von Viktor E. Frankl
Wie oft hält man uns nicht vor, daß
der Tod den Sinn des ganzen Lebens in Frage stelle. Daß alles letzten
Endes sinnlos sei, weil der Tod es schließlich vernichten müsse. Kann
nun der Tod der Sinnhaftigkeit des Lebens wirklich Abbruch tun? Im
Gegenteil. Denn was geschähe, wenn unser Leben nicht endlich in der
Zeit, sondern zeitlich unbegrenzt wäre? Wären wir unsterblich, dann
könnten wir mit Recht jede Handlung ins Unendliche aufschieben, es käme
nie darauf an, sie eben jetzt zu tun, sie könnte ebensogut auch erst
morgen oder übermorgen oder in einem Jahr oder in zehn Jahren getan
werden. So aber, angesichts des Todes als unübersteigbarer Grenze
unserer Zukunft und Begrenzung unserer Möglichkeiten, stehen wir unter
dem Zwang, unsere Lebenszeit auszunützen und die einmaligen
Gelegenheiten — deren »endliche« Summe das ganze Leben dann darstellt —
nicht ungenützt vorübergehen zu lassen.
Die Endlichkeit, die
Zeitlichkeit ist also nicht nur ein Wesensmerkmal des menschlichen
Lebens, sondern für dessen Sinn auch konstitutiv. Der Sinn menschlichen
Daseins ist in seinem irreversiblen Charakter fundiert. Die
Lebensverantwortung eines Menschen ist daher nur dann zu verstehen, wenn
sie als eine Verantwortung im Hinblick auf Zeitlichkeit und
Einmaligkeit verstanden wird. Man könnte überhaupt die
existenzanalytische Maxime in folgende Imperativform kleiden: Lebe
so, als ob du zum zweiten Mal lebtest und das erste Mal alles so falsch
gemacht hättest, wie du es zu machen — im Begriffe bist. Gelingt es
einem, sich dieser Phantasievorstellung hinzugeben, dann wird ihm im
gleichen Augenblick die ganze Größe der Verantwortung bewußt, die der
Mensch in jedem Moment seines Lebens hat: die Verantwortung dafür, was
aus der jeweils folgenden Stunde werden soll, dafür, wie er den nächsten
Tag gestaltet.
Gute Nacht!
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