Montag, 30. Januar 2017

Über Neid und Gerechtigkeit

von Bertrand Russell

Es ist fast überflüssig zu betonen, dass der Neid eng mit dem Konkurrenzsinn verschwistert ist. Wir neiden niemandem ein Glück, von dem wir wissen, dass es völlig unerreichbar für uns ist. Im Zeitalter der strengen sozialen Abstufung beneideten die unteren Schichten die oberen so lange nicht, wie der Glaube an die Gottgewolltheit einer Scheidung in Arm und Reich vorherrschte. Der Bettler beneidet nicht den Millionär, sondern bettelnde Kollegen, die bessere Geschäfte machen.
Die mangelnde Stabilität in der sozialen Schichtung der modernen Welt hat im Verein mit den gleichmacherischen Lehren der Demokratie und des Sozialismus das Gebiet des Neides ungemein erweitert. Das ist ein Übelstand unseres Zeitalters, jedoch ein Übelstand, der hingenommen werden muss, damit wir zu einem gerechteren Sozialsystem gelangen können. Sobald man Ungleichheiten unter die Lupe der Vernunft nimmt,  erkennt man sie als ungerecht, es sei denn, sie beruhten auf irgend einem ganz besonderen persönlichen Verdienst. Und sobald eine Ungerechtigkeit einmal erkannt ist, sieht die daraus erwachsende Missgunst keine andere Rettung für sich als die, sie zu beseitigen.
So ist unsere Zeit eine, in der der Neid eine besonders große Rolle spielt. Die Armen beneiden die Reichen, die ärmeren Staaten die reicheren, die Frauen die Männer, tugendsame Frauen diejenigen ihrer Geschlechtsgenossinnen, die trotz ihrer brüchigen Tugend ungestraft davonkommen. Nun ist zwar nicht zu leugnen, dass der Neid die Haupttriebkraft ist, die für Gerechtigkeit zwischen den verschiedenen Klassen, verschiedenen Völkern und verschiedenen Geschlechtern sorgt. Nicht weniger wahr aber ist, dass die durch den Neid geschaffene Gerechtigkeit meist die denkbar schlechteste ist, indem sie weniger darauf hinzielt, die Lage der Unglücklichen zu verbessern als die der Bevorzugten zu verschlechtern. Jede Leidenschaft, die im Privatleben zersetzend wirkt, muss auch im öffentlichen Leben zersetzend wirken. Dass aus etwas so Schlimmen wie dem Neid Gutes entspringt, ist nicht anzunehmen. Darum muss jeder, der aus idealen Gründen eine tiefgreifende Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit ersehnt, hoffen, dass andere Kräfte als Neid und Missgunst bei der Herbeiführung dieser Wandlungen ausschlaggebend sein werden.


Gute Nacht!

Mittwoch, 25. Januar 2017

Seufzer eines Kranken

von Johann Wilhelm Ludwig Gleim
Mir Armen, den des Fiebers Kraft
Fast nöthigt, in das Grab zu sinken,
Verbeut der Arzt den Rebensaft,
Und heißt mich Wasser trinken.
Ihr Götter, steht mir Armen bei!
Schafft, daß der Wein nicht schädlich sey;
Wo nicht, so laßt, Gesundheit zu erwecken,
Das Wasser besser schmecken.
Gute Nacht!

Sonntag, 15. Januar 2017

Vom Arbeiten

von Ludwig Hohl

Der Mensch lebt nur kurze Zeit.
Verhängnisvoll ist, sich einzubilden – genauer: die kindische Einbildung zu bewahren -, daß wir lange leben. Alles würde, wenn
wir bei Zeiten von der Kürze unseres Lebens wüßten, sehr geändert sein.
Nun sieht unser Leben von der Kindheit aus gesehen freilich lang aus; von seinem Ende aus unerhört kurz; welches ist seine reale Dauer? Sie hängt davon ab, wie oft und von wie früh an du dein Leben als kurz betrachtet hast. (Denn nicht die Uhr mißt die Länge eines Lebens; sondern das, was drin war.)
Alles, was wir handeln, muß, wenn es Wert haben soll, vom Betrachtungspunkt der Kürze unseres Lebens aus gehandelt sein.
Stehen wir nicht da, so werden wir, auch wenn wir scheinbar tätig sein sollten (äußere Gewalten treiben uns zumeist zu einer scheinbaren Tätigkeit und lassen uns ihr nicht mehr entrinnen), vorwiegend in immerwährender Erwartung leben; stehst du aber da, so willst du vor allem andern selber rasch noch etwas tun (- und mit einem ganz andern Ernste, als jenes Tun geschieht, in dem dich fremde, äußere Mächte gefangen halten). Es ist aber etwas tun und solches Tun – eigenes Tun, zu dem dich nicht fremde äußere, sondern innere Gewalten nötigen -, das einzige, was Leben gibt, was retten kann.
Solches Tun nenne ich Arbeiten.
Wir erinnern uns vielleicht noch an das Wort, das ein berühmter Greis über den Verlauf des Lebens geäußert hat: man werde nur älter, nicht weiser. Kann es uns verwundern, dass eben der Greis Hamsun solches herausfinden muss? Wir werden der Meinung dieses großen Lyrikers das Wort eines dritten Greises gegenüberstellen, der ganz gewiss kein geringerer Lyriker war als Hamsun und ganz gewiss ein größerer Geist: "Es wäre nicht der Mühe wert, 70 Jahre alt zu werden, wenn alle Weisheit der Welt Torheit wäre vor Gott." (Goethe)
Dass wir aus dem Leben hinaus in den Tod hinüber nichts mitnehmen können, weiß jeder. Aber wer weiß die ebenso große Wahrheit, dass wir auch ins Leben hinein nichts mitgebracht haben von irgendeinem Wert? Alles, was irgendeiner mitbringen konnte, waren Bedingungen. Die Werte, wenn er welche haben wollte, musste er von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute erzeugen. Denn Werte können nicht aufbewahrt werden, das ist ja eben der Sinn aller Veränderung, die nicht aufzubewahrenden Werte immer wieder gegenwärtig zu machen. Du brennst - die Flamme ist der Wert! Und daher sind jene allein unserer Sympathie würdig, die, obgleich alle Veränderungen umsonst sind, doch die Veränderungen wollen, um das Unveränderliche zu erhalten.


Gute Nacht!

Samstag, 7. Januar 2017

Der Januar

von Erich Kästner
Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
Der Weihnachtsmann ging heim in seinen Wald.
Doch riecht es noch nach Krapfen auf der Stiege.
Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
Man steht am Fenster und wird langsam alt.
 
Die Amseln frieren. Und die Krähen darben.
Und auch der Mensch hat seine liebe Not.
Die leeren Felder sehnen sich nach Garben.
Die Welt ist schwarz und weiß und ohne Farben.
Und wär so gerne gelb und blau und rot.
 

Umringt von Kindern wie der Rattenfänger,
tanzt auf dem Eise stolz der Januar.
Der Bussard zieht die Kreise eng und enger.
Es heißt, die Tage würden wieder länger.
Man merkt es nicht. Und es ist trotzdem wahr.
 

Die Wolken bringen Schnee aus fremden Ländern.
Und niemand hält sie auf und fordert Zoll.
Silvester hörte man’s auf allen Sendern,
dass sich auch unterm Himmel manches ändern
und, außer uns, viel besser werden soll.
 

Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
Und ist doch hunderttausend Jahre alt.
Es träumt von Frieden. Oder träumt’s vom Kriege?
Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
Und stirbt in einem Jahr. Und das ist bald.
Gute Nacht!
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