Montag, 28. April 2014

An sich selbst

von Andreas Gryphius 
Mir grauet vor mir selbst; mir zittern alle Glieder,
Wenn ich die Lipp und Nas und beider Augen Kluft,
Die blind vom Wachen sind, des Atems schwere Luft
Betracht und die nun schon erstorbnen Augen-Lider.
 
Die Zunge, schwarz vom Brand, fällt mit den Worten nieder
Und lallt ich weiß nicht was; die müde Seele ruft
Dem großen Tröster zu; das Fleisch ruft nach der Gruft;
Die Ärzte lassen mich; die Schmerzen kommen wieder.
 
Mein Körper ist nicht mehr als Adern, Fell und Bein.
Das Sitzen ist mein Tod, das Liegen meine Pein.
Die Schenkel haben selbst nun Träger wohl vonnöten.
 
Was ist der hohe Ruhm, und Jugend, Ehr und Kunst?
Wenn diese Stunde kommt, wird alles Rauch und Dunst,
Und eine Not muß uns mit allem Vorsatz töten.
Gute Nacht!

Freitag, 25. April 2014

Noch schnell zu Ende bringen

 
von Kurt Tucholsky

Der Mensch will alles zu Ende machen. Wird er von einer kleinen Arbeit abgerufen, die grade vor ihrem Ende steht, so kann man hundert gegen eins wetten, dass jeder von uns sagt: »Einen Augenblick mal – ich will das bloß noch ... «, die Arbeit ist vielleicht gar nicht wichtig, aber man kann sie doch so nicht liegenlassen, denn dann schreit sie. Und immer ist diese kleine Zwangsvorstellung stärker als alle Vernunft.
Der Mensch will auch alles zu Ende lesen – wenn der Schriftsteller etwas taugt. Was ein richtiges Buch ist, das muß einen ganzen Haushalt durcheinanderbringen: die Familie prügelt sich, wer es weiterlesen darf, die Temperatur ist beängstigend, und Mittag wird überhaupt nicht mehr gekocht. Und nichts ist schlimmer, als ein Buch anzufangen und es dann nicht mehr zu Ende lesen zu können. Das ist ganz schrecklich. Haben wir nicht schon alle einmal einen Roman auf der Reise verloren, liegengelassen, ›verborgt‹ (lebe wohl! lebe wohl!) und uns dann krumm geärgert, dass wir nicht wissen, wie es weitergeht? Da gibt es ja dann das probate Mittel, sich das Buch allein zu Ende zu dichten, aber das wahre Glück ist das auch nicht, denn dabei muß man sich anstrengen, während man bei der Lektüre die ganze Geschichte ohne eigene Mühe vor sich ausgebreitet sieht – und dann weiß man doch auch nie, ob man richtig gedichtet hat, nein, das führt zu nichts. Der Dichter muß dichten, und der Leser will lesen. Umgekehrt ist es naturwidrig.
Im Theater ist es schon anders. Wie dritte Akte aussehen, weiß ich nicht so ganz genau – ich gehe meist schon nach dem zweiten fort. Da reden sie so lange und dann hören sie gar nicht auf, und was wird denn schon dabei herauskommen! Wenn es eine Operette ist, dann wird zum Schluß die Musik noch lauter werden, und alle kommen an die Rampe getobt und winken ins Publikum, und ich bekomme meinen Mantel viel zu spät, weil vor mir der große, dicke Herr steht, der immer sagt: »Ich warte aber schon so lange ... !« Und wenn es ein ernstes Stück ist, dann sehn sie sich zum Schluß in die Augen, zart verdämmert die Abendröte im Stübchen, und Olga sagt zu Friedrich: »Auf immer.« Und wieder kriege ich meinen Mantel zu spät. Nein, dritte Akte sind nicht schön.
Es gibt ja Leute, die bekommen niemals den Anfang der Stücke zu sehn, weil sie mit ihren Frauen ins Theater gehen müssen, und für solche Paare sind dann die dritten Akte da.
Es gibt übrigens eine Sorte Menschen, die schmerzt es, wenn man das Theater vorzeitig verläßt – das sind die Logenschließer. Vor dem Krieg in Berlin, bei ›Puppchen, du bist mein Augenstern‹, und nach dem Krieg in London, bei Wallace, dem bekannten Anhänger der Prügelstrafe, fielen mir beidemal bejahrte Logenschließer in den Paletot: »Sie wollen schon gehen? Aber das schönste kommt ja erst ... !« Aber roh und herzlos stieß ich die bekümmerten Greise beiseite und entfloh, ins Freie, wo die fröhlichen Omnibusse rollten und wo ich ein viel schöneres Stück kostenlos zu sehen bekam: ›Abend in der Stadt‹, in vielen Akten.
 
