Montag, 17. Dezember 2018

Der Seufzer

von Christian Morgenstern
Ein Seufzer lief Schlittschuh auf nächtlichem Eis
und träumte von Liebe und Freude.
Es war an dem Stadtwall, und schneeweiß
glänzten die Stadtwallgebäude.

Der Seufzer dacht' an ein Maidelein
und blieb erglühend stehen.
Da schmolz die Eisbahn unter ihm -
und er sank - und ward nimmer gesehen.
Anmerkung
Pars pro toto. - In Wirklichkeit wird der Gute in ein Fischloch
gefahren sein. -

Nach den jüngsten pädagogischen Gesichtsstandpunkten für die
neureichsdeutschen Schullesebücher umgewälzte Fassung:

Zeile 2:
und träumte von Freundschaft und Freude.

Zeile 5,6:
Der Seufzer dacht' an die Ahnen sein
und blieb nachsinnend stehen.


Gute Nacht!

Montag, 26. November 2018

Melancholie

von Joachim Ringelnatz
Von weit her Hundebellen
Klingt durch die nächtliche Ruh.
Es spülen die schwarzen Wellen
Mein Boot dem Ufer zu.

Die blauen Berge der Ferne
Winken am Himmelssaum.
Auf in den Lichtbann der Sterne
Trägt mich ein Traum.

Stumm ziehen wilde Schwäne
Über das Wasser hin.
Mir kommt eine müde Träne.
Ich weiß nicht, warum ich so bin.

Gute Nacht!

Sonntag, 18. November 2018

Der plötzliche Spaziergang

von Franz Kafka

Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, dass das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen müsste, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen Entschluss alle Entschlussfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, dass man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die langen Gassen hinläuft, — dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt. Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht.


Gute Nacht!

Dienstag, 13. November 2018

Die Zeit steht still

von Mascha Kaléko
Die Zeit steht still. Wir sind es, die vergehen.
Und doch, wenn wir im Zug vorüberwehen,
Scheint Haus und Feld und Herden, die da grasen,
Wie ein Phantom an uns vorbeizurasen.
Da winkt uns wer und schwindet wie im Traum,
Mit Haus und Feld, Laternenpfahl und Baum.

So weht wohl auch die Landschaft unsres Lebens
An uns vorbei zu einem andern Stern
Und ist im Nahekommen uns schon fern.
Sie anzuhalten suchen wir vergebens
Und wissen wohl, dies alles ist nur Trug.

Die Landschaft bleibt, indessen unser Zug
Zurücklegt die ihm zugemessnen Meilen.

Die Zeit steht still. Wir sind es, die enteilen.

Gute Nacht!

Montag, 5. November 2018

Die Frage des Weltfriedens

von Arthur Schnitzler

Niemals ist um irgendeine Idee Krieg geführt worden, es hat sich nie um etwas Anderes als um Machtkämpfe gehandelt, doch waren die Ideen als Vorwände, geglaubte oder ungeglaubte, niemals zu entbehren. Es ist eine historische Fälschung, dass der dreißgjährige Krieg ein Religionskrieg war. Beweis dagegen, dass schon wenige Jahre nach Beginn Protestanten im Heere des Kaisers und Katholiken bei seinen Gegnern kämpften. Und in der zweiten Hälfte war das prozentuelle Verhältnis geradezu verschoben.
Es lässt sich nicht nur beweisen, dass die Ideen, um die Kriege geführt wurden, den Völkern oder den Heeren vorgespiegelt wurden, es lässt sich sogar beweisen, dass die Entfessler selbst entweder nicht an die Idee geglaubt haben, für die sie angeblich kämpften, oder dass sie Monomanen waren.
Hier spielt natürlich die insbesonders bei Politikern zu hoher Vollendung ausgebildete Kunst , die eigene Seele gebietsweise freiwillig ins Dunkel zu versetzen, eine große Rolle.

