Samstag, 14. Dezember 2019

Billet doux von Görgel an seinen Herrn

von Matthias Claudius

Es schneit noch immer, mein lieber Herr, als obs gar nicht wieder aufhören wolle.

Was doch für eine Menge Schnee in der Welt ist! hier soviel Schnee! und in der Pfalz soviel! und in Amerika! und in der Tanne! – ich pflege denn so meinen Gang nach der Tanne zu haben, weiß Er wohl. Der große Wald ist von Natur mein Lustrevier, und die Tanne liegt mir so bequem, grade am Tor, und führt eine schöne lange Lindenallee dahin; denn sind auch immer so viele arme Leute darin, alt und jung, die Holz sammeln, und auf dem Kopf zu Hause tragen; und das seh ich so mit an, und gehe meinen Gang hin. Seit der viele Schnee gefallen ist, fehlt mir aber meine Gesellschaft; die armen Leute können nicht zu, und ich kann denken, dass sie sowohl hier, als überall wo soviel Schnee liegt, bei der Kälte übel daran sind. Mein Herr hat gottlob einen warmen Rock und eine warme Stube, da merkt Er's nicht so, aber wenn man nichts in und um den Leib hat und denn kein Holz im Ofen ist, da friert's einen gewaltig.

Am Nordpol, hinter Frankfurt, soll Sommer und Winter hoch Schnee liegen, sagen die Gelehrten, und in den Hundstagen treiben da Eisschollen in der See, die so groß sind als die ganze Herrschaft Epstein, und tauen ewig nicht auf! und doch hat der liebe Gott allerlei Tiere da, und weiße Bären, die auf den Eisschollen herumgehen und guter Dinge sind, und große Walfische spielen in dem kalten Wasser und sind fröhlich. Ja, und auf der andern Seite unter der Linie, über Heidelberg hinaus, brennt die Sonne das ganze Jahr hindurch, dass man sich die Fußsohlen am Boden sengt. Und hier bei uns ist's bald Sommer und bald Winter. Nicht wahr, mein lieber Herr, das ist doch recht wunderbar! und der Mensch muss es sich heiß oder kalt um die Ohren wehen lassen, und kann nichts davon noch dazu tun, er sei Fürst oder Knecht, Bauer oder Edelmann. Wenn ich das so bedenke, so fällts mir immer ein, dass wir Menschen doch eigentlich nicht viel können, und dass wir nicht stolz und störrisch, sondern lieber hübsch bescheiden und demütig sein sollten. Sieht auch besser aus, und man kommt weiter damit.

Nun Gott befohlen, lieber Herr, und wenn Er 'n Stück Holz übrig hat, geb' Er's hin, und denk' Er, dass die armen Leute keine weiße Bären noch Walfische sind.
 

Sein Diener Görgel.

Gute Nacht!

Montag, 25. November 2019

Dämmerung

von Carl Weitbrecht
Stille, stille!
Der Tag ist vergangen,
Tief drunten verklangen
Die letzten Stimmen,
Im Zwielicht schwimmen
Höhen und Wald –
Ein Atem weht,
Ein zitternd' Gebet
Ringsum im Kreise –
Und eine Seele geht
Auf die letzte Reise.
Gute Nacht!

Montag, 18. November 2019

Bäume

von Hermann Hesse

Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen. Ich verehre sie, wenn sie in Völkern und Familien leben, in Wäldern und Hainen. Und noch mehr verehre ich sie, wenn sie einzeln stehen. Sie sind wie Einsame. Nicht wie Einsiedler, welche aus irgendeiner Schwäche sich davongestohlen haben, sondern wie große, vereinsamte Menschen, wie Beethoven und Nietzsche. In ihren Wipfeln rauscht die Welt, ihre Wurzeln ruhen im Unendlichen; allein sie verlieren sich nicht darin, sondern erstreben mit aller Kraft ihres Lebens nur das Eine: ihr eigenes, in ihnen wohnendes Gesetz zu erfüllen, ihre eigene Gestalt auszubauen, sich selbst darzustellen. Nichts ist heiliger, nichts ist vorbildlicher als ein schöner, starker Baum.
Wenn ein Baum umgesägt worden ist und seine nackte Todeswunde der Sonne zeigt, dann kann man auf der lichten Scheibe seines Stumpfes und Grabmals seine ganze Geschichte lesen: in den Jahresringen und Verwachsungen steht aller Kampf, alles Leid, alle Krankheit, alles Glück und Gedeihen treu geschrieben, schmale Jahre und üppige Jahre, überstandene Angriffe, überdauerte Stürme. Und jeder Bauernjunge weiß, daß das härteste und edelste Holz die engsten Ringe hat, daß hoch auf Bergen und in immerwährender Gefahr die unzerstörbarsten,kraftvollsten, vorbildlichsten Stämme wachsen.


Gute Nacht!

Montag, 11. November 2019

Gesunkener Mut

von Leopold Schefer
Ach, du Erinnerung, verschonest Keinen!
Auch der gewes'ne Glückliche muss weinen.
Das ist der Rache altes Recht auf Erden:
„Kein Lebender soll immer glücklich werden!"

Wer noch das Kleinste, Feinste hoch gehalten,
Dem muss vom Gift der Welt das Herz erkalten,
Und ihm erscheint im Graun des Totenlichts
Die alte Öde und das große Nichts.
Gute Nacht!