Gute Nacht!

Montag, 14. April 2014

Uninteressante Menschen gibt es nicht

von Jewgeni Jewtuschenko 



Nein, uninteressante Menschen gibt es nicht
Jeder hat seine Geschichte, sein Gesicht.
Das ihm allein gehört. Ja, jeder ein Planet:
denn da ist keiner, der ihm gleicht. Versteht:
Auch wenn da einer unauffällig lebt,
Und nichts als Unauffälligkeit erstrebt,
So ist er unter allen andern dann
Durch seine Unauffälligkeit grad interessant. 
Denn wenn ein Mensch stirbt, stirbt mit ihm
Sein erster Schnee aus grauer Früh,
Sein erster Kuss, sein erster Zorn:
Es ist als wär er nie geborn'. 
Das ist Gesetz, ist Lebenslauf:
Der Mensch stirbt nicht, die Welt hört auf.
Und jedes Mal, denk ich daran,
Vor Qual und Schmerzen wein ich dann.

 Gute Nacht!

Montag, 7. April 2014

Über die Ursachen des Unglücks

von Bertrand Russell

Die meisten Menschen lassen es in hohem Grade an Kontrolle über ihre Gedanken fehlen. Damit meine ich, daß sie nicht aufhören können, sich innerlich über Dinge abzuquälen, an denen zur Zeit doch nichts zu ändern ist. Die Männer nehmen ihre geschäftlichen Sorgen mit zu Bett, und statt während der Nachtstunden frische Kräfte zu sammeln, damit sie es mit den Anforderungen des nächsten Tages aufnehmen können, überdenken sie zum hundertsten und tausendsten Male Probleme, denen sie im Augenblick machtlos gegenüberstehen, und zwar überdenken sie sie nicht im Hinblick auf ein rasches zielbewußtes Eingreifen, sondern mit jener unsinnigen Aufgeregtheit, die für die Grübeleien schlafloser Nächte kennzeichnend ist. Noch am Morgen haftet ihnen etwas von diesem mitternächtlichen Wahnsinn an und trübt ihr Urteil, verdirbt ihnen die Laune und läßt sie über jedes Hindernis in Raserei geraten. Der Kluge beschäftigt sich nur dann mit seinen Sorgen, wenn es einen Zweck hat; sonst denkt er an etwas anderes oder, solange es Nacht ist, überhaupt an nichts. Ich will nun nicht sagen, jedermann könne angesichts einer großen Krise, etwa von unmittelbar drohendem Ruin oder wenn ein Mann Grund zu dem Verdacht hat, daß seine Frau ihn betrügt, die Sorgen in Augenblicken, wo ein Handeln sich verbietet, völlig ausschalten. Das ist nur ganz wenigen außergewöhnlich disziplinierten Geistern möglich. Ganz gut möglich aber ist es, die gewöhnlichen Alltagssorgen auszuschalten, außer in den Stunden, wo man tätig dagegen vorgehen kann. Es ist erstaunlich, in welchem Maße sowohl Glück wie Leistungsfähigkeit durch die Pflege eines wohlgeordneten Geistes gefördert werden können, das heißt eines Geistes, der, statt sich immerfort in unzweckmäßiger Weise mit den Dingen zu beschäftigen, sich zur richtigen Zeit in angemessener Weise damit beschäftigt. Steht ein schwieriger oder quälender Beschluß bevor, so tut man gut, ruhig und vernünftig darüber nachzudenken, sobald alle Bausteine dazu zusammengetragen sind, und ihn bald zu fassen; und ist das einmal geschehen, so sollte man ihn nicht umstürzen, es sei denn, daß neue Tatsachen hinzukämen. Nichts ist so zermürbend, nichts so unnütz wie Unentschlossenheit.


Gute Nacht!

Samstag, 5. April 2014

Eros

von Else Lasker-Schüler

O, ich liebte ihn endlos!
Lag vor seinen Knie'n
Und klagte Eros
Meine Sehnsucht.
O, ich liebte ihn fassungslos.
Wie eine Sommernacht
Sank mein Kopf
Blutschwarz auf seinen Schoß
Und meine Arme umloderten ihn.
Nie schürte sich so mein Blut zu Bränden,
Gab mein Leben hin seinen Händen,
Und er hob mich aus schwerem Dämmerweh.
Und alle Sonnen sangen Feuerlieder
Und meine Glieder
Glichen
Irrgewordenen Lilien.

Gute Nacht!
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