von Kurt Tucholsky
Der
Mensch will alles zu Ende machen. Wird er von einer kleinen Arbeit
abgerufen, die grade vor ihrem Ende steht, so kann man hundert gegen
eins wetten, dass jeder von uns sagt: »Einen Augenblick mal – ich will
das bloß noch ... «, die Arbeit ist vielleicht gar nicht wichtig, aber
man kann sie doch so nicht liegenlassen, denn dann schreit sie. Und
immer ist diese kleine Zwangsvorstellung stärker als alle Vernunft.
Der
Mensch will auch alles zu Ende lesen – wenn der Schriftsteller etwas
taugt. Was ein richtiges Buch ist, das muß einen ganzen Haushalt
durcheinanderbringen: die Familie prügelt sich, wer es weiterlesen darf,
die Temperatur ist beängstigend, und Mittag wird überhaupt nicht mehr
gekocht. Und nichts ist schlimmer, als ein Buch anzufangen und es dann
nicht mehr zu Ende lesen zu können. Das ist ganz schrecklich. Haben wir
nicht schon alle einmal einen Roman auf der Reise verloren,
liegengelassen, ›verborgt‹ (lebe wohl! lebe wohl!) und uns dann krumm
geärgert, dass wir nicht wissen, wie es weitergeht? Da gibt es ja dann
das probate Mittel, sich das Buch allein zu Ende zu dichten, aber das
wahre Glück ist das auch nicht, denn dabei muß man sich anstrengen,
während man bei der Lektüre die ganze Geschichte ohne eigene Mühe vor
sich ausgebreitet sieht – und dann weiß man doch auch nie, ob man
richtig gedichtet hat, nein, das führt zu nichts. Der Dichter muß
dichten, und der Leser will lesen. Umgekehrt ist es naturwidrig.
Im
Theater ist es schon anders. Wie dritte Akte aussehen, weiß ich nicht so
ganz genau – ich gehe meist schon nach dem zweiten fort. Da reden sie
so lange und dann hören sie gar nicht auf, und was wird denn schon dabei
herauskommen! Wenn es eine Operette ist, dann wird zum Schluß die Musik
noch lauter werden, und alle kommen an die Rampe getobt und winken ins
Publikum, und ich bekomme meinen Mantel viel zu spät, weil vor mir der
große, dicke Herr steht, der immer sagt: »Ich warte aber schon so lange
... !« Und wenn es ein ernstes Stück ist, dann sehn sie sich zum Schluß
in die Augen, zart verdämmert die Abendröte im Stübchen, und Olga sagt
zu Friedrich: »Auf immer.« Und wieder kriege ich meinen Mantel zu spät.
Nein, dritte Akte sind nicht schön.
Es gibt ja Leute, die bekommen
niemals den Anfang der Stücke zu sehn, weil sie mit ihren Frauen ins
Theater gehen müssen, und für solche Paare sind dann die dritten Akte
da.
Es gibt übrigens eine Sorte Menschen, die schmerzt es, wenn man
das Theater vorzeitig verläßt – das sind die Logenschließer. Vor dem
Krieg in Berlin, bei ›Puppchen, du bist mein Augenstern‹, und nach dem
Krieg in London, bei Wallace, dem bekannten Anhänger der Prügelstrafe,
fielen mir beidemal bejahrte Logenschließer in den Paletot: »Sie wollen
schon gehen? Aber das schönste kommt ja erst ... !« Aber roh und herzlos
stieß ich die bekümmerten Greise beiseite und entfloh, ins Freie, wo
die fröhlichen Omnibusse rollten und wo ich ein viel schöneres Stück
kostenlos zu sehen bekam: ›Abend in der Stadt‹, in vielen Akten.
Gute Nacht!