Sonntag, 3. November 2019

Das Werden des Menschen in der Politik

von Karl Jaspers

Kant sagte, die wichtigsten Ereignisse der neueren Geschichte seien die Schweizer, holländischen, englischen Freiheitskämpfe gewesen. Aus ihrem Geist ist der amerikanische Freiheitskampf in neuer Ursprünglichkeit erwachsen. Wunderbar der Mut, der hohe Schwung, das Maß, die Besonnenheit all dieser Freiheitskämpfer, die aus der Eigenständigkeit auch die Kraft hatten, den der bloßen Gewalt gehorchenden Massen durch die eigene Gewalt, klüger und opferbereiter, überlegen zu werden. Nur je für eine Weile hat es bisher diese zuverlässige politische Freiheit gegeben, uns Nachfahren für immer zur Ermutigung und zum Vorbild.
Das Unheimliche ist: In der Freiheit selber liegt ein Grund des Verderbens.
Die Welt politischer Freiheit ist verloren ohne große Staatsmänner, die durch die Schulung freier Männer zuverlässig von Generation zu Generation neu erwachsen. Mit allem, was sie tun, kämpfen sie in den gegebenen Chancen der Freiheit für diese. Sie kennen die Gefahr. Das Wagnis lohnt sich ihnen, weil es um das höchste Daseinsgut der Menschen geht. Sie haben Mut, Urteilskraft und Geduld. Von ihnen gilt, was von Perikles berichtet wurde: dass man ihn, seitdem er Athen lenkte, nicht mehr habe lachen sehen.
Anders die Politiker. Sie sind opportunistische Realisten, Betriebmacher, listige Menschen und Erpresser. Unbekümmert vital handeln sie im Namen der Freiheit gegen die Bedingungen der Freiheit. Sie entziehen sich, wenn sie bloßgestellt sind, durch Lügen und durch Witze. Durch ihr Verhalten verhöhnen sie das Parlament, das, gleicher Art, es kaum merkt und nicht daran denkt, solche Frevler am Geist der Politik aus dem Sattel zu werfen. Mit sentimentalen Sprüchen täuschen sie einen Ernst vor. Sie sind Verderber der Freiheit.
Dieser Typus von Politikern hält seine Aufgabe, ohne Berufung, für einen Beruf, einen vielfach aussichtsreichen, mit gutem Einkommen und Pensionsberechtigung. Sie meinen, er sei risikolos. Sie denken ohne Verantwortung.
Der Geist der freien Welt gibt ein zweideutiges Bild. Wir freien Völker sind noch keineswegs politisch eigentlich frei. Im wirtschaftlichen Wohlergehen, im Weiterschliddern, in bloßen Aufregungen liegt keine Freiheit. Die Aristokratie der Einsichten vermindert sich. Die Verteilung der Verantwortung erzeugt Verantwortungslosigkeit Die Demokratie wird zur Parteienoligarchie. Was Kultur hieß, wird in weitem Umfang zu den Seifenblasen eines Literatentums. Der Geist verliert seinen Ernst.


Gute Nacht!

Sonntag, 13. Oktober 2019

Am Heimweg

von Karl Stieler
Ich wand're heim durch's hohe Feld,
die Wolken zieh'n,
In tiefer Ruhe liegt die Welt.
Du bist dahin!

Das Abendläuten ist verhallt,
im Lindengrün,
Der letzte Vogel singt im Wald.
Du bist dahin!

Da fühl' ich's leise, wie ich krank
vor Sehnen bin;
Der Vogel schwieg, die Sonne sank.
Du bist dahin!
Gute Nacht!

Sonntag, 6. Oktober 2019

Glück in der Abenddämmerung

von Rainer Maria Rilke

Sie empfand, wie sehr sie alles um sich liebte, wie sehr das alles zu ihr gehörte, und daß dieses leise, freudige Werden mit seinem heimlichen Glück und seiner süßen Sehnsucht ihr Schicksal sei, nicht aber das, was Menschen in dunklem Drange wollten und irrten.
Auf dem Heimwege kamen ihr die lichten Schwärme fröhlicher Menschen entgegen, und da blieb sie lächelnd stehen und schaute über die helle, lebende Landschaft: Man konnte nicht glauben, daß alle diese lachenden Scharen wieder Raum finden würden in den engen Häusern drüben. Das macht: jeder von ihnen ist über sich selbst hinausgewachsen in den schimmernden Tag, den er kaum auf den Schultern spürt. Und der leuchtende Himmel wirft seinen goldenen Glanz so reich und rasch über die Menschen und Dinge, daß sie vergessen, ihre alltäglichen Schatten zu haben, und selber Licht sind in dem flimmernden Land.


Gute Nacht!

Montag, 30. September 2019

Der Regen scheint besessen

von Max Dauthendey
Ich hör’ den Regen dreschen
Und übers Pflaster fegen.
Der Regen scheint besessen
Und will die Welt auffressen.

Ich muss mich näher legen
Ins Bett zu meiner Frauen.
Wird sich ihr Äuglein regen,
Kann ich ins Blaue schauen.
Gute Nacht!

Sonntag, 22. September 2019

Die Frage, ob es einen Gott gibt

von Bertolt Brecht

Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: "Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott."


Gute Nacht!

Sonntag, 18. August 2019

Wir taten uns nichts zuleide

von Ulla Hahn
Du hieltest mich fest und fern
von dir ging ich beinah leicht
wir wussten der Abschied war
vor allem Anfang erreicht

Wir taten uns nichts zuleide
jede Liebkosung ein Trost
zärtlich verteiltes Erbarmen
jede Umarmung ließ los.
Gute Nacht!

