Samstag, 4. Oktober 2014

Kungfutse beim weisen Laotse

von Tschuang-Tse

Kungfutse besuchte den weisen Laotse. Eifrig legte er seine zwölf klassischen Bücher vor ihm nieder. „Ich glaube, du willst zuviel auf einmal“, sagte der Alte. „was ist der Kernpunkt deiner Lehre?“ „Ich lehre Nächstenliebe und Gerechtigkeit“, antwortete Kungfutse. „Sind dies Teile der menschlichen Natur?“ „Der Charakter eines Menschen ist nicht gut ohne Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Also sind Nächstenliebe und Gerechtigkeit ein Teil seiner Natur. Was sonst könnten sie sein?“ sagte Kungfutse beredt. Doch Laotse fragte still: „Was verstehst du unter Nächstenliebe und Gerechtigkeit?“
„Gleiches Glück allen Menschen zu bieten und alle Menschen ohne Unterschied und ungeteilt zu lieben: das ist die Essenz von Nächstenliebe und Gerechtigkeit.“
„Du redest, wie man heutzutage so redet“, sagte der Alte. „Du sagst: 'ohne Unterschied' und 'ungeteilt' und setzest damit 'geteilt' und 'Unterschied' voraus. Wer war es denn, der Unterschiede schuf und zerteilte?
Wenn du die Menschen lehren willst, ihren verlorenen Hirten wiederzufinden, erinnere dich bitte daran, dass das Universum bereits ein ungeteiltes Ganzes ist. Sonne und Mond scheinen gerecht und unterschiedslos für alle, ihre Bahn verläuft regelmäßig und am vorgezeichneten Platz. Die Tiere leben schon immer in Herden beieinander oder auch einzeln. Die Bäume wachsen an dem für sie geeigneten Ort, und niemand braucht ihnen zu sagen, wie sie es richtig und gerecht machen sollen. Warum siehst du dir nicht einfach dieses Leben (Tao) und diese Gerechtigkeit (Te) an? Du schwenkst deine Fahne von Nächstenliebe und Gerechtigkeit und verwirrst damit alles nur noch mehr. Du kommst mir vor wie ein Mann, dessen Sohn gestorben ist, und nun geht er herum und schlägt ungeduldig die Trommel in der Hoffnung, ihn dadurch wiederzufinden. Ach lehre doch lieber die Menschen, zu ihrer eigenen vollkommenen Einfachheit zurückzufinden. Das ist nämlich schon das höchste Tao.
Der Schwan ist weiß, ohne dass ihn jemand künstlich reinigt. Der Rabe ist schwarz, ohne dass ihn jemand angeschwärzt hat. Hell und Dunkel, Weiß und Schwarz, alles ist von selbst an seinem natürlichen Platz. Das ist gut. All dieses Streben der Menschen nach gutem Ruf und organisierter Gerechtigkeit ist hoffnungslos. Weißt du, an was mich das erinnert? Wenn ein Teich ausgetrocknet ist und die Fische auf dem Trockenen liegen, versuchen sie sich gegenseitig mit ihren Mäulern zu befeuchten. Aber was ihnen wirklich helfen würde, wäre einzig und allein, wenn jemand sie zurückwürfe in die Flüsse und Meere.“
Kungfutse ging nach Hause und konnte drei Monate nicht reden; in tiefes Nachdenken versunken. Dann besuchte er den Alten noch einmal. Sie saßen lange schweigend beieinander, vielleicht tranken sie Tee oder kochten sich Reis. Sie betrachteten die Pflanzen des Gartens, sahen die Sonne kommen und gehen, die Tiere aufstehen und sich schlafenlegen. Es war alles sehr still, sehr einfach und in seiner Ordnung, sehr liebevoll und sehr gerecht. Laotse lächelte, und Kungfutse sagte: „Jetzt verstehe ich es.“


Gute Nacht!

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