Donnerstag, 28. Januar 2016

Würd’ es mir fehlen, würd’ ich’s vermissen?

von Theodor Fontane
Heut’ früh, nach gut durchschlafener Nacht,
Bin ich wieder aufgewacht.
Ich setzte mich an den Frühstückstisch,
Der Kaffee war warm, die Semmel war frisch,
Ich habe die Morgenzeitung gelesen
(Es sind wieder Avancements gewesen).
Ich trat ans Fenster, ich sah hinunter,
Es trabte wieder, es klingelte munter,
Eine Schürze (beim Schlächter) hing über dem Stuhle,
Kleine Mädchen gingen nach der Schule —
Alles war freundlich, alles war nett,
Aber wenn ich weiter geschlafen hätt’
Und tät’ von alledem nichts wissen,
Würd’ es mir fehlen, würd’ ich’s vermissen?
Gute Nacht!

Montag, 25. Januar 2016

Fremdenhass

von Max Frisch

Wie steht es mit dem Fremdenhass? Ich kenne viele Landsleute, aber leider nicht aus allen Bevölkerungsschichten; Bauern beispielsweise nicht. Beispiele von Fremdenhass habe ich selber kaum erlebt; ich muss aber annehmen, dass es ihn gibt. Fremdenhass ist natürlich. Er entspringt unter anderem der Angst, dass andere in dieser oder jener Richtung begabter sein könnten, jedenfalls sind sie anders begabt, beispielsweise in Lebensfreude, glücklicher. Das weckt Neid, selbst wenn man der Bessergestellte ist, und Neid ist erpicht auf Anlässe für Geringschätzung. Man ist tüchtig, aber nun zeigt sich, daß andere es auch sind: aber ohne die Mißmutigkeit, die wir nördlich der Alpen als Voraussetzung oder schon als Beweis von Tüchtigkeit zu betrachten gewohnt sind. Daß die Südländer schmutzig sind, das ist eine Hoffnung, dann sind wir, wenn wir in dieser Welt nicht singen, dafür wenigstens sauberer; aber nicht einmal diese Hoffnung bestätigt sich ohne weiteres: ein Landarzt versichert mir, dass die Italiener, im Gegensatz zu einheimischen Kunden, mit gewaschenen Füßen kommen. Von Rassenhaß in der Schweiz, wie es in italienischen Zeitungen heißt, würde ich nicht sprechen; Fremdenhass genügt. Das ist keine Ideologie, sondern ein Reflex.
Es braucht wenig, dass man, um sich die Selbstprüfug zu sparen, zu Verurteilungen übergeht: Das Fremde als das Schlechtere. Insofern ist jede Messerstecherei eigentlich willkommen; da sieht man's mal wieder, dass man besser ist.
[…] Aber auch wenn die Fremden, wie es sich für Fremde gehört, sehr brav sind, etwas bleibt schwierig: sie sind da. […] Die Konfrontation mit einer anderen Lebensart, das irritiert jenes Selbstbewußtsein, das der Einzelne bezieht aus dem sakrosankten Eigenlob eines nationalen Kollektivs.


Gute Nacht!

Sonntag, 17. Januar 2016

Neue Wellen

von Ödön von Horváth

Während ich schreibe, höre ich draußen das Meer.
Denn mein Haus steht am Ufer.
Und das Meer will über das Ufer, es brandet und braust und der Sturm springt über das Dach, als wär die Welt ein Märchen.
Es ist zwar nicht mein Dach, unter dem ich da sitze und schreibe, es gehört einem alten Fischer und ich hab nur ein Zimmer gemietet, aber man sagt halt so, dass einem das Haus gehört, wenn man drinnen wohnt. Mir gehört eigentlich nichts. Nur der Koffer und eine alte Schreibmaschine – und ohne diese könnt ich kaum leben, denn die gehört zu meinem Beruf.
Ich bin nämlich Schriftsteller, aber trotzdem gehts mir nicht schlecht – ich meine: in materieller Hinsicht. Ja, ich bin sogar in einer ausgesprochen glücklichen Lage, denn einer der angesehensten Verleger hat einen Vertrag mit mir geschlossen. Jetzt hab ich endlich Gelegenheit, richtig arbeiten zu können, da ich der brennenden Sorge um das tägliche Brot enthoben bin. Ich hab mein Bettchen und mein Süppchen. Vorerst zwar nur für ein halbes Jahr, aber heut will ich nicht weiterdenken. Ich lasse die Zukunft verschleiert und konzentriere mich mit Haut und Haar auf meine Arbeit. Ich habe die Stadt verlassen, hier in der Einsamkeit wird mir schon was einfallen. Hier bin ich mit mir allein und es stört mich nur mein eigener Schatten. Ich schreibe ein Theaterstück.
Ob es ein Trauerspiel werden wird oder ein Lustspiel – ich weiß es nicht. Ich hab einen guten Einfall, eine alltägliche Liebesgeschichte in höchstens vier Akten. Aber ich seh noch keinen richtigen Schluß. Soll die Frau sich vergiften oder nicht? Und was mach ich mit dem Mann? Vielleicht wärs doch besser, wenn sie am Leben bliebe, obwohl ich ein Realist bin.
Viele Pläne gehen durch meinen Kopf und das leere Papier ist so schrecklich weiß. Aber hier in der Einsamkeit wird sich schon alles herauskristallisieren.
Ich liebe das Meer.
Es kommt mit neuen und neuen Wellen, immer wieder, immer wieder – und ich weiß es noch nicht, ob es ein Lustspiel wird oder ein Trauerspiel.
Gestern war der Sturm noch stärker. In der Nacht sind die Netze zerrissen und ein Kahn kam nicht mehr zurück. Vielleicht taucht er auf über das Jahr mit schwarzen Segeln und fährt als Gespenst über die Wasser ohne eine Seele –
Ich weiß es noch nicht.
 
Gute Nacht!

Sonntag, 10. Januar 2016

In Fesseln

von Albrecht Haushofer
Für den, der nächtlich in ihr schlafen soll,
So kahl die Zelle schien, so reich an Leben
Sind ihre Wände. Schuld und Schicksal weben
Mit grauen Schleiern ihr Gewölbe voll.

Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt,
Ist unter Mauerwerk und Eisengittern
Ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern,
Das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.

Ich bin der erste nicht in diesem Raum,
In dessen Handgelenk die Fessel schneidet,
An dessen Gram sich fremder Wille weidet.

Der Schlaf wird Wachen wie das Wachen Traum.
Indem ich lausche, spür ich durch die Wände
Das Beben vieler brüderlicher Hände.

Gute Nacht!
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