohne eine Seele –
Ich weiß es noch nicht.
 
Gute Nacht!

Sonntag, 10. Januar 2016

In Fesseln

von Albrecht Haushofer
Für den, der nächtlich in ihr schlafen soll,
So kahl die Zelle schien, so reich an Leben
Sind ihre Wände. Schuld und Schicksal weben
Mit grauen Schleiern ihr Gewölbe voll.

Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt,
Ist unter Mauerwerk und Eisengittern
Ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern,
Das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.

Ich bin der erste nicht in diesem Raum,
In dessen Handgelenk die Fessel schneidet,
An dessen Gram sich fremder Wille weidet.

Der Schlaf wird Wachen wie das Wachen Traum.
Indem ich lausche, spür ich durch die Wände
Das Beben vieler brüderlicher Hände.

Gute Nacht!
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