Dienstag, 24. Oktober 2017

Vom Sinn und Wahnsinn

von C. G. Jung

Indem man allgemein der Meinung huldigt, der Mensch sei das, was sein Bewusstsein von sich selber weiß, hält man sich für harmlos und fügt so der Bosheit noch die entsprechende Dummheit hinzu. Man kann zwar nicht leugnen, dass furchtbare Dinge geschehen sind und noch geschehen, aber es sind jeweils die anderen, die solches tun. Man schaue auf die teuflischen Mittel der Zerstörung, sie sind erfunden von vollständig harmlosen Gentlemen, von vernünftigen, angesehenen Bürgern, die all das sind, was wir wünschen. Und wenn die ganze Sache in die Luft fliegt und eine unbeschreibliche Hölle der Zerstörung aufreißt, so scheint niemand dafür verantwortlich gewesen zu sein. Es geschieht einfach. Und doch ist alles von Menschen gemacht!
Aber da jedermann blindlings davon überzeugt ist, dass er nichts ist als ein sehr bescheidenes und unwichtiges Bewusstsein, welches ordentlich seine Pflichten erfüllt und einen mäßigen Lebensunterhalt verdient, merkt niemand, dass diese ganze rational organisierte Masse, die man Staat oder Nation nennt, angetrieben wird von einer anscheinend unpersönlichen, unsichtbaren, aber furchtbaren Macht, die von niemandem und nichts aufgehalten werden kann. Diese schreckliche Macht wird meist erklärt als Furcht vor der benachbarten Nation, vor der man annimmt, sie sei von einem böswilligen Teufel besessen. Da niemand fähig ist zu erkennen, wo und wie stark er selbst besessen und unbewusst ist, projiziert man einfach den eigenen Zustand auf den Nachbarn und so wird es zu einer heiligen Pflicht, die größten Kanonen und das giftigste Gas zu haben.
Das Schlimmste dabei ist, dass man ganz recht hat! Alle Nachbarn werden beherrscht von einer unkontrollierten und unkontrollierbaren Angst, genau wie man selbst. In Irrenanstalten ist es eine wohlbekannte Tatsache, dass Patienten, die an Angst leiden, weit gefährlicher sind als solche, die von Zorn oder von Hass getrieben werden.


Gute Nacht!

Samstag, 14. Oktober 2017

Dummheit

von August Kopisch
Wer nur der Weisheit nachgespürt, den halt’ ich noch für keinen Mann:
Doch wer die Dummheit ausstudiert, den seh ich für was Rechtes an!
Der Weisen Tun errät man leicht: man sieht da noch wann, wie, warum;
Bei Dummen kuckt man sich umsonst nach allen diesen Sachen um.
Der Dummheit Weg ist wunderbar; niemals erkennet man den Grund,
Und fänd’ ihn einer richtig aus, so tät er aller Funde Fund!
Denn Dummheit ist die größte Macht, sie führt Heere stärkstes an;
Ich glaube, dass sie nie ein Held bekämpfen und besiegen kann.

Gute Nacht!

Sonntag, 8. Oktober 2017

Wahrer Adel

von Seneca

Wiederum erniedrigst Du Dich und behauptest, in erster Linie sei die Natur, dann das Schicksal zu hart mit Dir verfahren. Trotzdem bist Du in der Lage, Dich über den Lebenszuschnitt des Alltagsmenschen zu erheben und zum höchsten Glück aufzusteigen. Wenn die Philosophie ein gutes an sich hat, dann dies, dass sie nicht auf den Stammbaum sieht.
Alle Menschen stammen, wenn man auf die erste Stufe der Abstammung zurückgeht, von den Göttern ab. Du bist römischer Ritter, und zu diesem Rang bist du durch deinen Fleiß gekommen. Vielen aber ist der Zugang zum Ritterstand verschlossen. Die Kurie läßt nicht jeden zu. Auch im Kriegslager sucht man sich wählerisch aus, wen man zu gefährlichen Aktionen heranzieht. Edle Haltung aber bleibt niemandem verwehrt. In dieser Hinsicht gehören wir alle zum Adel, die Philosophie weist niemanden ab. Sie wählt auch niemanden besonders aus. Ihr Licht leuchtet allen. Sokrates war kein Patrizier, Kleanthes schleppte Wasser und legte Hand an, um den Garten zu gießen. Platon kam zur Philosophie nicht als Adliger, sondern sie machte ihn zu einem solchen. Wie kannst Du nur behaupten, Du seist nicht in der Lage, es ihnen gleichzutun? Sie alle sind Deine Ahnen, wenn Du Dich ihrer würdig erweist. Das wirst Du dann tun, wenn Du von nun an selber davon überzeugt bist, dass Du Dich an Adel von niemandem übertreffen lässt. Wir haben alle die gleiche Anzahl Vorfahren. Der Ursprung einer jeden Familie liegt jenseits von Menschengedenken. Platon sagt, es gäbe keinen König, der nicht von Sklaven abstammt, und keinen Sklaven, der nicht Könige unter seinen Vorfahren habe. Alle diese verschiedenen Stände werden immer wieder durcheinandergewirbelt. Der Weg des Schicksals führt bald aufwärts, bald abwärts.
Wer ist edel? Wem die Natur die rechte Veranlagung zur Tugend verliehen hat. Das ist das einzige, worauf man achten muss. Was die Vergangenheit sonst noch anlangt, so hat ein jeder seinen Ursprung dort, wo weiter zurück nur das Nichts war. Von diesem Uranfang der Welt bis auf unsere Zeit führt eine Kette, die abwechselnd aus prächtigen und armseligen Gliedern gefügt ist. Nicht das feudale Haus voll rauchgeschwärzter Ahnenbilder verleiht Adel. Niemand hat vor uns zu unserem Ruhme gelebt. Auch gehört uns nicht, was vor uns war. Es ist der Geist, der Adel verleiht. Adel, der sich aus jeder Lebenslage über das Schicksal zu erheben vermag.
Man darf nicht darauf sehen, woher einer kommt, sondern wohin er geht.


Gute Nacht!

Montag, 2. Oktober 2017

Der Oktober

von Erich Kästner
Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Was vorüber schien, beginnt.
Chrysanthemen blühn und frieren.
Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Und du folgst ihr wie ein Kind.

Geh nur weiter. Bleib nicht stehen.
Kehr nicht um, als sei's zuviel.
Bis ans Ende musst du gehen.
Hadre nicht in den Alleen.
Ist der Weg denn schuld am Ziel?

Geh nicht wie mit fremden Füßen,
und als hätt'st du dich verirrt.
Willst du nicht die Rosen grüßen?
Laß den Herbst nicht dafür büßen,
daß es Winter werden wird.

An den Wegen, in den Wiesen
leuchten, wie auf grünen Fliesen,
Bäume bunt und blumenschön.
Sind's Buketts für sanfte Riesen?
Geh nur weiter. Bleib nicht stehn.

Blätter tanzen sterbensheiter
ihre letzten Menuetts.
Folge folgsam dem Begleiter.
Bleib nicht stehen. Geh nur weiter.
Denn das Jahr ist dein Gesetz.

Nebel zaubern in der Lichtung
eine Welt des Ungefährs.
Raum wird Traum. Und Rauch wird Dichtung.
Folg der Zeit. Sie weiß die Richtung.
"Stirb und werde!" nannte er's.

Gute Nacht!
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