Montag, 5. August 2019

Leuchtender Tag im Boot

von Kurt Tucholsky

Nachmittags lagen sie im Boot. Der Himmel war klar, noch einmal gab der Sommer seine Wärme.
Dies ist der letzte der drei Tage! Aber ich bin so froh wie am ersten. Jung sein, voller Kraft sein, eine Reihe leuchtender Tage – das kommt nie wieder! Heiter Glück verbreiten! – Wir wollen uns Erinnerungen machen, die Funken sprühen! Wir haben alles voraus – heute! Mögen die in den Gräbern die Fäuste schütteln, mögen die Ungeborenen lächeln – wir sind! Alle sollen freudig sein! Kämpfen – aber mit Freuden! – Dreinhauen – aber mit Lachen! Mädchen, was zieht ihr mit Ketten schwer beladen einher? – Schüttelt sie ab. Sie sind leicht! – Sie sind hohl! – Tanzt, tanzt! –
[...]
Die beiden trieben ab, das Boot schwankte, bewegt durch das Schaukeln der Lachenden. Und wieder trug sie die Strömung dahin, der fächelnde Wind kräuselte das Wasser, brachte frischere Lüfte ... Einmal legte die Claire die Hand auf den Bootsrand: diese ein wenig knochige und männliche Hand, auf deren Rücken blaßblaue Adern sich strafften; sah man aber die holzgeschnitzten, langen Finger, so ahnte man, es war eine erfahrene Hand. Diese Fingerspitzen wußten um die Wirkung ihrer Zärtlichkeiten, kräftig und sicher spielten die Gelenke ... Die Hand hing im Wasser und zog einen quirlenden Streif. Dunkelgrün und klar lagen die Ufer weit zurück.
Leuchtender, leuchtender Tag! – Da-sein, voraussetzungsloses Dasein und immerfort wissen, dass eine ist, die gleich fühlt, gleich denkt ... (Denkt, fühlt sie wirklich? Aber ist das nicht einerlei, wenn wir nur glauben?) Nun, wir glauben eben einmal, dass wir uns nur deshalb nicht begegnen, weil wir nebeneinander demselben Ziele zulaufen, gleich strebend, parallel – ... Dies zu wissen – das ist Glück Ein Seitenblick genügt: all deine Empfindungen sind hier noch einmal, aber umkleidet mit dem Reiz des Fremden. Wozu noch sprechen? – Wir wissen ohnehin. Wozu versichern, betonen? – Wir wissen, wir wissen. Und das Erlebnis und ich und sie – das gibt einen Klang, einen guten Dreiklang.


Gute Nacht!

Sonntag, 21. Juli 2019

Ein- und Ausfälle. Zweiseitig.

von Friedrich Theodor Vischer
Nach neben, wenn Vorteil riechend,
Nach oben jederzeit kriechend,
Nach unten grob und roh –:
Manch' ein Beamter ist so;
Auch ein Minister,
Mitunter so ist er.

Gute Nacht!

Montag, 8. Juli 2019

Der Schein trügt

von James Joyce

Nichts ist so irreführend und trotz alledem so verlockend wie eine schöne Oberfläche. Das Meer im warmen Sonnenglanz eines Sommertags; der Himmel, blau im zarten bernsteinfarbenen Schimmer der Herbstsonne, gefallen dem Auge gar wohl: doch wie anders bietet sich das Schauspiel dar, wenn der wilde Zorn der Elemente die Zwietracht des Aufruhrs von neuem wachgerufen hat; wie anders der Ozean, kochend vor Brodeln und Brausen, als das stille, friedliche Meer, das in der Sonne glänzend sich heiter kräuselte. Doch das beste Beispiel für die Unbeständigkeit der Erscheinung sind: der Mensch und das Glück. Ein kriecherischer, unterwürfiger Blick, eine hochmütige und überhebliche Miene verbergen gleichermaßen die Wertlosigkeit des Charakters. Das Glück - dieser glitzernde Tand, dessen Schimmer arm und reich betört und mit ihnen sein Spiel treibt - ist so wechselhaft wie der Wind. Dennoch - es gibt ein "Etwas", das uns den Charakter eines Menschen verrät. Das Auge ist es. Der einzige Verräter, den selbst der eiserne Wille eines verruchten Bösewichts nicht beherrschen kann. Das Auge ist es, das dem Menschen Schuld oder Unschuld entdeckt, die Laster oder die Tugenden der Seele. Hier haben wir die einzige Ausnahme, für die das Sprichwort "Der Schein trügt" nicht gilt. In allen anderen Fällen muß nach dem wahren Wert erst gesucht werden. Das Gewand des Königtums oder der Demokratie sind nur die Schatten, die ein "Mann" hinter sich wirft. "O traurig Los des Armen, der an Königs Gunst gebunden!" Die launische Flut des stets sich wandelnden Glücks bringt beides mit sich - Gutes und Böses. Wie schön erscheint es uns nicht als Sendbote des Guten und wie grausam als Künder des Verhängnisses! Wer die Launen eines Königs hofiert, ist wie eine Nußschale auf diesem weiten Meer. So erkennen wir den Trug des äußeren Scheins. Der Heuchler ist die schlimmste Spielart des Schurken, denn unter dem Schein der Tugendhaftigkeit verbirgt er das schlimmste aller Laster. Der Freund, ein wahrer Wetterhahn des Glücks, scharwenzelt und kriecht zu Füßen des Reichtums. Doch ein Mensch, der keinen Ehrgeiz, keinen Reichtum, keinen Luxus außer dem der Zufriedenheit, kann die Freude des Glücks nicht verbergen, das aus einem reinen Gewissen und einem freien Sinn fließt.

Gute Nacht!

Sonntag, 30. Juni 2019

Wisst es!

von Ada Christen
Wisst, mich betrübt die Schönheit, die ihr preist,
Ich schaue bitteres Menschenelend sprießen
Auf diesem Stern... wie soll mein Geist
Dann seine hehre Schönheit rein genießen?