Man sagt, er ist den schönen Heldentod gestorben. Warum sagt man nie, er hat eine herrliche Heldenverstümmelung erlitten? Man sagt, er ist für das Vaterland gefallen. Warum sagt man nie, er hat sich für das Vaterland beide Beine amputieren lassen?
Das Wörterbuch des Krieges ist von den Diplomaten, den Militärs und den Machthabern gemacht. Es sollte von denen richtiggestellt werden, die aus dem Krieg heimgekehrt sind, von den Witwen, den Waisen, den Ärzten und den Dichtern.
So lange der Krieg als eine Möglichkeit überhaupt in Betracht kommt, also, so lange es Berufszweige gibt, die auf die Möglichkeit eines Krieges gestellt sind, ferner, so lange es auch nur einen Menschen gibt, der durch den Krieg seinen Reichtum vergrößern oder solchen erwerben kann und der zu gleicher Zeit die Macht hat oder den Einfluss, einen Krieg herbeizuführen, genau so lange wird es Kriege geben. Und hier ist die Frage des Weltfriedens anzupacken, nirgends anders.
Weder in religiösen noch in philosophischen, noch in ethischen Motiven. Diese spielen absolut keine Rolle. Weder die Vernunft, noch das Mitleid, noch die Ehre dürfen wir mit der geringsten Aussicht auf Erfolg anrufen. Es handelt sich ausschließlich darum, die Ordnung der Welt so umzugestalten, dass kein Mensch, auch nicht ein einziger, weder in Freundes- noch in Feindesland, die geringste Aussicht hat, seine persönlichen Verhältnisse durch einen Krieg zu verbessern. Unmöglich? So lange das unmöglich ist, hat die Friedensbewegung nicht die entfernteste Aussicht auf Erfolg. Mit Tiefsinn und Sentimentalitäten werdet ihr weder die Herzen der Diplomaten, noch die der Attaches, noch die der Generäle, noch die der Heereslieferanten rühren. 


Gute Nacht!

Samstag, 2. Juni 2018

Brief eines Emigranten an seine Tochter

von Oskar Maria Graf
Kind, du schreibst mir aus dem Heimat,
dass es wieder Sommer ist.
Wenn man morgens übers nasse Gras geht,
schreibst du, sei man wie die Erde selber,
die in neuem Wachsen steht.

Wenn ich das so lese aus dem Brief,
sehe ich Äcker, Wald und Feld
ganz wie einst, als ich sie noch durchstreifte.
Unvergänglich glänzt das gute Bild
und beglückt mich immer tief.

Und du schreibst vom Krieg fast lustig,
weil man so viel davon hört,
Ja, die Alten, meinst du, seien meist gestorben
und die Jungen viel beim Militär
weil es immer bald losgehen wird.

Kind, beim Lesen stockt mein Atem!
Ist das alles, was du weißt?
Ist vom freien Frieden nie die Rede?
Ich sehe Wald und Feld, die Äcker
fürchte schwer – alles öd!
Und keine Menschen mehr…

Gute Nacht!

Donnerstag, 24. Mai 2018

Gewinn und Verlust

von Hazrat Inayat Khan

Wenn man das Leben tiefer betrachtet, erkennt man, dass es keinen Gewinn gibt, der nicht zugleich ein Verlust ist, und dass es keinen Verlust gibt, der nicht Gewinn wäre.
Was aber der Mensch gewonnen hat, er hat auch etwas damit verloren, dessen er oft nicht gewahr wird; und manchmal, wenn er es weiß, nennt er es den Preis, wenn er es als geringeren Verlust betrachtet.
Aber wenn er es nicht weiß, ist der Verlust groß, denn jeder Gewinn ist immer ein vergänglicher Gewinn. Und die Zeit, die zu seiner Eroberung notwendig war, ist ein Verlust, ein größerer Verlust im Vergleich zu dem Gewinn.
Der Verlust eines jeden vergänglichen Dinges ist ein Gewinn im Unvergänglichen, denn er weckt das Herz, das im Streben nach dem Gewinn schläft sowie es schläft in der Freude am Gewinn. Wenn ein Mensch sein eigenes Leben und seine Ereignisse genau beobachtet, erkennt er, dass es keinen Verlust gibt, der zu bedauern wäre, dass unter dem Mantel eines jeden Verlustes ein größerer Gewinn verborgen war; und er stellt ebenfalls fest, dass mit jedem Gewinn ein Verlust verbunden war und wenn dieser Gewinn mit dem Verlust verglichen wird, erweist sich der Verlust größer als der Gewinn.


Gute Nacht!

Samstag, 12. Mai 2018

An den Tod

von Afanassi Fet 

Ersterbend fühlt ich oft die Sinne mir vergehen,
Fern dem berauschten Geist war alle Erdennot...
Drum kann ich ohne Furcht dir in das Antlitz sehen,
Du ewig finstre Nacht, du ewig starrer Tod!

