von Tschuang-Tse
Kungfutse besuchte den weisen Laotse. Eifrig legte er seine zwölf
klassischen Bücher vor ihm nieder. „Ich glaube, du willst zuviel auf
einmal“, sagte der Alte. „was ist der Kernpunkt deiner Lehre?“ „Ich
lehre Nächstenliebe und Gerechtigkeit“, antwortete Kungfutse. „Sind dies
Teile der menschlichen Natur?“ „Der Charakter eines Menschen ist nicht
gut ohne Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Also sind Nächstenliebe und
Gerechtigkeit ein Teil seiner Natur. Was sonst könnten sie sein?“ sagte
Kungfutse beredt. Doch Laotse fragte still: „Was verstehst du unter
Nächstenliebe und Gerechtigkeit?“
„Gleiches Glück allen Menschen zu bieten und alle Menschen ohne
Unterschied und ungeteilt zu lieben: das ist die Essenz von
Nächstenliebe und Gerechtigkeit.“
„Du redest, wie man heutzutage so redet“, sagte der Alte. „Du sagst: 'ohne Unterschied' und 'ungeteilt' und setzest damit 'geteilt' und 'Unterschied' voraus. Wer war es denn, der Unterschiede schuf und
zerteilte?
Wenn du die Menschen lehren willst, ihren verlorenen Hirten
wiederzufinden, erinnere dich bitte daran, dass das Universum bereits
ein ungeteiltes Ganzes ist. Sonne und Mond scheinen gerecht und
unterschiedslos für alle, ihre Bahn verläuft regelmäßig und am
vorgezeichneten Platz. Die Tiere leben schon immer in Herden beieinander
oder auch einzeln. Die Bäume wachsen an dem für sie geeigneten Ort, und
niemand braucht ihnen zu sagen, wie sie es richtig und gerecht machen
sollen. Warum siehst du dir nicht einfach dieses Leben (Tao) und diese
Gerechtigkeit (Te) an? Du schwenkst deine Fahne von Nächstenliebe und
Gerechtigkeit und verwirrst damit alles nur noch mehr. Du kommst mir vor
wie ein Mann, dessen Sohn gestorben ist, und nun geht er herum und
schlägt ungeduldig die Trommel in der Hoffnung, ihn dadurch
wiederzufinden. Ach lehre doch lieber die Menschen, zu ihrer eigenen
vollkommenen Einfachheit zurückzufinden. Das ist nämlich schon das
höchste Tao.
Der Schwan ist weiß, ohne dass ihn jemand künstlich reinigt. Der Rabe
ist schwarz, ohne dass ihn jemand angeschwärzt hat. Hell und Dunkel,
Weiß und Schwarz, alles ist von selbst an seinem natürlichen Platz. Das
ist gut. All dieses Streben der Menschen nach gutem Ruf und
organisierter Gerechtigkeit ist hoffnungslos. Weißt du, an was mich das
erinnert? Wenn ein Teich ausgetrocknet ist und die Fische auf dem
Trockenen liegen, versuchen sie sich gegenseitig mit ihren Mäulern zu
befeuchten. Aber was ihnen wirklich helfen würde, wäre einzig und
allein, wenn jemand sie zurückwürfe in die Flüsse und Meere.“
Kungfutse ging nach Hause und konnte drei Monate nicht reden; in tiefes
Nachdenken versunken. Dann besuchte er den Alten noch einmal. Sie saßen
lange schweigend beieinander, vielleicht tranken sie Tee oder kochten
sich Reis. Sie betrachteten die Pflanzen des Gartens, sahen die Sonne
kommen und gehen, die Tiere aufstehen und sich schlafenlegen. Es war
alles sehr still, sehr einfach und in seiner Ordnung, sehr liebevoll und
sehr gerecht. Laotse lächelte, und Kungfutse sagte: „Jetzt verstehe ich
es.“
Gute Nacht!
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