Mittwoch, 22. März 2017

Selbstliebe - Selbstsucht - Selbstlosigkeit

von Erich Fromm

Die Doktrin, Selbstsucht sei ein Grundübel, und die Liebe zu sich selbst schließe die Liebe zu anderen aus, beschränkt sich nicht nur auf Theologie und Philosophie. Sie wurde eine der Ideen, die man in der Familie und in der Schule, im Film und in Büchern immer wieder verkündete, überall dort, wo eine gesellschaftliche Beeinflussung denkbar war. „Du darfst nicht selbstsüchtig sein" ist ein Satz, der Millionen von Kindern von Generation zu Generation eingehämmert wurde. Seine Bedeutung ist vage. Die meisten Leute würden ihn damit erklären: Sei nicht egoistisch, nicht rücksichtslos. In Wirklichkeit aber besagt er mehr. „Sei nicht selbstsüchtig" schließt ein: Tu nicht, was du selbst möchtest, gib deinen eigenen Willen zugunsten einer Autorität auf. Im letzten hat der Satz „sei nicht selbstsüchtig" den gleichen Doppelsinn, den er schon im Calvinismus besaß. Von seinem offenkundigen Sinn abgesehen, bedeutet er „liebe dich nicht", „sei nicht du selbst", sondern unterwirf dich einem Etwas, das wichtiger ist als du selbst, unterwirf dich einer außer dir liegenden Macht oder ihrem inneren Gegenstück, der „Pflicht". Der Satz „sei nicht selbstsüchtig" wird zu einem der mächtigsten ideologischen Werkzeuge, um die Spontaneität und die freie Entwicklung der Persönlichkeit zu unterdrücken. Man wird damit zu jedem Opfer und zur absoluten Unterwerfung aufgefordert: Nur jene Handlungen gelten als „selbstlos", die nicht dem Handelnden nützen, sondern jemandem oder irgendetwas außerhalb seiner selbst.
Wie gesagt, dieses Bild ist in gewissem Sinn einseitig. Denn neben der Doktrin, man solle nicht selbstsüchtig sein, wird in der heutigen Gesellschaft auch deren Gegenteil propagiert: Sei auf deinen Vorteil bedacht und handle so, wie es für dich am besten ist; tust du das, dann handelst du auch zum Vorteil aller anderen.
Dieser Gedanke, Egoismus sei die Basis des Allgemeinwohls, ist das Prinzip, auf dem die Wettbewerbsgesellschaft aufbaut. Es ist erstaunlich, dass zwei sich anscheinend derart widersprechende Prinzipien in einem einzigen Kulturbereich nebeneinander bestehen können, aber die Tatsache ist nicht anzuzweifeln. Eine Folge dieses Widerspruchs ist Verwirrung im einzelnen Menschen. Er wird zwischen zwei Doktrinen hin und hergerissen und in seiner Entwicklung zu einem Ganzen ernstlich gehindert.
Diese Verwirrung ist eine der wichtigsten Ursachen der Verwirrung und Hilflosigkeit des heutigen Menschen.


Gute Nacht!

Donnerstag, 16. März 2017

Der Brief, den du geschrieben,...

von Heinrich Heine
Der Brief, den du geschrieben,
Er macht mich gar nicht bang;
Du willst mich nicht mehr lieben,
Aber dein Brief ist lang.

Zwölf Seiten, eng und zierlich!
Ein kleines Manuskript!
Man schreibt nicht so ausführlich,
Wenn man den Abschied gibt.
Gute Nacht!

