von Hermann Hesse
Es ist ein merkwürdiges,
doch einfaches Geheimnis der Lebensweisheit aller Zeiten, dass
jede kleinste selbstlose Hingabe, jede Teilnahme, jede Liebe uns
reicher macht, während jede Bemühung um Besitz und Macht uns
Kräfte raubt und ärmer werden lässt. Das haben die Inder gewusst und
gelehrt, und dann die weisen Griechen, und dann Jesus, dessen Fest
wir jetzt feiern, und seither noch Tausende von Weisen und
Dichtern, deren Werke die Zeiten überdauern, während Reiche und
Könige ihrer Zeit verschollen und vergangen sind. Ihr mögt es mit
Jesus halten oder mit Plato, mit Schiller oder mit Spinoza, überall
ist das die letzte Weisheit, dass weder Macht noch Besitz noch
Erkenntnis selig macht, sondern allein die Liebe. Jedes
Selbstlossein, jeder Verzicht aus Liebe, jedes tätige Mitleid,
jede Selbstentäusserung scheint ein Weggeben, ein Sichberauben,
und ist doch ein Reicherwerden und Grösserwerden, und ist doch
der einzige Weg, der vorwärts und aufwärts führt. Es ist ein altes
Lied und ich bin ein schlechter Sänger und Prediger, aber
Wahrheiten veralten nicht und sind stets und überall wahr, ob sie
nun in einer Wüste gepredigt, in einem Gedicht gesungen oder in
einer Zeitung gedruckt werden.
Gute (Weih-)Nacht!
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