Dienstag, 25. Juli 2017

Liebe, die erlösende Gewalt

von Martin Luther King

Warum sollen wir unsere Feinde lieben?
Der erste Grund ist offensichtlich: Vergelten wir mit Hass, so vervielfältigen wir diesen und fügen einer ohnehin sternenlosen Nacht neue Finsternis hinzu. Finsternis kann keine Finsternis vertreiben. Das gelingt nur dem Licht! Hass kann den Hass nicht austreiben. Das gelingt nur der Liebe! Hass verfielfältigt den Hass, Gewalt mehrt Gewalt, Härte vergrößert Härte in einer ständigen Spirale der Vernichtung.
Wenn Jesus sagt: Liebet eurer Feinde!, so stellt er ein tiefes und letztlich unausweichliches Gebot auf. Sind wir in unserer modernen Welt nicht so in Bedrängnis geraten, dass wir unsere Feinde lieben müssen, wenn wir uns retten wollen? Die Kettenreaktion des Bösen, Hass, der neuen Hass gebiert, Kriege, die neue Kriege nach sich ziehen, muss unterbrochen werden, sonst werden wir in den Abgrund der Vernichtung stürzen.
Aber noch aus einem weiteren Grund müssen wir unsere Feinde lieben. Hass verletzt die Seele und zerstört die Persönlichkeit. Wir wissen, dass der Hass ein Übel und eine gefährliche Macht ist, aber zumeist bedenken wir nur, was er dem Menschen antut, gegen den er gerichtet ist. Das ist begreiflich, denn der Hass fügt seinen Opfern unheilbaren Schaden zu. Aber es gibt auch noch eine andere Seite: Der Hass ist auch für den Menschen verderblich, von dem er ausgeht. Wie ein Krebsgeschwür zerfrisst der Hass die Persönlichkeit und ihre Lebenskräfte. Der Hass zerstört den Sinn für menschliche Werte und die Objektivität. Er bringt den Menschen dazu, das Schöne als hässlich, das Hässliche als schön und das Wahre als falsch zu sehen.
Schließlich aber stellt die Liebe die einzige Kraft dar, die Feinde in Feunde verwandeln kann. Wir befreien uns nie von einem Feind, wenn wir Hass mit Hass vergelten. Wir entledigen uns seiner nur, wenn wir uns von der Feindseligkeit freimachen. Seiner ganzen Natur nach zerstört der Hass und zieht hinab. Die Liebe hingegen baut ihrem ganzen Wesen nach auf und ist schöpferisch. Liebe verwandelt mit erlösender Gewalt!


Gute Nacht!

Dienstag, 18. Juli 2017

Beschwichtigter Zweifel

von Friedrich Rückert
Über meinen eignen Kopf
Bin ich nicht im reinen,
Hab' ich, wie ein andrer Tropf,
Einen oder keinen?

In der Schenke, wann der Wein
Mir zu Kopfe steiget,
Fühl' ich erst der Kopf ist mein,
Und der Zweifel schweiget.
Gute Nacht!

Sonntag, 9. Juli 2017

Der Ausweis

von Kurt Tucholsky
»Die Losung, Bursche!«
»Hie gut Brandenburg allewege!«
»Passiert!«
Wenn der Deutsche mal irgendwo hingehen muß, braucht er einen Ausweis. Es gibt in diesem Lande wahrscheinlich überhaupt kein Haus und keinen Raum, für die man nicht einen Ausweis brauchte. Der Vorgang ist immer derselbe: den ahnungslosen Wanderer überfällt ein barscher Mann, knurrt ärgerlich: »Ausweis?« wirft die Leute ohne den Fetzen Papier wieder zurück und läßt die Leute mit dem Fetzen Papier ins gelobte Land. Wo bekommst du einen Ausweis her?