Nun magst du mir das Haupt mit kalter Hand berühren
Und aus dem Lebensbuch mich streichen immerzu:
Solang den Atem wird mein warmer Busen führen,
Sind unsre Kräfte gleich, und nimmer siegest du!

Gehorchen mußt du mir, ruf ich dich in die Schranken!
Mein Schatten bist du, liegst zu Füßen mir im Bann!
Du wesenloses Nichts, du bist nur mein Gedanken,
Ein Spielzeug meines Wahns, das ich zerbrechen kann!


Gute Nacht!

Montag, 7. Mai 2018

Wie können wir unsere Feinde lieben?

von Martin Luther King

Zunächst müssen wir zur Vergebung fähig werden. Wer nicht vergeben kann, der kann auch nicht lieben. Wir können nicht mit der Feindesliebe beginnen, wenn wir nicht begreifen, dass wir denen immer wieder vergeben müssen, die uns beleidigen und verfolgen.
Wir müssen auch begreifen, dass Vergebung immer nur von dem ausgehen kann, dem Böses getan wurde. Der Übeltäter kann um Vergebung bitten. Er kann zur Besinnung kommen wie der verlorene Sohn, der reumütig zurückkehrte und sich von ganzem Herzen nach Vergebung sehnte. Aber nur der beleidigte Nachbar, der liebende Vater daheim können die Vergebung gewähren.
Wenn wir vergeben, so bedeutet das nicht, dass wir so tun, als wäre nichts geschehen, oder dass wir eine böse Tat nicht mehr beim Namen nennen. Vielmehr bedeutet es, dass eine böse Tat nicht mehr als Schranke die Beziehungen stört. Vergebung ist ein Katalysator, der die notwendige Atmosphäre für einen neuen Anfang schafft. Vergebung ist das Abnehmen einer Bürde, das Löschen einer Schuld.
Worte wie: "Ich vergebe Dir, aber ich werde nie vergessen, was du mir angetan hast", können nie das wahre Wesen der Vergebung ausdrücken. Gewiss kann man nicht vergessen, wenn vergessen bedeutet, dass etwas völlig aus dem Gedächtnis verschwunden sein soll. Wenn wir aber vergeben, so vergessen wir in dem Sinne, dass die Missetat kein Hindernis mehr für eine neue Beziehung bildet. Auch: "Ich vergebe dir, aber künftig will ich nichts mehr mit dir zu tun haben", ist falsch. Vergebung bedeutet Aussöhnung, Wiederzusammenkommen. Niemand kann ohne Vergebung seine Feinde lieben. Der Grad der Vergebungsfähigkeit bestimmt den Grad der Möglichkeit, unsere Feinde zu lieben.


Gute Nacht!

Montag, 30. April 2018

Nachtwache

von Dagmar Nick
Ich will nicht deine Träume stören.
Die stummen Nächte bleiben dein.
Ich will nur deine Atemzüge hören
Und bei dir sein.

Und wachen, weil des Mondes Schimmer
Dein Antlitz ganz veränderte,
Weil kaltes Licht das fremdgewordene Zimmer
Umränderte.

Und warten, bis ein Stern zersplittert
Und hinter deine Stirne fällt.
Erwache nicht: es ist mein Herz, das zittert,
Weil es dich hält.

Gute Nacht!

