Sonntag, 23. Juni 2013

Der Tod

von Viktor E. Frankl

Wie oft hält man uns nicht vor, daß der Tod den Sinn des ganzen Lebens in Frage stelle. Daß alles letzten Endes sinnlos sei, weil der Tod es schließlich vernichten müsse. Kann nun der Tod der Sinnhaftigkeit des Lebens wirklich Abbruch tun? Im Gegenteil. Denn was geschähe, wenn unser Leben nicht endlich in der Zeit, sondern zeitlich unbegrenzt wäre? Wären wir unsterblich, dann könnten wir mit Recht jede Handlung ins Unendliche aufschieben, es käme nie darauf an, sie eben jetzt zu tun, sie könnte ebensogut auch erst morgen oder übermorgen oder in einem Jahr oder in zehn Jahren getan werden. So aber, angesichts des Todes als unübersteigbarer Grenze unserer Zukunft und Begrenzung unserer Möglichkeiten, stehen wir unter dem Zwang, unsere Lebenszeit auszunützen und die einmaligen Gelegenheiten — deren »endliche« Summe das ganze Leben dann darstellt — nicht ungenützt vorübergehen zu lassen.
Die Endlichkeit, die Zeitlichkeit ist also nicht nur ein Wesensmerkmal des menschlichen Lebens, sondern für dessen Sinn auch konstitutiv. Der Sinn menschlichen Daseins ist in seinem irreversiblen Charakter fundiert. Die Lebensverantwortung eines Menschen ist daher nur dann zu verstehen, wenn sie als eine Verantwortung im Hinblick auf Zeitlichkeit und Einmaligkeit verstanden wird. Man könnte überhaupt die existenzanalytische Maxime in folgende Imperativform kleiden: Lebe so, als ob du zum zweiten Mal lebtest und das erste Mal alles so falsch gemacht hättest, wie du es zu machen — im Begriffe bist. Gelingt es einem, sich dieser Phantasievorstellung hinzugeben, dann wird ihm im gleichen Augenblick die ganze Größe der Verantwortung bewußt, die der Mensch in jedem Moment seines Lebens hat: die Verantwortung dafür, was aus der jeweils folgenden Stunde werden soll, dafür, wie er den nächsten Tag gestaltet.


Gute Nacht!

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