Montag, 24. November 2014

Ehrfurcht vor dem Leben

von Albert Schweitzer
Die Ethik das Ehrfurcht vor dem Leben erkennt keine relative Ethik an. Als gut lässt sie nur Erhaltung und Förderung von Leben gelten. Alles Vernichten und Schädigen von Leben, wenn es uns nicht durch das Schicksal auferlegt ist, empfindet sie als böse. Gebrauchsfertig zu beziehende Ausgleiche von Ethik und Notwendigkeit hält sie nicht auf Lager. Immer verlangt sie von uns, dass wir in jedem Fall selber entscheiden, inwieweit wir ethisch bleiben können und inwieweit wir uns der Notwendigkeit von Schädigung und Vernichtung von Leben unterwerfen müssen und damit schuldig werden. Immer mehr müssen wir von der Sehnsucht erfasst werden, Leben zu erhalten und Leben zu fördern. In der Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben liegt ein elementarer Begriff von Verantwortung beschlossen, dem wir uns ergeben müssen. Immer von neuem und in immer originaler Weise setzt die absolute Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben sich im Menschen mit der Wirklichkeit auseinander. Sie tut die Konflikte nicht für ihn ab, sondern zwingt ihn, sich in jedem Falle selber zu entscheiden, inwieweit er ethisch bleiben kann und inwieweit er sich der Notwendigkeit von Vernichtung und Schädigung von Leben unterwerfen und damit Schuld auf sich nehmen muss. Nicht durch empfangene Anleitung zu Ausgleichen zwischen ethisch und notwendig kommt der Mensch in der Ethik voran, sondern nur dadurch, dass er die Stimme des Ethischen immer lauter vernimmt, dass er immer mehr von Sehnsucht beherrscht wird, Leben zu erhalten und zu fördern, und dass er in dem Widerstande gegen die Notwendigkeit des Vernichtens und Schädigens von Leben immer hartnäckiger wird. Nur subjektive Entscheide kann der Mensch in den ethischen Konflikten treffen. Niemand kann für ihn bestimmen, wo jedes Mal die äußerste Grenze der Möglichkeit des Verharrens in der Erhaltung und Förderung von Leben liegt. Er allein hat es zu beurteilen, indem er sich dabei von der aufs höchste gesteigerten Verantwortung gegen das andere Leben leiten lässt.


Gute Nacht!

Mittwoch, 12. November 2014

Lied von den Schnecken, die zum Begräbnis ziehen

von Jacques Prévert
Zwei Schnecken ziehen zum Begräbnis
Des verstorbenen Blattes.
Schwarz ist ihr Schneckenhaus
Und ihre Hörnchen tragen einen Trauerflor.
So ziehn sie in die Dämmerung!
An einem herbstlich schönen Abend
Doch als sie endlich ankommen,
Ist’s schon Frühling
Die toten Blätter
Sind alle auferstanden
Und die beiden Schnecken
Sind arg enttäuscht.
Die Sonne aber
Spricht:
Nehmt doch wenigstens Platz.
Trinkt ein Glas Bier.
Wenn’s euch danach ist,
Nehmt wenn ihr mögt,
Den Omnibus nach Paris
Er fährt heut abend.
Die Landschaft ist sehenswert,
Aber tragt keine Trauer
Ich bitte drum,
Es trübt das Weiße im Auge
Und macht häßlich.
Grabgeschichten
Sind traurig und gar nicht nett
Tragt wieder Farben,
Die Farben des Lebens.
Da beginnen alle Tiere,
Alle Bäume und Pflanzen
Aus vollem Hals zu singen!
Das große Lebenslied,
Das Lied des Sommers
Und alles trinkt und prostet.
Es ist ein wirklich hübscher Abend,
Ein hübscher Sommerabend
Und die beiden Schnecken
Kehren nach Hause zurück.
Sehr erhoben,
Voller Glück.
Ein bißchen torkeln sie,
Des vielen Trinkens ungewohnt.
Aber am Himmel droben
Behütet sie der alte Mond.
Gute Nacht!

Sonntag, 2. November 2014

Der Anfang des Universums

von Stephen Hawking

Nehmen wir an, es gibt ein erstes Ereignis. Wodurch wurde es verursacht?
Es gab nicht viele Wissenschaftler, die Lust hatten, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Man versuchte, sie zu vermeiden, indem man entweder, wie die Russen, behauptete, das Universum habe keinen Anfang, oder indem man erklärte, für den Ursprung des Universums sei nicht die Naturwissenschaft, sondern die Metaphysik oder die Religion zuständig. Ich denke, das ist ein Standpunkt, den kein wirklicher Wissenschaftler vertreten darf. Wenn die Gesetze der Wissenschaft am Anfang des Universums außer Kraft gesetzt wären, könnten sie dann nicht auch zu anderen Zeiten versagen? Ein Gesetz ist kein Gesetz, wenn es nur manchmal gilt. Wir müssen uns bemühen, den Anfang des Universums mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu begreifen. Das mag eine Aufgabe sein, die über unsere Kräfte geht, aber versuchen sollten wir es zumindest.
Zwar geht aus den Theoremen, die Penrose und ich bewiesen haben, hervor, daß das Universum einen Anfang gehabt haben muß, doch liefern sie über die Natur dieses Anfangs wenig Information. Sie ließen darauf schließen, daß das Universum in einem Urknall begonnen hat, in einem Punkt, in dem das ganze Universum und alles, was in ihm enthalten ist, zu unendlicher Dichte zusammengepreßt war. An diesem Punkt verliert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie ihre Gültigkeit, so daß sie nicht zu der Vorhersage taugt, wie das Universum angefangen hat. So blieb nur der Schluß, der Ursprung des Universums entziehe sich offenbar dem Zugriff der Naturwissenschaft. Damit durften sich die Wissenschaftler jedoch nicht zufriedengeben. Wie (...) dargelegt, büßt die allgemeine Relativitätstheorie in der Nähe des Urknalls ihre Gültigkeit ein, weil es sich bei ihr um eine sogenannte klassische Theorie handelt.
Sie bezieht nicht die Unschärferelation ein, das Zufallselement der Quantentheorie, das Einstein mit dem Einwand abgelehnt hat, der Herrgott würfle nicht. Doch nach allem, was wir heute wissen, hat der liebe Gott eine ziemlich ausgeprägte Spielernatur. Man kann sich das Universum als riesiges Casino vorstellen, in dem bei jeder Gelegenheit Würfel geworfen und Rouletteräder gedreht werden.


Gute Nacht!
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