Sonntag, 31. März 2019

Der Abschied

von Johann Wolfgang von Goethe

Lass mein Aug den Abschied sagen,
Den mein Mund nicht nehmen kann!
Schwer, wie schwer ist er zu tragen!
Und ich bin doch sonst ein Mann.

Traurig wird in dieser Stunde
Selbst der Liebe süßstes Pfand,
Kalt der Kuß von deinem Munde,
Matt der Druck von deiner Hand.

Sonst, ein leicht gestohlnes Mäulchen,
O wie hat es mich entzückt!
So erfreuet uns ein Veilchen,
Das man früh im März gepflückt.

Doch ich pflücke nun kein Kränzchen,
Keine Rose mehr für dich.
Frühling ist es, liebes Fränzchen,
Aber leider Herbst für mich!

Gute Nacht!

Montag, 18. März 2019

Der Verfall des Lügens: Ein Protest

von Oscar Wilde

Eine der Hauptursachen, die man für den seltsam ordinären Charakter fast aller Literatur unserer Zeit anführen kann, ist unzweifelhaft der Verfall des Lügens als Kunst, als Wissenschaft und als gesellige Unterhaltung. Die alten Geschichtsschreiber gaben uns reizende Dichtung in der Form der Tatsache; der moderne Romanschreiber beschert uns öde Tatsachen in der Verkleidung der Dichtung. Das Blaubuch wird mehr und mehr sein Ideal für das Verfahren und die Darstellung. Er hat sein widerwärtiges „document humain“, seinen ärmlichen kleinen „coin de la création“, in den er mit seinem Mikroskop hineinstiert. Man findet ihn in der Bibliothèque Nationale oder im British Museum, wo er schamlos seinen Stoff studiert. Ja, er hat noch nicht einmal den Mut zu andrer Leute Ideen, sondern besteht darauf, alles aus dem Leben haben zu wollen, und so arbeitet er zwischen Nachschlagewerken und persönlicher Erfahrung, nimmt seine Gestalten aus dem Familienkreis oder von der Waschfrau, und hat eine Menge nützliche Information erlangt, von der er sich nie, selbst in seinen gedankenvollsten Augenblicken, völlig frei machen kann.
Der Verlust, den unsere Literatur im allgemeinen durch dieses falsche Ideal unserer Zeit erleidet, kann kaum überschätzt werden. Die Menschen reden so obenhin von einem „geborenen Lügner“, gerade wie sie von einem „geborenen Dichter“ sprechen. Aber in beiden Fällen haben sie unrecht. Lügen und Dichten sind Künste – Künste, die, wie Plato sagt, nicht ohne Beziehungen zueinander sind – und erfordern den eindringlichsten Fleiß, die uneigennützigste Hingebung. In der Tat haben sie ihre Technik, gerade wie die materielleren Künste der Malerei und Skulptur, ihre subtilen Geheimnisse der Form und Farbengebung, ihre überlegten künstlerischen Methoden. Wie man den Dichter an der Schönheit seines Musikalischen erkennt, so wird der Lügner nach dem Reichtum seiner rhythmischen Abstufungen beurteilt, und in beiden Fällen kann keinerlei Inspiration des Augenblicks eine zufriedenstellende Leistung schaffen. Hier wie überall muß die Übung der Vollendung vorhergehen. Aber in unsern Tagen ist zwar die Gewohnheit des Dichtens nur allzu gemein geworden und sollte, wenn möglich, zurückgedrängt werden, jedoch die Gewohnheit des Lügens ist fast um alles Ansehen gekommen. Mancher Jüngling tritt mit einer natürlichen Begabung für Übertreibung ins Leben, die nur der Pflege und Ausbildung in einer geistig verwandten und mitfühlenden Sphäre bedürfte, oder des Lernens an den besten Vorbildern, um sich zu etwas wirklich Großem und Wunderbarem auszuwachsen. Aber in der Regel bringt er es zu nichts. Er nimmt entweder die liederliche Gewohnheit der Gewissenhaftigkeit an, oder findet Gefallen an der Gesellschaft älterer und wohlunterrichteter Leute. Beides wird seiner Phantasie in gleicher Weise verhängnisvoll, wie es fürwahr der Phantasie eines jeden verhängnisvoll wäre, und binnen kurzem zeigt er eine dekadente und krankhafte Gabe, die Wahrheit zu sagen, fängt an, alles was in seiner Gegenwart behauptet wird, auf seine Richtigkeit zu untersuchen, trägt kein Bedenken, Personen, die viel jünger als er sind, zu widersprechen und endet oft damit, Romane zu schreiben, die dem Leben so ähnlich sind, daß kein Mensch irgend an ihre Wahrscheinlichkeit glauben kann. Was wir hier geben, ist kein vereinzeltes Beispiel. Es ist lediglich ein Fall für viele; und wenn es kein Mittel gibt, unserem entsetzlichen Tatsachenkultus Einhalt zu tun oder ihn wenigstens zu mildern, so wird die Kunst veröden und die Schönheit unser Land fliehen.