Wisst, mich betrübt die Schönheit, die ihr preist,
Denn durch des Wohllauts kunstgeformter Schöne
Klingt mir der Wehlaut, der mein Herz zerreißt,
Der Daseinsqual naturgewalt'ge Töne.
Gute Nacht!

Sonntag, 23. Juni 2019

Ermunterung zum Selberdenken

von Arthur Schopenhauer

Sind wir nun also vollkommen bekannt mit unseren Stärken und Schwächen; so werden wir auch nicht versuchen, Kräfte zu zeigen, die wir nicht haben, werden nicht mit falscher Münze spielen, weil solche Spiegelfechterei doch endlich ihr Ziel verfehlt. Denn da der ganze Mensch nur die Erscheinung seines Willens ist; so kann nichts verkehrter sein, als, von der Reflexion ausgehend, etwas Anderes sein zu wollen, als man ist: denn es ist ein unmittelbarer Widerspruch des Willens mit sich selbst. Nachahmung fremder Eigenschaften und Eigentümlichkeiten ist viel schimpflicher als das Tragen fremder Kleider: denn es ist das Urteil der eigenen Wertlosigkeit von sich selbst ausgesprochen. Kenntnis seiner eigenen Gesinnung und seiner Fähigkeiten jeder Art und ihrer unabänderlichen Grenzen ist in dieser Hinsicht der sicherste Weg, um zur möglichsten Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen.


Gute Nacht!

Sonntag, 16. Juni 2019

Pantoffel

von Hugo Salus
Ich schlafe heut allein: sie ist verreist;
Sie fuhr zu meinen Eltern, die sie lieben
Fast mehr als ihren Sohn. Ich bin verwaist,
Allein in unserm Nest zurückgeblieben.

Nun sitzen sie daheim beim Lampenlicht
Und lächeln mild zu ihren krausen Scherzen
Und lachen, wenn sie ernste Dinge spricht,
Und denken mein im froh bewegten Herzen.

Ich lösch' das Licht und träume vor mich hin.
Ich rühre leis ihr Kissen "Schlaf in Frieden!
Ich weiß, daß ich in deinen Träumen bin,
Und denk', auch mir wird heut ein Traum beschieden".

Da klappert's durch's Gemach, da trippelt was!
Pantoffelklappern! Flink, wie um die Wette.
Ich träume nicht, doch wie begreif ich das?
Und trappt und klappert her zu meinem Bette.

Rasch aus dem Bett! Still wird's beim Schein des Lichts.
Ich suche nach, wo sich der Spuk verstecke.
Da stehn ganz still, als wüßten sie von nichts,
Die Hausschuh meiner Frau in ihrer Ecke.

Duckmäuser ihr! Habt wohl Befehl von ihr?
Zwingt euch verliebte Sehnsucht, euch zu regen?
Ich schaff mir Ruh! Ich nehme euch zu mir,
Ich will euch unter meinen Polster legen,

Wie ich als Kind, wenn mich ein Buch entzückt,
Es unterm Kissen über Nacht geborgen,
Gewiß, daß mir der Traum den Helden schickt,
Und er mir nah verbleibe bis zum Morgen ...
Gute Nacht!

Montag, 3. Juni 2019

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

von George Bernard Shaw

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber er kann nicht leben ohne Brot. Also muss das Brot erst einmal da sein, auch wenn die Dinge, die danach folgen, höhere Dinge sein mögen.
Wir müssen dem Mammon eifrig und wohlüberlegt dienen, ehe wir Gott dienen können. Die Richtigkeit dieser These mag jeder selbst nachprüfen, er soll nur einmal versuchen, seine Mahlzeiten durch Gebete zu ersetzen. Genauso wie die Kirche davon ausgehen muss, dass alle Seelen gleich wertvoll sind und wir konsequenterweise vor Gott alle gleich sind, oder aber die Religion würde sich selbst ad absurdum führen, genau so wird man auch lernen, von der praktischen und unvermeidlichen Notwendigkeit auszugehen, dass jedermanns Bedürfnis nach Geld gleich ist, andernfalls aber zur Strafe eine zerrissene Gesellschaft, wie wir sie heute haben, erwarten müssen.
Ehrlichkeit ist nicht ein subjektiver Eindruck, sondern eine Bedingung gesellschaftlichen Lebens, die exakt definiert werden kann. Sie bedeutet, dass, wenn jemand eine Stunde für einen anderen gearbeitet hat, dieser andere nicht weniger als eine Stunde für ihn arbeiten muss.
Alle, die es im Leben zu etwas wirklich Besonderem bringen, beginnen als Revolutionäre. Die besten unter ihnen werden mit wachsendem Alter immer revolutionärer, obwohl man von ihnen allgemein annimmt, dass sie konservativer werden, weil sie das Vertrauen in die herkömmlichen Methoden der Reform verlieren. Jeder Mensch unter 30, der überhaupt etwas über die bestehende soziale Ordnung weiß und nicht Revolutionär ist, ist nur Mittelmaß.


Gute Nacht!

Donnerstag, 9. Mai 2019

Grabschrift

von Marie von Ebner-Eschenbach
Im Schatten dieser Weide ruht
Ein armer Mensch, nicht schlimm noch gut.
Er hat gefühlt mehr als gedacht,
Hat mehr geweint als er gelacht;
Er hat geliebt und viel gelitten,
Hat schwer gekämpft und - nichts erstritten.
Nun liegt er endlich sanft gestreckt,
Wünscht nicht zu werden auferweckt.
Wollt Gott an ihm das Wunder tun,
Er bäte: Herr, o laß mich ruhn!
Gute Nacht!

