Samstag, 1. Juni 2013

Von dem Umgange unter Eltern, Kindern und Blutsfreunden

von Adolph Freiherr von Knigge
Das erste und natürlichste Band unter den Menschen, nächst der Vereinigung zwischen Mann und Weib, ist von jeher das Band unter Eltern und Kindern gewesen. Wenngleich das Zeugungsgeschäft nicht eigentlich absichtliche Wohltat für die folgende Generation ist, so gibt es doch wenig Menschen, die nicht ganz gut damit zufrieden wären, daß jemand sich die Mühe gegeben hat, sie in die Welt zu setzen; und obwohl in unsern Staaten die Eltern ihre Kinder nicht bloß aus freiem Willen auferziehen, nähren und pflegen, so ist es doch abgeschmackt zu sagen: die mannigfaltige Bemühung, welche dies erfordert und nach sich zieht, lege keine Art von Verbindlichkeit auf, oder es sei nicht wahr, daß ein Zug von Wohlwollen, Sympathie und Dankbarkeit uns den Personen näherbringe, deren Fleisch und Blut wir sind, unter deren Herzen wir gelegen, die uns gefüttert, für uns gewacht, gesorgt, die alles mit uns geteilt haben.
[...]
Ich höre so oft darüber klagen, daß man unter fremden Leuten mehr Schutz, Beistand und Anhänglichkeit finde als bei seinen nächsten Blutsverwandten; allein ich halte diese Klage größtenteils für ungerecht. Freilich gibt es unter Verwandten ebensowohl unfreundschaftliche Menschen als unter solchen, die uns nichts angehen; freilich geschieht es wohl, daß Verwandte ihrem Vetter nur dann Achtung beweisen, wenn er reich, oder geehrt vom großen Haufen ist, sich aber des unbekannten, armen oder verfolgten Blutsfreundes schämen; ich denke aber, man fordert auch oft von seinen Herrn Oheimen und Frauen Basen mehr, als man billigerweise verlangen sollte. Unsre politischen Verfassungen und der täglich mehr überhandnehmende Luxus machen es wahrlich notwendig, daß jeder für sein Haus, für Weib und Kinder sorge, und die Herrn Vettern, die oft als unwissende und verschwenderische Tagediebe in der sichern Zuversicht, von ihren mächtigen und reichen Verwandten nicht verlassen zu werden, sorglos in die Welt hinein leben, haben dann so unersättliche Forderungen, daß der Mann, dem Pflicht und Gewissen kein Spielwerk sind, diese unmöglich befriedigen kann, ohne ungerecht gegen andre zu handeln.


Gute Nacht!

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