Dienstag, 30. April 2013

Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit

von Karl Popper

Es gibt also unendlich viele Wahrheiten. Und daraus folgt weiter, daß es unendlich viele Wahrheiten gibt, die wir niemals wissen können: Es gibt unendlich viele, für uns unerkennbare Wahrheiten.
Auch heute noch gibt es viele Philosophen, die denken, daß die Wahrheit nur dann von Bedeutung für uns sein kann, wenn wir sie besitzen; also wenn wir sie mit Sicherheit wissen. Aber gerade das Wissen um die Tatsache, daß es Vermutungswissen gibt, ist von großer Bedeutung. Es gibt Wahrheiten, denen wir nur in mühevollem Suchen näherkommen können. Unser Weg führt fast immer durch den Irrtum; und ohne Wahrheit kann es keinen Irrtum geben. (Und ohne Irrtum gibt es keine Fehlbarkeit.)

Daß gerade unser bestes Wissen von Vermutung durchwebt und unsicher ist, war mir durch Einstein klar geworden. Denn er zeigte, daß
Newtons Theorie der Gravitation, trotz ihrer großartigen Erfolge, Vermutungswissen ist, ebenso wie auch Einsteins eigene Gravitationstheorie; und ebenso wie jene, so scheint auch diese Theorie nur eine Annäherung an die Wahrheit zu sein.
Ich glaube nicht, daß mir die Bedeutung des Vermutungswissens ohne Newton und Einstein je klar geworden wäre; und so fragte ich mich, wie es wohl Xenophanes vor 2.500 Jahren klar werden konnte. Vielleicht ist folgendes die Antwort auf diese Frage:
Xenophanes glaubte ursprünglich an das Weltbild Homers, so wie ich an das Weltbild Newtons. Dieser Glaube wurde bei ihm wie bei mir erschüttert: bei ihm durch seine eigene Kritik an Homer, bei mir durch Einsteins Kritik an Newton.
Sowohl Xenophanes wie Einstein ersetzten das kritisierte Weltbild durch ein neues; und beide waren sich bewußt, daß ihr neues Weltbild nur eine Vermutung war.
Die Einsicht, daß Xenophanes meine Theorie des Vermutungswissens vor 2.500 Jahren vorweggenommen hat, lehrte mich, bescheiden zu sein. Aber auch die Idee der intellektuellen Bescheidenheit wurde fast ebensolang vorweggenommen. Sie stammt von Sokrates.
Sokrates war der zweite und viel einflußreichere Gründer der skeptischen Tradition. Er lehrte: Nur der ist weise, der weiß, daß er es nicht ist.
Sokrates, und etwa gleichzeitig Demokrit, machten, unabhängig voneinander, dieselbe ethische Entdeckung. Beide sagten, fast mit denselben Worten: »Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun.«
Man kann wohl sagen, daß diese Einsicht – jedenfalls zusammen mit der Einsicht, wie wenig wir wissen – zur Toleranz führt;...


Gute Nacht!

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