Sonntag, 22. April 2018

Elemente der Bildung

von Ernst Robert Curtius 

Ein gebildeter Mensch ist der, der ein gewisses Maß an Kenntnissen besitzt. Dieses Mindestmaß wird bestimmt durch soziale Konvention und wird darum mit den geschichtlichen Zeitabschnitten wechseln. Im heutigen deutschen Bürgertum trifft man vielfach auf die etwas verschwommene Ansicht, dass dieses Mindestmaß etwa mit dem zusammenfalle, was in der Reifeprüfung der höheren Schulen verlangt wird. Ein gebildeter Mensch ist man angeblich, wenn man sein Abitur gemacht hat oder wenn man auf anderem Wege, etwa auf dem Wege über die Berufsschulung handwerklicher, kaufmännischer oder sonstiger Art Universitätsreife erworben hat. Andererseits aber wissen wir sehr wohl, dass man alle diese Erkenntnisse, ja noch viel mehr haben und doch in tieferem Sinne ein ungebildeter Mensch sein kann, ein Mensch, der die Teile in der Hand hat, dem aber leider das geistige Band fehlt. Was vermissen wir an ihm? Wir vermissen nicht ein bestimmtes Maß an Wissen und Kenntnissen, sondern eine bestimmte Haltung der Persönlichkeit. Wir vermissen eine gestalthafte Einheit seiner Lebensäußerungen: also dasjenige, was in den großen Epochen der Kunst als Gesamtstil einer Zeit bezeichnet wird. Daraus dürfen wir schließen, dass Bildung, wenn wir das Wort vom einzelnen Menschen gebrauchen, eine bestimmte Gestaltqualität bedeutet; dass sie in diesem Sinne von dem Besitz an Kenntnissen weitgehend unabhängig ist, dass sie unmittelbar das Sein der Person betrifft.


Gute Nacht!

Sonntag, 15. April 2018

Dorfabend

von Gerrit Engelke
Fenster schließen, glimmern stille,
Häuslein rücken Dach an Dach
Himmel stehen feiernd stille,
Mond wird Silberfrucht und wach.
Müder Leib schläft in der Stille,
Herz schlägt alle Stunden nach,
Lebt für sich durch Schlaf und Stille –
Wohin denn? wozu? aus wessen Wille?
Lautlos, langsam fallen Wand und Dach.

Gute Nacht!

Samstag, 7. April 2018

Über das Alter

von Hermann Hesse

Auf eine menschenwürdige Art alt zu werden und jeweils die unserem Alter zukommende Haltung oder Weisheit zu haben, ist eine schwere Kunst; meistens sind wir mit der Seele dem Körper gegenüber entweder voraus oder zurück, und zu den Korrekturen dieser Differenzen gehören jene Erschütterungen des inneren Lebensgefühls, jenes Zittern und Bangen an den Wurzeln, die uns eh und je bei Lebenseinschnitten und Krankheiten befallen. Mir scheint, man darf ihnen gegenüber wohl klein sein und sich klein fühlen, wie Kinder durch Weinen und Schwäche hindurch am besten das Gleichgewicht nach einer Störung des Lebens wieder finden.


Gute Nacht!

Sonntag, 1. April 2018

Der erste Ostertag

von Heinrich Hoffmann
Fünf Hasen, die saßen beisammen dicht,
Es macht ein jeder ein traurig Gesicht.
Sie jammern und weinen:
Die Sonn' will nicht scheinen!
Bei so vielem Regen
Wie kann man da legen
Den Kindern das Ei?
O weih, o weih!
Da sagte der König:
So schweigt doch ein wenig!
Lasst weinen und Sorgen
Wir legen sie morgen!
Gute Nacht!

Mittwoch, 21. März 2018

Große Stille

von Max Dauthendey
Schwindelnde Nebel räuchern das Tal,
Luftwelt bauscht sich grau und kahl.
Weder Laub noch Wiese rauscht -
Große Stille, dumpf und taub.

Wolk' um Wolke ihren feuchten Platz vertauscht,
Und Dein Ohr den Nebeltropfen lauscht.
Jeder Tropfen spricht: Es war einmal .... .
Und die Bäume leuchten gelb und schmal.

Gute Nacht!

Sonntag, 18. März 2018

Ich lachte heut - warum? Wer sagt es mir?

von John Keats
Ich lachte heut – warum? Wer sagt es mir?
Kein Gott, kein Dämon ist, der Antwort sagt,
Der mir aus Himmel, Hölle Antwort wagt!
Nur Schweigen, – Herz, so wend ich mich zu dir:

Herz! Du und ich sind traurig und allein;
Ich frage: weshalb lachte ich? – Nun? Nun? –
O Dunkel, Dunkel! Und ich kann nicht ruhn,
Und Himmel, Hölle, Herz höhnt meine Pein!

Ich lachte heut – warum? – Kurz ist das Leben,
Sein Seligstes genoß beschwingt mein Geist –
Doch würd' ich heute gern dem Tod mich geben,

Der unsre bunten Fahnen schrill zerreißt:
Lied, Ruhm und Schönheit türmen nur den Thron
Für König Tod – des Lebens höchsten Lohn.

Gute Nacht!