Montag, 29. April 2019

Auf dem Balkon

von Marie Luise Kaschnitz 

Ich bekam einen Brief von einer Gleichaltrigen, darin stand, wir wohnen alle in der Todeszelle, niemand besucht uns, wir dürfen den Raum nicht verlassen,
nur warten, bis man uns abholt, und das Gerüst wird schon gezimmert, im Hof.
Ich begreife die Briefschreiberin nicht, ich weiß, dass ich sterben werde, aber wie in einer Todeszelle fühle ich mich nicht. Ich höre die wilden heftigen Geräusche des Lebens und spüre die Sonne und den Eisregen auf der Haut. Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.
Von dem man unter Umständen, vom Blitz getroffen, oder von einem Schwindel überkommen, hinabstürzt, nicht weil es so dunkel und einsam ist, sondern weil die Sonne übermächtig scheint.



Gute Nacht!

Sonntag, 21. April 2019

Ostern

von Joachim Ringelnatz
Wenn die Schokolade keimt,
Wenn nach langem Druck bei Dichterlingen
»Glockenklingen« sich auf »Lenzesschwingen«
Endlich reimt
Und der Osterhase hinten auch schon preßt,
Dann kommt bald das Osterfest.

Und wenn wirklich dann mit Glockenklingen
Ostern naht auf Lenzesschwingen, –
Dann mit jenen Dichterlingen
Und mit deren jugendlichen Bräuten
Draußen schwelgen mit berauschten Händen –
Ach, das denk ich mir entsetzlich,
Außerdem – unter Umständen – Ungesetzlich.

Aber morgens auf dem Frühstückstische
Fünf, sechs, sieben flaumweich gelbe frische
Eier. Und dann ganz hineingekniet!
Ha! Da spürt man, wie die Frühlingswärme
Durch geheime Gänge und Gedärme
In die Zukunft zieht
Und wie dankbar wir für solchen Segen
Sein müssen.
Ach, ich könnte alle Hennen küssen,
Die so langgezogene Kugeln legen.

Gute Nacht!

Sonntag, 14. April 2019

Wer möchte diesen Erdenball

von Wilhelm Busch

Wer möchte diesen Erdenball
Noch fernerhin betreten,
Wenn wir Bewohner überall
Die Wahrheit sagen täten.


Ihr hießet uns, wir hießen euch
Spitzbuben und Halunken,
Wir sagten uns fatales Zeug
Noch eh wir uns betrunken.


Und überall im weiten Land,
Als langbewährtes Mittel,
Entsproßte aus der Menschenhand
Der treue Knotenknittel.


Da lob' ich mir die Höflichkeit,
Das zierliche Betrügen.
Du weißt Bescheid, ich weiß Bescheid;
Und allen macht's Vergnügen.

Gute Nacht!

Sonntag, 7. April 2019

Der ewige Rebell

von Albert Camus

Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder hinunterrollte. Sie hatten mit einiger Berechtigung bedacht, dass es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit.
[...]
Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewusst ist. Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn ihm bei jedem Schritt die Hoffnung auf Erfolg neue Kraft gäbe? Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen der Arbeiter bewusst wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er während des Abstiegs nach. Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.


Gute Nacht!

Sonntag, 31. März 2019

Der Abschied

von Johann Wolfgang von Goethe

Lass mein Aug den Abschied sagen,
Den mein Mund nicht nehmen kann!
Schwer, wie schwer ist er zu tragen!
Und ich bin doch sonst ein Mann.

Traurig wird in dieser Stunde
Selbst der Liebe süßstes Pfand,
Kalt der Kuß von deinem Munde,
Matt der Druck von deiner Hand.

Sonst, ein leicht gestohlnes Mäulchen,
O wie hat es mich entzückt!
So erfreuet uns ein Veilchen,
Das man früh im März gepflückt.

Doch ich pflücke nun kein Kränzchen,
Keine Rose mehr für dich.
Frühling ist es, liebes Fränzchen,
Aber leider Herbst für mich!

Gute Nacht!

