Montag, 31. August 2015

Über die Vernunft

von Khalil Gibran

Wenn die Vernunft zu dir spricht, höre auf das, was sie sagt, und du bist gerettet. Mach guten Gebrauch von ihren Weisungen, und du bist gegen alles gewappnet. Denn der Herr hat dir keinen besseren Führer gegeben als die Vernunft und keine stärkere Waffe als die Vernunft. Wenn die Vernunft zu deinem innersten Selbst spricht, bist du gegen das Verlangen gefeit. Denn die Vernunft ist ein kluger Minister, ein verlässlicher Führer und ein weiser Ratgeber. Die Vernunft ist ein Licht in der Finsternis, ebenso wie der Zorn eine Finsternis im Licht ist. Sei klug - lass dich von der Vernunft, nicht von den Trieben leiten! Bedenke aber, dass die Vernunft, und sei sie auch an deiner Seite, nichts vermag ohne die Hilfe des Wissens. Ohne ihren Blutsbruder, das Wissen, ist die Vernunft unbehaust und arm; und Wissen ohne Vernunft ist wie ein Haus ohne Hüter. Und selbst Liebe, Gerechtigkeit und Güte vermögen wenig, wenn die Vernunft nicht auch bei ihnen ist. Der Gelehrte, dem es an Urteilskraft mangelt, gleicht einem Soldaten, der unbewaffnet in die Schlacht zieht. Seine Wut wird den reinen Quell des Lebens seiner Gemeinschaft vergiften, und er wird wie der Alkohol-Samen in einem lauteren Wassers sein. Vernunft und Bildung sind Leib und Seele. Ohne den Körper ist die Seele nichts als leerer Wind. Ohne die Seele ist der Leib nur ein sinnloses Gestell.


Gute Nacht!

Sonntag, 23. August 2015

Wie er wolle geküsset sein

von Paul Fleming
Nirgends hin, als auf den Mund:
Da sinkts in des Herzen Grund.
Nicht zu frei, nicht zu gezwungen,
Nicht mit gar zu faulen Zungen.

Nicht zu wenig, nicht zu viel:
Beides wird sonst Kinderspiel.
Nicht zu laut und nicht zu leise:
Bei der Maß' ist rechte Weise.

Nicht zu nahe, nicht zu weit:
Dies macht Kummer, jenes Leid.
Nicht zu trocken, nicht zu feuchte,
Wie Adonis Venus reichte.

Nicht zu harte, nicht zu weich,
Bald zugleich, bald nicht zugleich.
Nicht zu langsam, nicht zu schnelle,
Nicht ohn' Unterschied der Stelle.

Halb gebissen, halb gehaucht,
Halb die Lippen eingetaucht,
Nicht ohn Unterschied der Zeiten,
Mehr alleine denn bei Leuten.

Küsse nun ein jedermann,
Wie er weiß, will, soll und kann!
Ich nur und die Liebste wissen,
Wie wir uns recht sollen küssen. 
Gute Nacht!

Montag, 10. August 2015

Geduld

von Gerhard Branstner

„Das Wichtigste ist Geduld“, sagte ein Mann zu seinem Freund, als diesem ein hohes Amt übertragen worden war. Der Freund versprach, den Rat zu befolgen.
„Vergiss es nicht“, wiederholte der Mann, „das Wichtigste ist Geduld.“
Der Freund nickte zustimmend. Doch der Mann sagte
ein drittes Mal: „Das Wichtigste ist, niemals die Geduld zu verlieren.“
Da wurde der Freund ärgerlich und rief: „Hältst du mich für einen Schwachkopf? Scher dich zum Teufel mit deinem albernen Geschwätz!“
„Siehst du, jetzt hast du sie schon verloren“, sagte der Mann, „dabei habe ich dir dreimal gesagt, dass Geduld das Wichtigste ist.“

Also: Geduld braucht man vor allem dann, wenn man sie leicht verlieren kann.


Gute Nacht!
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