Freitag, 9. März 2018

Vorfrühling

von Ernst Stadler

In dieser Märznacht trat ich spät aus meinem Haus.
Die Straßen waren aufgewühlt von Lenzgeruch und grünem Saatregen.
Winde schlugen an. Durch die verstörte Häusersenkung ging ich weit hinaus
Bis zu dem unbedecktem Wall und spürte: meinem Herzen schwoll ein neuer Takt entgegen.

In jedem Lufthauch war ein junges Werden ausgespannt.
Ich lauschte, wie die starken Wirbel mir im Blute rollten.
Schon dehnte sich bereitet Acker. In den Horizonten eingebrannt
War schon die Bläue hoher Morgenstunden, die ins Weite führen sollten.

Die Schleusen knirschten. Abenteuer brach aus allen Fernen.
Überm Kanal, den junge Ausfahrtwinde wellten, wuchsen helle Bahnen,
In deren Licht ich trieb. Schicksal stand wartend in umwehten Sternen.
In meinem Herzen lag ein Stürmen wie von aufgerollten Fahnen.


Gute Nacht!

Sonntag, 4. März 2018

Isländisches Liebesgedicht

von Joochen Laabs
Ich bin der Bottich //
du drin der Hering. //
Und das Salz zwischen uns //
ist die Liebe //
die uns haltbar macht //
und zerfrisst.
 Gute Nacht!

Sonntag, 25. Februar 2018

Liebe und Verliebtsein

von Erich Fromm

Der dritte Irrtum, der zu der Annahme führt, das Lieben müßte nicht gelernt werden, beruht darauf, dass man das Anfangserlebnis, «sich zu verlieben», mit dem permanenten Zustand «zu lieben» verwechselt. Wenn zwei Menschen, die einander fremd waren – wie wir uns das ja alle sind –, plötzlich die trennende Wand zwischen sich zusammenbrechen lassen, wenn sie sich eng verbunden, wenn sie sich eins fühlen, so ist dieser Augenblick des Einsseins eine der freudigsten, erregendsten Erfahrungen im Leben. Besonders herrlich und wundervoll ist er für Menschen, die bisher abgesondert, isoliert und ohne Liebe gelebt haben.
Dieses Wunder der plötzlichen innigen Vertrautheit wird of dadurch erleichtert, daß es mit sexueller Anziehung und sexueller Vereinigung Hand in Hand geht oder durch sie ausgelöst wird. Freilich ist diese Art Liebe ihrem Wesen nach nicht von Dauer. Die beiden Menschen lernen einander immer besser kennen, und dabei verliert ihre Vertrautheit immer mehr den geheimnisvollen Charakter, bis ihr Streit, ihre Enttäuschungen, ihre gegenseitige Langeweile die anfängliche Begeisterung getötet haben. Anfangs freilich wissen sie das alles nicht und meinen, heftig verliebt und «verrückt» nacheinander zu sein, sei der Beweis für die Intensität ihrer Liebe, während es vielleicht nur beweist, wie einsam sie vorher waren.


Gute Nacht!

Samstag, 17. Februar 2018

Es ist alles eitel

von Andreas Gryphius
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:
Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein,
Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.

Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein,
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach! Was ist alles dies, was wir für köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t.
Noch will, was ewig ist, kein einzig Mensch betrachten! 

Gute Nacht!

Montag, 12. Februar 2018

Leere

von Kurt Tucholsky

Manchmal, wenn das Telefon nicht ruft, wenn keiner etwas von dir will, nicht einmal du selber, wenn die Trompeter des Lebens pausieren und ihre Instrumente umkehren, damit die Spucke herausrinnt ... dann horchst du in dich. Und was ... dann ist da eine Leere –

Dann ist da gar nichts. Die Geräusche schweigen; nun müsste doch das Eigentliche in dir tönen ... es tönt nicht. Horche, dass sich dir die Stirn zusammenzieht – vielleicht ist es gar nicht da, das Eigentliche? Vielleicht ist es gar nicht da. Überfüttert mit Geschäften, Besorgungen, mit dem Leben, wie? Und das Fazit? Leere – Der Herr sollten sich wieder mal verlieben! Der Herr sollten nicht so viel rauchen! Schlecht geschlafen, was? ... Die Witze rinnen an dir ab; das ist es alles gar nicht. Leer, leer wie ein alter Kessel – es schallt, wenn man dran bumbert ...