Montag, 18. März 2019

Der Verfall des Lügens: Ein Protest

von Oscar Wilde

Eine der Hauptursachen, die man für den seltsam ordinären Charakter fast aller Literatur unserer Zeit anführen kann, ist unzweifelhaft der Verfall des Lügens als Kunst, als Wissenschaft und als gesellige Unterhaltung. Die alten Geschichtsschreiber gaben uns reizende Dichtung in der Form der Tatsache; der moderne Romanschreiber beschert uns öde Tatsachen in der Verkleidung der Dichtung. Das Blaubuch wird mehr und mehr sein Ideal für das Verfahren und die Darstellung. Er hat sein widerwärtiges „document humain“, seinen ärmlichen kleinen „coin de la création“, in den er mit seinem Mikroskop hineinstiert. Man findet ihn in der Bibliothèque Nationale oder im British Museum, wo er schamlos seinen Stoff studiert. Ja, er hat noch nicht einmal den Mut zu andrer Leute Ideen, sondern besteht darauf, alles aus dem Leben haben zu wollen, und so arbeitet er zwischen Nachschlagewerken und persönlicher Erfahrung, nimmt seine Gestalten aus dem Familienkreis oder von der Waschfrau, und hat eine Menge nützliche Information erlangt, von der er sich nie, selbst in seinen gedankenvollsten Augenblicken, völlig frei machen kann.
Der Verlust, den unsere Literatur im allgemeinen durch dieses falsche Ideal unserer Zeit erleidet, kann kaum überschätzt werden. Die Menschen reden so obenhin von einem „geborenen Lügner“, gerade wie sie von einem „geborenen Dichter“ sprechen. Aber in beiden Fällen haben sie unrecht. Lügen und Dichten sind Künste – Künste, die, wie Plato sagt, nicht ohne Beziehungen zueinander sind – und erfordern den eindringlichsten Fleiß, die uneigennützigste Hingebung. In der Tat haben sie ihre Technik, gerade wie die materielleren Künste der Malerei und Skulptur, ihre subtilen Geheimnisse der Form und Farbengebung, ihre überlegten künstlerischen Methoden. Wie man den Dichter an der Schönheit seines Musikalischen erkennt, so wird der Lügner nach dem Reichtum seiner rhythmischen Abstufungen beurteilt, und in beiden Fällen kann keinerlei Inspiration des Augenblicks eine zufriedenstellende Leistung schaffen. Hier wie überall muß die Übung der Vollendung vorhergehen. Aber in unsern Tagen ist zwar die Gewohnheit des Dichtens nur allzu gemein geworden und sollte, wenn möglich, zurückgedrängt werden, jedoch die Gewohnheit des Lügens ist fast um alles Ansehen gekommen. Mancher Jüngling tritt mit einer natürlichen Begabung für Übertreibung ins Leben, die nur der Pflege und Ausbildung in einer geistig verwandten und mitfühlenden Sphäre bedürfte, oder des Lernens an den besten Vorbildern, um sich zu etwas wirklich Großem und Wunderbarem auszuwachsen. Aber in der Regel bringt er es zu nichts. Er nimmt entweder die liederliche Gewohnheit der Gewissenhaftigkeit an, oder findet Gefallen an der Gesellschaft älterer und wohlunterrichteter Leute. Beides wird seiner Phantasie in gleicher Weise verhängnisvoll, wie es fürwahr der Phantasie eines jeden verhängnisvoll wäre, und binnen kurzem zeigt er eine dekadente und krankhafte Gabe, die Wahrheit zu sagen, fängt an, alles was in seiner Gegenwart behauptet wird, auf seine Richtigkeit zu untersuchen, trägt kein Bedenken, Personen, die viel jünger als er sind, zu widersprechen und endet oft damit, Romane zu schreiben, die dem Leben so ähnlich sind, daß kein Mensch irgend an ihre Wahrscheinlichkeit glauben kann. Was wir hier geben, ist kein vereinzeltes Beispiel. Es ist lediglich ein Fall für viele; und wenn es kein Mittel gibt, unserem entsetzlichen Tatsachenkultus Einhalt zu tun oder ihn wenigstens zu mildern, so wird die Kunst veröden und die Schönheit unser Land fliehen.


Gute Nacht!

Sonntag, 10. März 2019

Augen schließen sich gelind

von Ernst Goll
Über uns’re Gläser her
Kommt ein Duft von weißen Nelken,
Blüten, die schon leise welken –
Lider werden feucht und schwer.
Augen schließen sich gelind,
Augen, die schon müde werden,
Augen, die noch halb auf Erden
Und schon halb im Himmel sind...
Gute Nacht!

