Montag, 25. November 2019

Dämmerung

von Carl Weitbrecht
Stille, stille!
Der Tag ist vergangen,
Tief drunten verklangen
Die letzten Stimmen,
Im Zwielicht schwimmen
Höhen und Wald –
Ein Atem weht,
Ein zitternd' Gebet
Ringsum im Kreise –
Und eine Seele geht
Auf die letzte Reise.
Gute Nacht!

Montag, 18. November 2019

Bäume

von Hermann Hesse

Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen. Ich verehre sie, wenn sie in Völkern und Familien leben, in Wäldern und Hainen. Und noch mehr verehre ich sie, wenn sie einzeln stehen. Sie sind wie Einsame. Nicht wie Einsiedler, welche aus irgendeiner Schwäche sich davongestohlen haben, sondern wie große, vereinsamte Menschen, wie Beethoven und Nietzsche. In ihren Wipfeln rauscht die Welt, ihre Wurzeln ruhen im Unendlichen; allein sie verlieren sich nicht darin, sondern erstreben mit aller Kraft ihres Lebens nur das Eine: ihr eigenes, in ihnen wohnendes Gesetz zu erfüllen, ihre eigene Gestalt auszubauen, sich selbst darzustellen. Nichts ist heiliger, nichts ist vorbildlicher als ein schöner, starker Baum.
Wenn ein Baum umgesägt worden ist und seine nackte Todeswunde der Sonne zeigt, dann kann man auf der lichten Scheibe seines Stumpfes und Grabmals seine ganze Geschichte lesen: in den Jahresringen und Verwachsungen steht aller Kampf, alles Leid, alle Krankheit, alles Glück und Gedeihen treu geschrieben, schmale Jahre und üppige Jahre, überstandene Angriffe, überdauerte Stürme. Und jeder Bauernjunge weiß, daß das härteste und edelste Holz die engsten Ringe hat, daß hoch auf Bergen und in immerwährender Gefahr die unzerstörbarsten,kraftvollsten, vorbildlichsten Stämme wachsen.


Gute Nacht!

Montag, 11. November 2019

Gesunkener Mut

von Leopold Schefer
Ach, du Erinnerung, verschonest Keinen!
Auch der gewes'ne Glückliche muss weinen.
Das ist der Rache altes Recht auf Erden:
„Kein Lebender soll immer glücklich werden!"

Wer noch das Kleinste, Feinste hoch gehalten,
Dem muss vom Gift der Welt das Herz erkalten,
Und ihm erscheint im Graun des Totenlichts
Die alte Öde und das große Nichts.
Gute Nacht!

Sonntag, 3. November 2019

Das Werden des Menschen in der Politik

von Karl Jaspers

Kant sagte, die wichtigsten Ereignisse der neueren Geschichte seien die Schweizer, holländischen, englischen Freiheitskämpfe gewesen. Aus ihrem Geist ist der amerikanische Freiheitskampf in neuer Ursprünglichkeit erwachsen. Wunderbar der Mut, der hohe Schwung, das Maß, die Besonnenheit all dieser Freiheitskämpfer, die aus der Eigenständigkeit auch die Kraft hatten, den der bloßen Gewalt gehorchenden Massen durch die eigene Gewalt, klüger und opferbereiter, überlegen zu werden. Nur je für eine Weile hat es bisher diese zuverlässige politische Freiheit gegeben, uns Nachfahren für immer zur Ermutigung und zum Vorbild.
Das Unheimliche ist: In der Freiheit selber liegt ein Grund des Verderbens.
Die Welt politischer Freiheit ist verloren ohne große Staatsmänner, die durch die Schulung freier Männer zuverlässig von Generation zu Generation neu erwachsen. Mit allem, was sie tun, kämpfen sie in den gegebenen Chancen der Freiheit für diese. Sie kennen die Gefahr. Das Wagnis lohnt sich ihnen, weil es um das höchste Daseinsgut der Menschen geht. Sie haben Mut, Urteilskraft und Geduld. Von ihnen gilt, was von Perikles berichtet wurde: dass man ihn, seitdem er Athen lenkte, nicht mehr habe lachen sehen.
Anders die Politiker. Sie sind opportunistische Realisten, Betriebmacher, listige Menschen und Erpresser. Unbekümmert vital handeln sie im Namen der Freiheit gegen die Bedingungen der Freiheit. Sie entziehen sich, wenn sie bloßgestellt sind, durch Lügen und durch Witze. Durch ihr Verhalten verhöhnen sie das Parlament, das, gleicher Art, es kaum merkt und nicht daran denkt, solche Frevler am Geist der Politik aus dem Sattel zu werfen. Mit sentimentalen Sprüchen täuschen sie einen Ernst vor. Sie sind Verderber der Freiheit.
Dieser Typus von Politikern hält seine Aufgabe, ohne Berufung, für einen Beruf, einen vielfach aussichtsreichen, mit gutem Einkommen und Pensionsberechtigung. Sie meinen, er sei risikolos. Sie denken ohne Verantwortung.
Der Geist der freien Welt gibt ein zweideutiges Bild. Wir freien Völker sind noch keineswegs politisch eigentlich frei. Im wirtschaftlichen Wohlergehen, im Weiterschliddern, in bloßen Aufregungen liegt keine Freiheit. Die Aristokratie der Einsichten vermindert sich. Die Verteilung der Verantwortung erzeugt Verantwortungslosigkeit Die Demokratie wird zur Parteienoligarchie. Was Kultur hieß, wird in weitem Umfang zu den Seifenblasen eines Literatentums. Der Geist verliert seinen Ernst.


Gute Nacht!
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