Gute Nacht!

Sonntag, 10. März 2019

Augen schließen sich gelind

von Ernst Goll
Über uns’re Gläser her
Kommt ein Duft von weißen Nelken,
Blüten, die schon leise welken –
Lider werden feucht und schwer.
Augen schließen sich gelind,
Augen, die schon müde werden,
Augen, die noch halb auf Erden
Und schon halb im Himmel sind...
Gute Nacht!

Sonntag, 3. März 2019

Glück

von Hermann Hesse

Eines Morgens erwachte ich, ein lebhafter Knabe von vielleicht zehn Jahren, mit einem ganz ungewöhnlich holden und tiefen Gefühl von Freude und Wohlsein, das mich wie eine innere Sonne durchstrahlte, so als sei jetzt eben, in diesem Augenblick des Erwachens aus einem guten Knabenschlaf, etwas Neues und Wunderbares geschehen, als sei meine ganze klein-große Knabenwelt in einen neuen und höhern Zustand, in ein neues Licht und Klima eingetreten, als habe das ganze schöne Leben erst jetzt, an diesem frühen Morgen, seinen vollen Wert und Sinn bekommen. Ich wußte nichts von gestern noch von morgen, ich war von einem glückhaften Heute umfangen und sanft umspült. Es tat wohl und wurde von Sinnen und Seele ohne Neugierde und ohne Rechenschaft gekostet, es durchrann mich und schmeckte herrlich.
Es war Morgen, durchs hohe Fenster sah ich über dem langen Dachrücken des Nachbarhauses den Himmel heiter in reinem Hellblau stehen, auch er schien voll Glück, als habe er Besonderes vor und habe dazu sein hübschestes Kleid angezogen. Mehr war von meinem Bette aus von der Welt nicht zu sehen, nur eben dieser schöne Himmel und das lange Stück Dach vom Nachbarhause, aber auch dies Dach, dies langweilige und öde Dach aus dunkel rotbraunen Ziegeln schien zu lachen, es ging über seine steile schattige Schrägwand ein leises Spiel von Farben, und die einzelne bläuliche Glaspfanne zwischen den roten tönernen schien lebendig und schien freudig bemüht, etwas von diesem so leise und stetig strahlenden Frühhimmel zu spiegeln. Der Himmel, die etwas rauhe Kante des Dachrückens, das uniformierte Heer der braunen und das luftig dünne Blau des einzigen Glasziegels schienen auf eine schöne und erfreuliche Weise miteinander einverstanden, sie hatten sichtlich nichts andres im Sinn, als in dieser besonderen Morgenstunde einander anzulachen und es gut miteinander zu meinen. Himmelblau, Ziegelbraun und Glasblau hatten einen Sinn, sie gehörten zusammen, sie spielten miteinander, es war ihnen wohl, und es war gut und tat wohl, sie zu sehen, ihrem Spiel beizuwohnen, sich vom selben Morgenglanz und Wohlgefühl durchflossen zu fühlen wie sie.
So lag ich, den beginnenden Morgen samt dem ruhigen Nachgefühl des Schlafes genießend, eine schöne Ewigkeit in meinem Bett, und ob ich ein gleiches oder ähnliches Glück noch andre Male in meinem Leben gekostet habe, tiefer und wirklicher konnte keines sein: die Welt war in Ordnung. Und ob dieses Glück hundert Sekunden oder zehn Minuten gedauert habe, es war so außerhalb der Zeit, daß es jedem andern echten Glücke so vollkommen glich wie ein flatternder Bläuling dem andern. Es war vergänglich, es wurde von der Zeit überspült, aber es war tief und ewig genug, um über mehr als sechzig Jahre hinweg mich noch heute zu sich zurückzurufen und zu ziehen, daß ich mit müden Augen und schmerzenden Fingern darum bemüht sein muß, es anzurufen und ihm zuzulächeln, es nachzubilden und zu beschreiben. Es bestand aus nichts, dieses Glück, als aus dem Zusammenklang der paar Dinge um mich her mit meinem eigenen Sein, aus einem wunschlosen Wohlsein, das nach keiner Änderung, keiner Steigerung verlangte.
