Mittwoch, 24. April 2013

Über den Lärm

von Carl Gustav Jung
(aus einem Brief an Prof. Karl Oftinger, Begründer der "Liga gegen Lärm")


Die beängstigende Verschmutzung des Wassers, die langsam wachsende Radioaktivität und die dunkle Drohung der Übervölkerung mit ihren genoziden Tendenzen haben bereits zu einer allgemein verbreiteten, wenn schon nicht überall bewusst gewordenen Angst geführt; man liebt den Lärm, da er diese nicht zu Wort kommen lässt.
Der Lärm ist willkommen, denn er übertönt die innere instinktive Warnung. Wer sich fürchtet, sucht laute Gesellschaft und tosenden Lärm, der die Dämonen verscheucht. (Die entsprechenden primitiven Mittel sind Geschrei, Musik, Trommeln, knallendes Feuerwerk, Glockenläuten etc.). Der Lärm gibt ein Sicherheitsgefühl, wie die Volksmenge; daher liebt man ihn und scheut sich etwas dagegen zu tun, denn man fühlt instinktiv den apotropäischen Zauber, der von ihm ausgeht.
Der Lärm schützt uns vor peinlichem Nachdenken, er zerstreut ängstliche Träume, er versichert uns, dass wir ja alle zusammen seien und ein solches Getöse veranlassen, dass niemand es wagt uns anzugreifen. Der Lärm ist so unmittelbar, so überwältigend wirklich, dass alles andere zum blassen Phantom wird. Er enthebt uns aller Anstrengung etwas zu sagen oder zu tun, denn sogar die Luft zittert vor Gewalt unserer unüberwindlichen Lebensäußerung.
Das ist die Kehrseite der Medaille: Wir hätten den Lärm nicht, wenn wir ihn nicht heimlich wollten. Er ist nicht bloß unangelegen oder gar schädlich, sondern ein uneingestandenes und unverstandenes Mittel zum Zweck; nämlich eine Kompensation der Angst, für die nur allzu reichlich Gründe vorliegen. In der Stille nämlich würde die Angst den Menschen zum Nachdenken veranlassen und es ist gar nicht abzusehen, was einem dann alles zum Bewusstsein käme.
Die meisten Menschen fürchten die Stille, darum muss immer wenn das beständige Geräusch, z.B. eine Unterhaltung, aufhört, etwas getan, gesagt, gepfiffen, gesungen, gehustet oder gemurmelt werden. Das Bedürfnis nach Geräusch ist beinahe unersättlich, wenn schon bisweilen der Lärm unerträglich wird. Er ist aber doch immerhin besser als nichts. In der bezeichnenderweise so genannten „Totenstille“ wird es unheimlich. Warum? Gehen etwa Gespenster um? Dies wohl kaum. Das, was in Wirklichkeit gefürchtet wird, ist das, was vom eigenen Inneren kommen könnte, nämlich all das, was man sich durch Lärm vom Halse gehalten hat.
Sie haben mit der so nötigen Bekämpfung des Lärms eine schwierige Aufgabe übernommen: Wohl wäre es wünschenswert das Übermaß des Lärms zu vermindern, aber je mehr Sie dem Lärm auf den Leib rücken, desto mehr geraten Sie auf das verbotene Territorium der Stille, die so sehr gefürchtet wird. Sie berauben auch jene, die nichts bedeuten und deren Stimme nie gehört wird, der einzigen Daseinsfreude und der unvergänglichen Genugtuung, die sie empfinden, wenn sie die Stille der Nacht mit dem Knattern ihres Motors durchbrechen und mit einem Höllenlärm den Schlaf ihrer Mitmenschen stören können. In diesem Moment sind sie etwas, das in Betracht kommt. Der Lärm ist ihnen eine raison d'être und eine Bestätigung ihres Daseins. Es gibt viel mehr Menschen als man ahnt, die vom Lärm nicht gestört sind, denn sie haben nichts, in dem sie gestört sein könnten; im Gegenteil, der Lärm gibt ihnen etwas.

Gute Nacht!

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