Um einen Ausweis zu bekommen – manchmal heißt der Ausweis Paß oder Anmeldeschein oder Passierkarte oder Personalpapier – um einen Ausweis zu bekommen, mußt du in Deutschland in ein Büro gehen. In dem Büro sitzt ein Mann, der frühstückt. Du klopfst vorsichtig an, gehst leise herein (dass du dir nicht die Stiefel vor der Tür ausziehst, liegt nur daran, dass du noch nicht genügend Chinese bist), siehst dich unendlich ehrfurchtsvoll im Heiligtum um und wagst endlich, den Mund aufzumachen: »Guten Tag!« Nichts. Der Beamte klappt seine Stulle auf. Käse. Mutter hätte auch ... Der Beamte ist ärgerlich. Du sagst nichts. Eine dicke Fliege stößt sich den Kopf an der Fensterscheibe. Nach einer langen Weile bekommst du eine revolutionäre Wallung und machst: »Rhm!« – Gar nichts. Nach einer längeren Weile wendet der Käsemann den Kopf, sieht dich, der du ärgerlich hinter der Schranke aufgebaut stehst, vorwurfsvoll an und hebt den Kopf mit einem Geräusch, das ungefähr ›He‹ heißen kann. Du sagst deinen Vers auf. Du wolltest, sagen wir, nach Schlesien fahren und einen ausgestopften Bernhardiner mitnehmen und deine alte Tante, und du brauchst dazu eine Ausfuhrbewilligung und eine Einreiseerlaubnis und einen, Herrgottnichtnochmal, einen Ausweis.

Die Tragödie beginnt. Der Käsemann macht dir soviel Schwierigkeiten, bis dir die Lust vergeht, in deinem ganzen Leben je noch einmal nach Oberschlesien zu fahren, und bis deine alte Tante und der ausgestopfte Bernhardiner gänzlich von den Motten zerfressen sind. Du hattest dir das so einfach gedacht – aber der Mann belehrt dich eines bessern. Ungeheuerer Kummer türmt sich vor dir auf: denn welchen Zweck hätte sonst das Dasein des Mannes hinter der Schranke, wenn er dir keinen Kummer machen könnte? Nach unendlichem Gewürge bekommst du einen Ausweis.


Gute Nacht!

Montag, 3. Juli 2017

Der Juli

von Erich Kästner
Still ruht die Stadt. Es wogt die Flur.
Die Menschheit geht auf Reisen
oder wandert sehr oder wandelt nur.
Und die Bauern vermieten die Natur
zu sehenswerten Preisen.

Sie vermieten den Himmel, den Sand am Meer,
die Platzmusik der Ortsfeuerwehr
und den Blick auf die Kuh auf der Wiese.
Limousinen rasen hin und her
und finden und finden den Weg nicht mehr
zum Verlorenen Paradiese.

Im Feld wächst Brot. Und es wachsen dort
auch die künftigen Brötchen und Brezeln.
Eidechsen zucken von Ort zu Ort.
Und die Wolken führen Regen an Bord
und den spitzen Blitz und das Donnerwort.
Der Mensch treibt Berg- und Wassersport
und hält nicht viel von Rätseln.

Er hält die Welt für ein Bilderbuch
mit Ansichtskartenserien.
Die Landschaft belächelt den lauten Besuch.
Sie weiß Bescheid.
Sie weiß, die Zeit
überdauert sogar die Ferien.

Sie weiß auch: Einen Steinwurf schon
von hier beginnt das Märchen.
Verborgen im Korn, auf zerdrücktem Mohn,
ruht ein zerzaustes Pärchen.
Hier steigt kein Preis, hier sinkt kein Lohn.
Hier steigen und sinken die Lerchen.

Das Mädchen schläft entzückten Gesichts.
Die Bienen summen zufrieden.
Der Jüngling heißt, immer noch, Taugenichts.
Er tritt durch das Gitter des Schattens und Lichts
in den Wald und zieht, durch den Schluß
des Gedichts,
wie in alten Zeiten gen Süden.

Gute Nacht!
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