Es war noch Stille im Haus, und auch von außen her kein Laut. Wäre diese Stille nicht gewesen, so hätte vermutlich die Erinnerung an die alltäglichen Pflichten, an das Aufstehen und den Gang zur Schule mein Wohlsein gestört. Aber es war offenbar weder Tag noch Nacht, es war das süße Licht und das lachende Blau zwar vorhanden, aber kein Mägdetrab über die Sandsteinfliesen des Vorplatzes, keine knarrende Tür, kein Bäckerbubenschritt auf den Treppen. Dieser Morgen-Augenblick war außerhalb der Zeit, er rief zu nichts, er wies auf nichts Kommendes hin, er war sich selbst genug, und da er mich ganz mit in sich begriff, gab es auch für mich keinen Tag, keinen Gedanken an Aufstehen und Schule, an halb gemachte Aufgaben oder schlecht gelernte Vokabeln, an hastiges Frühstücken im frisch gelüfteten Eßzimmer drüben.
Die Ewigkeit des Glückes erfuhr diesmal ihren Zerfall durch eine Steigerung des Schönen, durch ein Mehr und Zuviel an Freude. Während ich so lag und mich nicht rührte, und die lichte stille Morgenwelt in mich eindrang und mich in sich aufnahm, stieß aus der Ferne her etwas Ungewohntes, etwas Glänzendes und Überhelles golden und triumphierend durch die Stille, voll strotzender Freude, voll lockender und weckender Süßigkeit: der Klang einer Trompete. Und schon war, während ich, nun erst völlig wach, mich im Bett aufrichtete und die Decke zurückschlug, der Klang zweistimmig und mehrstimmig geworden: es war die Stadtmusik, die mit klingendem Spiel durch die Gassen marschierte, ein überaus seltenes und aufregendes Ereignis voll schmetternder Festlichkeit, daß mir das Kinderherz im Leibe zugleich lachte und schluchzte, als wäre alles Glück, aller Zauber der seligen Stunde in diese aufreizenden scharfsüßen Töne zusammengeflossen und ergösse sich nun, geweckt und ins Zeitliche und Vergängliche zurückgekehrt. In einer Sekunde war ich aus dem Bett, bebend vor Festfreude, stürzte zur Tür und ins Nebenzimmer, aus dessen Fenstern man die Straße sehen konnte. In einem Taumel von Entzücken, von Neugierde und Dabeiseinwollen legte ich mich in ein offenes Fenster, hörte beglückt die schwellenden und hochmütigen Klänge der näherkommenden Musik, sah und hörte die Nachbarhäuser und die Straßen erwachen, lebendig werden und sich mit Gesichtern, Gestalten und Stimmen anfüllen – und in derselben Sekunde wußte ich auch alles wieder, was ich in jenem Wohlsein zwischen Schlaf und Tag so ganz vergessen hatte. Ich wußte, daß in der Tat heute keine Schule sei, sondern ein hoher Festtag, ich glaube, es war des Königs Geburtstag, daß es Umzüge, Fahnen, Musik und unerhörte Belustigungen geben werde.
Und mit diesem Wissen war ich zurückgekehrt, stand ich wieder unter den Gesetzen, die den Alltag beherrschen, und wenn es auch kein Alltag war, sondern ein Festtag, zu dem die metallenen Töne mich erweckt hatten, so war doch das Eigentliche und Schöne und Göttliche dieses Morgenzaubers schon vergangen und hinter dem kleinen holden Wunder schlugen die Wellen der Zeit, der Welt, der Gewöhnlichkeit wieder zusammen.


Gute Nacht!
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