von Robert Walser
Die Eltern prägen den Kindern die fürchterliche
Angst vor dem Dunkel ein und schicken dann zur Strafe die Unartigen in
stille, schwarze Kammern. Da greift nun das Kind im Dunkel, im dicken
Dunkel und stößt nur auf Dunkel. Des Kindes Angst und das Dunkel kommen
ganz gut miteinander aus, aber nicht das Kind mit der Angst. Das Kind
hat soviel Talent, Angst zu haben, daß die Angst immer größer wird. Sie
bemächtigt sich des kleinen Kindes, denn sie ist etwas so Großes,
Dickes, Schweratmendes; das Kind würde zum Beispiel gern schreien
wollen, aber es wagt es nicht. Dieses Nicht-Wagen vergrößert noch seine
Angst; denn etwas Furchtbares muß da sein, wenn man nicht einmal vor
Angst Angstschreie ausstoßen darf. Das Kind glaubt, jemand horche im
Dunkel. Wie schwermütig einen das macht, sich solch ein armes Kind
vorzustellen. Wie die armen Öhrchen sich anstrengen, ein Geräusch zu
erhorchen: nur den tausendsten Teil eines Geräuschleins. Nichts hören
ist viel angstvoller als etwas hören, wenn man schon einmal im Dunkel
steht und hinhorcht. Überhaupt schon: hinhorchen und beinahe das eigene
Horchen hören. Das Kind hört nicht auf, zu hören. Manchmal horcht es,
und manchmal hört es nur, denn das Kind weiß zu unterscheiden in seiner
namenlosen Angst. Wenn man sagt: hören, so wird eigentlich etwas gehört,
aber wenn man sagt: horchen, so horcht man vergeblich, man hört nichts,
man möchte hören. Horchen ist Sache des Kindes, das in eine dunkle
Kammer eingesperrt wird, zur Strafe für Unarten. Denke man sich jetzt,
daß jemand herankäme, leise, fürchterlich leise. Nein, das lieber nicht
denken. Lieber das nicht denken. Derjenige, der das denkt, stirbt mit
dem Kinde vor Schreck. So zarte Seelen haben Kinder, und solchen Seelen
solche Schrecknisse zudenken! Eltern, Eltern, stecket nie eure unartigen
Kinder in dunkle Kammern, wenn ihr sie vorher gelehrt habt, Angst vor
dem sonst so lieben, lieben Dunkel zu empfinden.
Und trotzdem: Gute Nacht!
Freitag, 24. April 2015
Freitag, 17. April 2015
Das Hungerlied
von Georg Weerth
Gute Nacht!
Verehrter Herr und König,
Weißt du die schlimme Geschicht?
Am Montag aßen wir wenig,
Und am Dienstag aßen wir nicht.
Und am Mittwoch mußten wir darben,
Und am Donnerstag litten wir Not;
Und ach, am Freitag starben
Wir fast den Hungertod!
Drum laß am Samstag backen
Das Brot, fein säuberlich -
Sonst werden wir sonntags packen
Und fressen, o König, dich!
Gute Nacht!
Freitag, 10. April 2015
Vom Begehren
von Thomas Hobbes
Nach der Ordnung der Natur geht die Wahrnehmung dem Begehren voraus. Denn ob das, was wir sehen, angenehm sein wird oder nicht, läßt sich nur auf Grund von Erfahrung, d.h. durch Wahrnehmung, wissen. Daher pflegt man zu sagen, das Unbekannte reize uns nicht. Indessen kann es eine Begierde, etwas Unbekanntes kennen zu lernen, geben. Sie erklärt, dass kleine Kinder nur wenig begehren, größere Kinder mehr und Unbekanntes versuchen und mit fortschreitendem und gereiftem Alter die Menschen, besonders die Gelehrten, unzählige, auch nicht notwendige Dinge kennen zu lernen streben. Und was sie als angenehm erprobt haben, begehren sie späterhin wiederholt, von der Erinnerung getrieben. Bisweilen wird auch etwas, was beim ersten Kennenlernen unangenehm ist, wenn es nur selten oder neu gewesen ist, durch die Gewohnheit nicht mehr als unangenehm, später sogar als angenehm empfunden. So großen Einfluss hat die Gewohnheit auf die Sinnesänderung einzelner Menschen.
Gute Nacht!
Nach der Ordnung der Natur geht die Wahrnehmung dem Begehren voraus. Denn ob das, was wir sehen, angenehm sein wird oder nicht, läßt sich nur auf Grund von Erfahrung, d.h. durch Wahrnehmung, wissen. Daher pflegt man zu sagen, das Unbekannte reize uns nicht. Indessen kann es eine Begierde, etwas Unbekanntes kennen zu lernen, geben. Sie erklärt, dass kleine Kinder nur wenig begehren, größere Kinder mehr und Unbekanntes versuchen und mit fortschreitendem und gereiftem Alter die Menschen, besonders die Gelehrten, unzählige, auch nicht notwendige Dinge kennen zu lernen streben. Und was sie als angenehm erprobt haben, begehren sie späterhin wiederholt, von der Erinnerung getrieben. Bisweilen wird auch etwas, was beim ersten Kennenlernen unangenehm ist, wenn es nur selten oder neu gewesen ist, durch die Gewohnheit nicht mehr als unangenehm, später sogar als angenehm empfunden. So großen Einfluss hat die Gewohnheit auf die Sinnesänderung einzelner Menschen.
Gute Nacht!
Sonntag, 5. April 2015
Im Ei
von Günter Grass
Gute Nacht!
Wir leben im Ei.
Die Innenseite der Schale
haben wir mit unanständigen Zeichnungen
und den Vornamen unserer Feinde bekritzelt.
Wir werden bebrütet.
Wer uns auch brütet,
unseren Bleistift brütet er mit.
Ausgeschlüpft eines Tages,
werden wir uns sofort
ein Bildnis des Brütenden machen.
Wir nehmen an, dass wir gebrütet werden. /
Wir stellen uns ein gutmütiges Geflügel vor /
und schreiben Schulaufsätze
über Farbe und Rasse
der uns brütenden Henne.
Wann schlüpfen wir aus?
Unsere Propheten im Ei
streiten sich für mittelmäßige Bezahlung
über die Dauer der Brutzeit.
Sie nehmen einen Tag X an.
Aus Langeweile und echtem Bedürfnis
haben wir Brutkästen erfunden.
Wir sorgen uns sehr um unseren Nachwuchs im Ei.
Gerne würden wir jener, die über uns wacht
unser Patent empfehlen.
Wir aber haben ein Dach überm Kopf.
Senile Küken,
Embryos mit Sprachkenntnissen
reden den ganzen Tag
und besprechen noch ihre Träume.
Und wenn wir nun nicht gebrütet werden?
Wenn diese Schale niemals ein Loch bekommt?
Wenn unser Horizont nur der Horizont
unser Kritzeleien ist und auch bleiben wird?
Wir hoffen, dass wir gebrütet werden.
Wenn wir auch nur noch vom Brüten reden,
bleibt doch zu befürchten, dass jemand,
außerhalb unserer Schale, Hunger verspürt,
uns in die Pfanne haut und mit Salz bestreut.-
Was machen wir dann, ihr Brüder im Ei?
Gute Nacht!
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