Montag, 27. November 2017

Das Nichtstun

von Michel de Montaigne

Auf Brachland wuchert, wenn der Boden fett und gehaltreich ist, vielerlei nutzloses Unkraut;…so ist es auch beim menschlichen Geist; wenn dieser sich nicht auf ein bestimmtes Thema konzentriert, durch das er in Zucht gehalten wird, schweift er ordnungslos nach allen Richtungen in dem unbegrenzten Reich der Phantasie umher; […] bei diesem unruhigen Schweifen bringt er lauter Torheiten und Grillen hervor; "Wahngebilde werden geschaffen wie Fieberträume." Das menschliche Denken wird sinnlos, wenn es kein bestimmtes Ziel hat; denn, so heißt es im Sprichwort, wer überall ist, ist nirgends: "Wenn einer viele Heimaten hat, hat er keine Heimat."
Vor kurzem habe ich den Entschluss gefasst, mich in Schloss Montaigne zur Ruhe zu setzen, in der Absicht, mich, soweit möglich, nur noch darum zu kümmern, wie ich ruhig und ungestört den kurzen Rest meines Lebens verbringen könne; da dachte ich, ich könnte meinem Geist keinen größeren Gefallen tun, als wenn ich ihm ermöglichte, fern von jeder anderen Betätigung sich selbst zu hegen und zu pflegen und in sich zu stiller Ruhe zu kommen; ich hoffte, dass ihm das jetzt leichter werden würde als früher, weil doch anzunehmen war, er sei mit der Zeit vorsichtiger und reifer geworden: ich finde aber, gerade das Gegenteil ist eingetreten, da "das Nichtstun immer eine Zersplitterung des Denkens erzeugt"; der Geist benimmt sich wie ein durchgegangenes Pferd; er arbeitet sich hundertmal mehr für sich selbst ab, als er sich früher in fremdem Dienst mühte; und er fördert ununterbrochen phantastische Hirngespinste und Missgeburten zutage, alle ohne Sinn und Zusammenhang; damit ich diese kindischen und merkwürdigen Erzeugnisse meines Geistes mir in Ruhe ansehen kann, habe ich mich daran gemacht, sie aufzuzeichnen in der Hoffnung, dass sich mein Geist mit der Zeit selber schämt, wenn er sieht, was er da angestellt hat.


Gute Nacht!
G
M
T
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Dienstag, 21. November 2017

Ach wie stille, ach wie stille

von Friedrich Heinrich Oser
Ach wie stille, ach wie stille
Ward's auf einmal in dem Haus,
Wo noch erst mein Kindlein hüpfte
Fröhlich lärmend ein und aus!

Ach wie stille, ach wie stille! —
Weckt mich Nachts kein lieber Laut,
Rufst den süßen Mutternamen
Nimmer mir, mein Engel traut!

Ach wie stille, ach wie stille
Ward's auf einmal, armes Herz,
Ja recht still, um auszuweinen
Ungestört den tiefen Schmerz!


Gute Nacht!

Sonntag, 12. November 2017

Das Hemd des Glücklichen

von Emanuel bin Gorion

Ein König war krank und ließ im Land verkünden, er wolle die Hälfte seines Reiches dem geben, der ihm Heilung bringe. Da versammelten sich die weisen Männer und beratschlagten, wie der König zu heilen wäre. Doch keiner wusste ein Mittel zu nennen. Nur einer meinte, es sei dennoch Hilfe möglich. Er sagte: Wenn man einen Menschen fände, der vollkommen glücklich wäre, diesem das Hemd auszöge und es den König anziehen ließe, so würde der Kranke genesen.
Sogleich wurden Boten entsandt, einen solchen Glücklichen zu suchen, und der Sohn des Königs zog ihnen voran. Aber sie konnten keinen Menschen finden, der mit seinem Schicksal zufrieden gewesen wäre. War einer reich, so litt er Krankheit und Schmerzen; war ein anderer gesund, so drückten ihn Armut und Not. Und fehlte einem dritten auch nichts, erfreute er sich der Gesundheit und hatte er Geld die Fülle, so keifte im Hause eine böse Frau und ungeratene Kinder machten ihm Sorge. Kurz, jeder klagte über sein Los und schalt es ungerecht.
Eines Abends aber ging der Sohn des Königs an einer Hütte vorbei und hörte drinnen einen Menschen so zu sich selber sprechen: „Nun hab ich meine Arbeit getan, hab mich sattgegessen und sattgetrunken und gehe schlafen; was fehlt mir noch? Ich bin der glücklichste Mensch.“ – Wie der Prinz diese Worte vernahm, ward er voll großer Freude und wollte das Hemd des Glücklichen für seinen Vater haben. Dem Armen sollte man Geld geben, wieviel er nur haben wollte.
Die Diener des Königs kamen zu dem Glücklichen und wollten ihm das Hemd ausziehen; allein – der Fröhliche war so arm, dass er nicht einmal
ein Hemd am Leibe hatte. 


Gute Nacht!

Donnerstag, 2. November 2017

Der November

von Erich Kästner
Ach, dieser Monat trägt den Trauerflor ...
Der Sturm ritt johlend durch das Land der Farben.
Die Wälder weinten. Und die Farben starben.
Nun sind die Tage grau wie nie zuvor.
Und der November trägt den Trauerflor.

Der Friedhof öffnete sein dunkles Tor.
Die letzten Kränze werden feilgeboten.
Die Lebenden besuchen ihre Toten.
In der Kapelle klagt ein Männerchor.
Und der November trägt den Trauerflor.

Was man besaß, weiß man, wenn man's verlor.
Der Winter sitzt schon auf den kahlen Zweigen.
Es regnet, Freunde, und der Rest ist Schweigen.
Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor.
Und der November trägt den Trauerflor ...

Gute Nacht!
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