Sonntag, 3. März 2019

Glück

von Hermann Hesse

Eines Morgens erwachte ich, ein lebhafter Knabe von vielleicht zehn Jahren, mit einem ganz ungewöhnlich holden und tiefen Gefühl von Freude und Wohlsein, das mich wie eine innere Sonne durchstrahlte, so als sei jetzt eben, in diesem Augenblick des Erwachens aus einem guten Knabenschlaf, etwas Neues und Wunderbares geschehen, als sei meine ganze klein-große Knabenwelt in einen neuen und höhern Zustand, in ein neues Licht und Klima eingetreten, als habe das ganze schöne Leben erst jetzt, an diesem frühen Morgen, seinen vollen Wert und Sinn bekommen. Ich wußte nichts von gestern noch von morgen, ich war von einem glückhaften Heute umfangen und sanft umspült. Es tat wohl und wurde von Sinnen und Seele ohne Neugierde und ohne Rechenschaft gekostet, es durchrann mich und schmeckte herrlich.
Es war Morgen, durchs hohe Fenster sah ich über dem langen Dachrücken des Nachbarhauses den Himmel heiter in reinem Hellblau stehen, auch er schien voll Glück, als habe er Besonderes vor und habe dazu sein hübschestes Kleid angezogen. Mehr war von meinem Bette aus von der Welt nicht zu sehen, nur eben dieser schöne Himmel und das lange Stück Dach vom Nachbarhause, aber auch dies Dach, dies langweilige und öde Dach aus dunkel rotbraunen Ziegeln schien zu lachen, es ging über seine steile schattige Schrägwand ein leises Spiel von Farben, und die einzelne bläuliche Glaspfanne zwischen den roten tönernen schien lebendig und schien freudig bemüht, etwas von diesem so leise und stetig strahlenden Frühhimmel zu spiegeln. Der Himmel, die etwas rauhe Kante des Dachrückens, das uniformierte Heer der braunen und das luftig dünne Blau des einzigen Glasziegels schienen auf eine schöne und erfreuliche Weise miteinander einverstanden, sie hatten sichtlich nichts andres im Sinn, als in dieser besonderen Morgenstunde einander anzulachen und es gut miteinander zu meinen. Himmelblau, Ziegelbraun und Glasblau hatten einen Sinn, sie gehörten zusammen, sie spielten miteinander, es war ihnen wohl, und es war gut und tat wohl, sie zu sehen, ihrem Spiel beizuwohnen, sich vom selben Morgenglanz und Wohlgefühl durchflossen zu fühlen wie sie.
So lag ich, den beginnenden Morgen samt dem ruhigen Nachgefühl des Schlafes genießend, eine schöne Ewigkeit in meinem Bett, und ob ich ein gleiches oder ähnliches Glück noch andre Male in meinem Leben gekostet habe, tiefer und wirklicher konnte keines sein: die Welt war in Ordnung. Und ob dieses Glück hundert Sekunden oder zehn Minuten gedauert habe, es war so außerhalb der Zeit, daß es jedem andern echten Glücke so vollkommen glich wie ein flatternder Bläuling dem andern. Es war vergänglich, es wurde von der Zeit überspült, aber es war tief und ewig genug, um über mehr als sechzig Jahre hinweg mich noch heute zu sich zurückzurufen und zu ziehen, daß ich mit müden Augen und schmerzenden Fingern darum bemüht sein muß, es anzurufen und ihm zuzulächeln, es nachzubilden und zu beschreiben. Es bestand aus nichts, dieses Glück, als aus dem Zusammenklang der paar Dinge um mich her mit meinem eigenen Sein, aus einem wunschlosen Wohlsein, das nach keiner Änderung, keiner Steigerung verlangte.
Es war noch Stille im Haus, und auch von außen her kein Laut. Wäre diese Stille nicht gewesen, so hätte vermutlich die Erinnerung an die alltäglichen Pflichten, an das Aufstehen und den Gang zur Schule mein Wohlsein gestört. Aber es war offenbar weder Tag noch Nacht, es war das süße Licht und das lachende Blau zwar vorhanden, aber kein Mägdetrab über die Sandsteinfliesen des Vorplatzes, keine knarrende Tür, kein Bäckerbubenschritt auf den Treppen. Dieser Morgen-Augenblick war außerhalb der Zeit, er rief zu nichts, er wies auf nichts Kommendes hin, er war sich selbst genug, und da er mich ganz mit in sich begriff, gab es auch für mich keinen Tag, keinen Gedanken an Aufstehen und Schule, an halb gemachte Aufgaben oder schlecht gelernte Vokabeln, an hastiges Frühstücken im frisch gelüfteten Eßzimmer drüben.
Die Ewigkeit des Glückes erfuhr diesmal ihren Zerfall durch eine Steigerung des Schönen, durch ein Mehr und Zuviel an Freude. Während ich so lag und mich nicht rührte, und die lichte stille Morgenwelt in mich eindrang und mich in sich aufnahm, stieß aus der Ferne her etwas Ungewohntes, etwas Glänzendes und Überhelles golden und triumphierend durch die Stille, voll strotzender Freude, voll lockender und weckender Süßigkeit: der Klang einer Trompete. Und schon war, während ich, nun erst völlig wach, mich im Bett aufrichtete und die Decke zurückschlug, der Klang zweistimmig und mehrstimmig geworden: es war die Stadtmusik, die mit klingendem Spiel durch die Gassen marschierte, ein überaus seltenes und aufregendes Ereignis voll schmetternder Festlichkeit, daß mir das Kinderherz im Leibe zugleich lachte und schluchzte, als wäre alles Glück, aller Zauber der seligen Stunde in diese aufreizenden scharfsüßen Töne zusammengeflossen und ergösse sich nun, geweckt und ins Zeitliche und Vergängliche zurückgekehrt. In einer Sekunde war ich aus dem Bett, bebend vor Festfreude, stürzte zur Tür und ins Nebenzimmer, aus dessen Fenstern man die Straße sehen konnte. In einem Taumel von Entzücken, von Neugierde und Dabeiseinwollen legte ich mich in ein offenes Fenster, hörte beglückt die schwellenden und hochmütigen Klänge der näherkommenden Musik, sah und hörte die Nachbarhäuser und die Straßen erwachen, lebendig werden und sich mit Gesichtern, Gestalten und Stimmen anfüllen – und in derselben Sekunde wußte ich auch alles wieder, was ich in jenem Wohlsein zwischen Schlaf und Tag so ganz vergessen hatte. Ich wußte, daß in der Tat heute keine Schule sei, sondern ein hoher Festtag, ich glaube, es war des Königs Geburtstag, daß es Umzüge, Fahnen, Musik und unerhörte Belustigungen geben werde.
Und mit diesem Wissen war ich zurückgekehrt, stand ich wieder unter den Gesetzen, die den Alltag beherrschen, und wenn es auch kein Alltag war, sondern ein Festtag, zu dem die metallenen Töne mich erweckt hatten, so war doch das Eigentliche und Schöne und Göttliche dieses Morgenzaubers schon vergangen und hinter dem kleinen holden Wunder schlugen die Wellen der Zeit, der Welt, der Gewöhnlichkeit wieder zusammen.


Gute Nacht!

Sonntag, 10. Februar 2019

Auf ein Mädchen in der Dämmerung warten

von Klabund
Auf ein Mädchen in der Dämmerung warten -
Krähen fliegen über goldnem Garten.

Menschen streifen wie erloschne Sterne
Durch das gläsern hingegossne Ferne.

Wenn ein Kind aus einem Hause schreitet,
Ist es wie Musik, die uns geleitet.

In den Fenstern, die wir leicht erraten,
Tanzen Ladenmädchen mit Soldaten.

Auf ein Mädchen in der Dämmerung warten -
Sybil geht in einem fremden Garten.

Gute Nacht!