Das wäre ja wohl der Moment, in den Schoß von Mütterchen Kirche zu krabbeln. Nein, diesem Seelenarzt trauen wir nicht mehr recht – wir wissen zu viel von ihm: wie er das macht, wie das funktioniert ... ein Arzt muss ein Geheimnis haben. Das da ist wohl nichts für uns.

Aber die Indikation Gebet ist zutreffend. Was hast du? Lebensangst? Todesangst hast du. Auf einmal ist es aus, auf einmal wird es aus sein. »Ich werde mir doch sehr fehlen«, hat mal einer gesagt. Ja, Todesangst und dann das Gefühl: Wozu? Warum das alles? Für wen? Gewiss, im Augenblick, wenn du nichts zu fressen hast, dann wirst du schon herumlaufen und dir was zusammenklauben, aber so ein echter, rechter Lebensinhalt dürfte das wohl nicht sein. Du hast dir zu viel kaputt gedacht, mein Lieber. Du probierst den Altarwein, du berechnest die Ellen Tuch, die an der Fahnenstange flattern, du liest die Bücher von hinten und von vorn ... Gott segne deinen Verstand.

Dann wirst du langsam älter; wenn das Gehirn nicht mehr so will, setzt eine laue Stimmung ein, die sich als Gefühl gibt. Du siehst den kleinen Tierchen nach, wie sie im Sande krauchen, Gottes Wunder! du blickst auf deine eignen Finger, jeder eine kleine Welt, ein Wunder an Gestaltung auch sie, es lebt – und du weißt gar nicht, was das ist ... Und dann noch einmal: Aufstand, große Aufrappelung, heraus da, vergessen!

Vergessen und zu Ingeborg kriechen wie ein Söhnlein zurück in der Mutter Leib; noch einmal: »Hallo, alter Junge! Na, auch da? – Heute abend? aber gewiss! Wohin? Zu den Mädchen – hurra!« Noch einmal: so ein dickes Buch und die halbe Bibliothek verschlungen, versaufen in Büchern ... noch einmal die ganze Litanei von vorn. Nur mit diesem unterkietigen Gefühl als Grundbass: Vergebens, vergebens, vergebens.

»Jede Zeit«, lautet der flachste aller Gemeinplätze, »ist eine Übergangszeit.« Ja. Dass doch einer aufstände und an die Laterne brüllte: dass er nicht mehr mitmachen will – und dass es ein Plunder ist, ein herrlicher, und dass es anders werden soll – und dass nicht die Dinge regieren sollen, sondern der Mensch ... ach, du grundgütiger Himmel. Da – hier haben Sie einen philosophischen Sechser: Jedes Leben ist ein Übergang – von der Geburt an bis zum Tode. Machen Sie sich dann einen vergnügten Lebensabend ...

Wieviel tun wir, um diese Leere auszufüllen! Wer sie ausfüllt und noch ein Meterchen drüber hinausragt, der ist ein großer Mann. Wo einer seinen Kopf hat, hoch oben in den Wolken –: das besagt nicht viel. Aber wo er mit den Füßen steht, ob auf der flachen Erde oder tief unten ... das zeigt ihn ganz. Und wer dann noch lachen kann, der kann lachen.


Gute Nacht!

Montag, 5. Februar 2018

Flucht

von Dagmar Nick

Weiter. Weiter. Drüben schreit ein Kind.
Laß es liegen, es ist halb zerrissen.
Häuser schwanken müde wie Kulissen
durch den Wind.

Irgendjemand legt mir seine Hand
in die meine, zieht mich fort und zittert.
Sein Gesicht ist wie Papier zerknittert,
unbekannt.


Ob du auch so um dein Leben bangst?
Alles andre ist schon fortgegeben.
Ach, ich habe nichts mehr, kaum ein Leben,
nur noch Angst.

Gute Nacht!

