von Adolph Freiherr von Knigge
Das
erste und natürlichste Band unter den Menschen, nächst der Vereinigung
zwischen Mann und Weib, ist von jeher das Band unter Eltern und Kindern
gewesen. Wenngleich das Zeugungsgeschäft nicht eigentlich absichtliche
Wohltat für die folgende Generation ist, so gibt es doch wenig Menschen,
die nicht ganz gut damit zufrieden wären, daß jemand sich die Mühe
gegeben hat, sie in die Welt zu setzen; und obwohl in unsern Staaten die
Eltern ihre Kinder nicht bloß aus freiem Willen auferziehen, nähren und
pflegen, so ist es doch abgeschmackt zu sagen: die mannigfaltige
Bemühung, welche dies erfordert und nach sich zieht, lege keine Art von
Verbindlichkeit auf, oder es sei nicht wahr, daß ein Zug von Wohlwollen,
Sympathie und Dankbarkeit uns den Personen näherbringe, deren Fleisch
und Blut wir sind, unter deren Herzen wir gelegen, die uns gefüttert,
für uns gewacht, gesorgt, die alles mit uns geteilt haben.
[...]
Ich
höre so oft darüber klagen, daß man unter fremden Leuten mehr Schutz,
Beistand und Anhänglichkeit finde als bei seinen nächsten
Blutsverwandten; allein ich halte diese Klage größtenteils für
ungerecht. Freilich gibt es unter Verwandten ebensowohl
unfreundschaftliche Menschen als unter solchen, die uns nichts angehen;
freilich geschieht es wohl, daß Verwandte ihrem Vetter nur dann Achtung
beweisen, wenn er reich, oder geehrt vom großen Haufen ist, sich aber
des unbekannten, armen oder verfolgten Blutsfreundes schämen; ich denke
aber, man fordert auch oft von seinen Herrn Oheimen und Frauen Basen
mehr, als man billigerweise verlangen sollte. Unsre politischen
Verfassungen und der täglich mehr überhandnehmende Luxus machen es
wahrlich notwendig, daß jeder für sein Haus, für Weib und Kinder sorge,
und die Herrn Vettern, die oft als unwissende und verschwenderische
Tagediebe in der sichern Zuversicht, von ihren mächtigen und reichen
Verwandten nicht verlassen zu werden, sorglos in die Welt hinein leben,
haben dann so unersättliche Forderungen, daß der Mann, dem Pflicht und
Gewissen kein Spielwerk sind, diese unmöglich befriedigen kann, ohne
ungerecht gegen andre zu handeln.
Gute Nacht!
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