Sonntag, 3. Februar 2019

Originalität

von Bertolt Brecht

"Heute", beklagte sich Herr K., "gibt es Unzählige, die sich öffentlich rühmen, ganz allein große Bücher verfassen zu können, und dies wird allgemein gebilligt. Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi verfaßte noch im Mannesalter ein Buch von hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt. Infolgedessen werden Gedanken nur in eigner Werkstatt hergestellt, indem sich der faul vorkommt, der nicht genug davon fertigbringt. Freilich gibt es dann auch keinen Gedanken, der übernommen werden, und auch keine Formulierung eines Gedankens, die zitiert werden könnte. Wie wenig brauchen diese alle zu ihrer Tätigkeit! Ein Federhalter und etwas Papier ist das einzige, was sie vorzeigen können! Und ohne jede Hilfe, nur mit dem kümmerlichen Material, das ein einzelner auf seinen Armen herbeischaffen kann, errichten sie ihre Hütten! Größere Gebäude kennen sie nicht als solche, die ein einziger zu bauen imstande ist!" 


Gute Nacht!

Montag, 28. Januar 2019

Die Liebe ist blind

von Ludwig Bowitsch
Die Liebe, die Liebe ist blind!
Sie sieht nicht die Dornen im Wandern,
Sie sieht nicht die Fehler des Andern,
Die Liebe, die Liebe ist blind!

Die Liebe, die Liebe ist blind!
Sie baut nicht hinaus in die Ferne,
Sie trägt in der Brust ihre Sterne,
Die treuliche Führer ihr sind!

Die Liebe, die Liebe ist blind!
Sie preiset nur, was sie erkoren
Und merket nicht, was ihr verloren
Im Traum, der sie täuschend umspinnt!

Die Liebe, die Liebe ist blind!
Und blind nur zu sein, kann ihr taugen,
Denn öffnen dem Licht sich die Augen,
So stirbt das göttliche Kind!

Gute Nacht!

Sonntag, 20. Januar 2019

Sonne auf dem Brot

von Reiner Kunze

Mein Großvater war ein Steinkohlenbergmann, der tausend Meter tief unter der Erde arbeitete. Morgens, wenn die Sonne aufging, fuhr er ins Bergwerk ein, und abends, wenn sie unterging, fuhr er aus, sechs Tage in der Woche – vierzig Jahre lang. Einer der schönsten Augenblicke seines Lebens sei gewesen, als er nicht mehr habe einfahren müssen und an einem Wochentag plötzlich Sonne auf dem Brot gehabt habe. 

Gute Nacht!

Sonntag, 13. Januar 2019

Der andre Mann

von Kurt Tucholsky
Du lernst ihn in einer Gesellschaft kennen.
Er plaudert. Er ist zu dir nett.
Er kann dir alle Tenniscracks nennen.
Er sieht gut aus. Ohne Fett.
Er tanzt ausgezeichnet. Du siehst ihn dir an ...
Dann tritt zu euch beiden dein Mann.

Und du vergleichst sie in deinem Gemüte.
Dein Mann kommt nicht gut dabei weg.
Wie er schon dasteht -- du liebe Güte!
Und hinten am Hals der Speck!
Und du denkst bei dir so: "Eigentlich ...
Der da wäre ein Mann für mich."

Ach, gnädige Frau! Hör auf einen wahren
und guten alten Papa!
Hättst du den Neuen: in ein, zwei Jahren
ständest du ebenso da!
Dann kennst du seine Nuancen beim Kosen;
dann kennst du ihn in Unterhosen;
dann wird er satt in deinem Besitze;
dann kennst du alle seine Witze.
Dann siehst du ihn in Freude und Zorn,
von oben und unten, von hinten und vorn ...
Glaub mir: wenn man uns näher kennt,
gibt sich das mit dem happy end.
Wir sind manchmal reizend, auf einer Feier ...
und den Rest des Tages ganz wie Herr Meyer.
Beurteil uns nie nach den besten Stunden.

Und hast du einen Kerl gefunden,
mit dem man einigermaßen auskommen kann:
dann bleib bei dem eigenen Mann!

Gute Nacht!

Sonntag, 6. Januar 2019

Die Stille

von Max Frisch

Sonderbar ist die Stille, die einen keuchenden Kletterer auf dem Gipfel empfängt, eine Stille, die nicht auf ihn gewartet hat, die sich nicht um seine Ankunft kümmert und ihn auf eine unheimliche Weise fast verlegen macht, jetzt, da er sein Streben erfüllt hat und stolz sein möchte, eine Stille, die nichts von Ehrgeiz weiß ...
Endlich schnallt er seinen Rucksack ab.
Wie am ersten Tag, als Gott das Licht schuf so blendet das weiße Gebirge ringsum, das sich in den hohen und blauen Himmel zackt, so klar und scharf und spitz wie lauter Kristalle, Gipfel neben Gipfel, so weit man schaut, wie Gottes steile und silberne Handschrift, hingeschrieben an den glühenden Rand dieser Welt!
Später, als er sich Stirn und Hals und Arme eingeschmiert hat und endlich seine Sonnensalbe wieder versorgt, denkt er vielleicht auch einen Augenblick lang an die junge Fremde, die ihn gestern im Bach gesehen hat; aber nur einen Augenblick lang —
Es ist, als löse sie alles Denken auf diese Stille, die über der Welt ist; man hört nur noch sein eignes Herz, das klopft, oder mitunter den Wind, der in den Ohrmuscheln saust. Und wenn einmal eine schwarze Dohle um die Felsen segelt und wieder mit heiserem Schrei entschwindet, immer bleibt diese einsame Stille zurück, die um alles Leben ist und jeden Aufschrei verschluckt, als sei er nie gewesen, diese namenlose Stille, die vielleicht Gott oder das Nichts ist.


Gute Nacht!
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