Mittwoch, 8. März 2017

Das Lachen

von Robert Walser

Ich habe ein himmlisches Lachen gehört, ein Kinderlachen, ein wunderbares Gelächter, ein ganz feines, silberreines. Ein göttliches Kichern war's. Ich kam gestern, Sonntag, gegen sieben Uhr heim, da hörte ich's, und ich muss hier unbedingt Bericht davon erstatten. Wie arm in ihrem Ernst und mit ihren trocken-ernsthaften Mienen sind die Erwachsenen, die Grossen. Wie reich, wie gross, wie glücklich sind die Kleinen, die Kinder. Ein so volles, reiches, süsses Glück lag im Lachen der zwei Kinder, die neben einer Erwachsenen einhergingen, eine so überschwengliche, reizende Freude. Sie waren ganz Seligkeit, indem sie sich dem Lachen hingaben. Ich lief absichtlich langsam, damit ich sie recht lange lachen hören könne. Ein Genuss war's für sie, sie genossen die ganze Köstlichkeit, die in einem Lachen liegen kann. Sie konnten gar nicht aufhören mit Lachen, und ich sah, wie es sie schüttelte. Sie krümmten sich förmlich darunter. O, so rein war's, so ganz nur kindlich! Worüber sie vielleicht am unbändigsten und am lieblichsten lachten, war die strenge Miene, die das erwachsene Fräulein neben ihnen zu ziehen für nötig erachtete. Des grossen Mädchens Ernst gab ihnen am meisten zu lachen. Doch endlich, von so viel liebreizender Lustigkeit hingerissen, lachte auch die Gemessene, die Ernste und die Grosse. Sie war besiegt von den Kindern und lachte nun wie ein Kind mit den Siegerinnen, den Kleinen. Wie sind über die Grämlichen die Glücklichen Sieger! Die zwei Kinder lachten in ihrer Unschuld über alles, über Heutiges und Gestriges, über dieses und jenes, über sich selber. Sie mussten über ihr eigenes Lachen lachen. Ihr Lachen kam ihnen immer lächerlicher, lustiger vor. Ganz deutlich fühlte und hörte ich's. Ich pries mich glücklich, dass ich das Glöckchenkonzert, das Lachkonzert anhören durfte. Die ganze Strasse entlang lachten sie. Sie wollten fast umfallen, sich fast auflösen und zergehen vor Lachen. Alles an ihnen, den lieben glücklichen Kindern, lachte mit, die Köpfe, die Glieder, die Hände, Füsse und Beine. Sie bestanden ganz nur noch aus Lachen. Wie schimmerte und glitzerte die Lachlust in ihren Augen! Ich glaube fast, sie mussten so grässlich, so grausam, so anhaltend lachen über einen dummen, kleinen Jungen. So schelmisch und wieder so schön war's, so rührend und so ausgelassen. Wahrscheinlich war der Lachanlass nur ganz geringfügig gewesen. Kinder sind eben Künstler im Erfassen eines Grundes, recht selig zu sein. Ein kleiner, leiser Vorfall mag es gewesen sein, und da machten sie eine grosse Geschichte daraus, hingen solch ein langes, grosses, breites, üppiges Lachen daran. Kinder wissen, was sie glücklich macht.


Gute Nacht!

Donnerstag, 2. März 2017

Der März

von Erich Kästner 

Sonne lag krank im Bett.
Sitzt nun am Ofen.
Liest, was gewesen ist.
Liest Katastrophen.

Springflut und Havarie,
Sturm und Lawinen, -
gibt es denn niemals Ruh
drunten bei ihnen.

Schaut den Kalender an.
Steht drauf: " Es werde!"
Greift nach dem Opernglas.
Blickt auf die Erde.

Schnee vom vergangenen Jahr
blieb nicht der gleiche.
Liegt wie ein Bettbezug
klein auf der Bleiche.

Winter macht Inventur.
Will sich verändern.
Schrieb auf ein Angebot
aus andern Ländern.

Mustert im Fortgehn noch
Weiden und Erlen.
Kätzchen blühn silbergrau.
Schimmern wie Perlen.

In Baum und Krume regt
sich's allenthalben.
Radio meldet schon
Störche und Schwalben.

Schneeglöckchen ahnen nun,
was sie bedeuten.
Wenn du die Augen schließt,
hörst du sie läuten. 

Gute Nacht!
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