Dienstag, 30. Januar 2018

Die Stille der Nacht

von Hermann Hesse

Was auf dem Lande sich von selber versteht, die Stille der Nacht, ist doch für den Städter immer wieder ein Wunder. Wer aus seiner Stadt heraus auf ein Landgut oder in einen Bauernhof kommt und den ersten Abend am Fenster steht oder im Bette liegt, den umfängt diese Stille wie ein Heimatzauber und Ruheport, als wäre er dem Wahren und Gesunden nähergekommen und spüre ein Wehen des Ewigen. Es ist ja keine vollkommene Stille. Sie ist voll von Lauten, aber es sind dunkle, gedämpfte, geheimnisvolle Laute der Nacht, während in der Stadt die Nachtgeräusche sich von denen des Tages so bitter wenig unterscheiden. Es ist das Singen der Frösche, das Rauschen der Bäume, das Plätschern des Baches, der Flug eines Nachtvogels, einer Fledermaus. Und wenn etwa einmal ein verspäteter Leiterwagen vorüberjagt oder ein Hofhund anschlägt, so ist es ein erwünschter Gruß des Lebens und wird majestätisch von der Weite des Luftraums gedämpft und verschlungen.


Gute Nacht!

Sonntag, 21. Januar 2018

Die Ballade von Villon und seiner dicken Margot

von François Villon
Da regen sich die Menschen auf, weil ich
mit einem Mädchen geh, das sich vom Strich
ernährt und meine Wenigkeit dazu.
Ich aber hab die Kleine doch so schrecklich gern,
ich bürste ihr die Kleider, putz ihr auch die Schuh,
damit die Offiziers und Kammerherrn
sich wie im Himmel fühlen,
in dem Kabuff, in dem wir beide wohnen.

Ich bleibe immer vornehm und diskret
und warte, bis die Kundschaft wieder geht,
und zähle schnell die Taler nach,
und wenn es weniger sind,
als der geehrte Herr versprach,
dann gibt es leider etwas Wind
in dem Kabuff, in dem wir beide wohnen.

Mitunter nage ich auch an dem Hungertuch
bei meinem schwarzen Schwan, wenn der Besuch
ins Stocken kam.
Mein Gott, die schönste Huld
hört auf und macht den Menschen weniger zahm,
der Teufel hole die Geduld.
Und so läuft mir die Galle eben über
in dem Kabuff, in dem wir beide wohnen.

Dann hat mich die Margot so lieb wie nie
und schnurrt und putzt sich wie ein Katzenvieh:
„Sei wieder nett zu mir und gut!“
Und ich bin auch kein hölzernes Gestell,
das gibt uns beiden einen frischen Mut.
Bald ist es wieder flott, das Karussell,
und dreht die kunterbuntesten Figuren
in dem Kabuff, in dem wir beide wohnen.
 
Anhängsel zur freundlichen Aufmunterung:

Sehnt ihr in dieser tristen Zeit euch sterbenskrank
nach einer warmen, weichen Ruhebank,
dann, meine Herren, seid ihr uns willkommen
in dem Kabuff, in dem wir beide wohnen.

Gute Nacht!

Samstag, 13. Januar 2018

Sozusagen grundlos vergnügt

von Mascha Kaléko
Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen
Und dass es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
– Dass Amseln flöten und dass Immen summen,
Dass Mücken stechen und dass Brummer brummen.
Dass rote Luftballons ins Blaue steigen.
Dass Spatzen schwatzen. Und dass Fische schweigen.

Ich freu mich, daß der Mond am Himmel steht
Und dass die Sonne täglich neu aufgeht.
Dass Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter,
Gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter,
Wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, dass ich bin.

In mir ist alles aufgeräumt und heiter:
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
Die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
– Weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben.
Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne
Und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Dass alles so erstaunlich bleibt, und neu!
Ich freu mich, dass ich . . . Dass ich mich freu.

Gute Nacht!

Sonntag, 7. Januar 2018

Vaterlandsliebe, der Hass gegen Vaterländer

von Bertolt Brecht

Herr K. hielt es nicht für nötig, in einem bestimmten Lande zu leben. Er sagte: "Ich kann überall hungern." Eines Tages aber ging er durch eine Stadt, die vom Feind des Landes besetzt war, in dem er lebte. Da kam ihm entgegen ein Offizier dieses Feindes und zwang ihn, vom Bürgersteig herunterzugehen. Herr K. ging herunter und nahm an sich wahr, dass er gegen diesen Mann empört war, und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem der Mann angehörte, also dass er wünschte, es möchte vom Erdboden vertilgt werden. "Wodurch", fragte Herr K., "bin ich für diese Minute ein Nationalist geworden? Dadurch, dass ich einem Nationalisten begegnete. Aber darum muss man die Dummheit ja ausrotten, weil sie dumm macht, die ihr begegnen." 


Gute Nacht!
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