von Karl Popper
Es
gibt also unendlich viele Wahrheiten. Und daraus folgt weiter, daß es
unendlich viele Wahrheiten gibt, die wir niemals wissen können: Es gibt
unendlich viele, für uns unerkennbare Wahrheiten.
Auch heute noch
gibt es viele Philosophen, die denken, daß die Wahrheit nur dann von
Bedeutung für uns sein kann, wenn wir sie besitzen; also wenn wir sie
mit Sicherheit wissen. Aber gerade das Wissen um die Tatsache, daß es
Vermutungswissen gibt, ist von großer Bedeutung. Es gibt Wahrheiten,
denen wir nur in mühevollem Suchen näherkommen können. Unser Weg führt
fast immer durch den Irrtum; und ohne Wahrheit kann es keinen Irrtum
geben. (Und ohne Irrtum gibt es keine Fehlbarkeit.)
Daß gerade
unser bestes Wissen von Vermutung durchwebt und unsicher ist, war mir
durch Einstein klar geworden. Denn er zeigte, daß
Newtons Theorie der
Gravitation, trotz ihrer großartigen Erfolge, Vermutungswissen ist,
ebenso wie auch Einsteins eigene Gravitationstheorie; und ebenso wie
jene, so scheint auch diese Theorie nur eine Annäherung an die Wahrheit
zu sein.
Ich glaube nicht, daß mir die Bedeutung des
Vermutungswissens ohne Newton und Einstein je klar geworden wäre; und so
fragte ich mich, wie es wohl Xenophanes vor 2.500 Jahren klar werden
konnte. Vielleicht ist folgendes die Antwort auf diese Frage:
Xenophanes
glaubte ursprünglich an das Weltbild Homers, so wie ich an das Weltbild
Newtons. Dieser Glaube wurde bei ihm wie bei mir erschüttert: bei ihm
durch seine eigene Kritik an Homer, bei mir durch Einsteins Kritik an
Newton.
Sowohl Xenophanes wie Einstein ersetzten das kritisierte
Weltbild durch ein neues; und beide waren sich bewußt, daß ihr neues
Weltbild nur eine Vermutung war.
Die Einsicht, daß Xenophanes meine
Theorie des Vermutungswissens vor 2.500 Jahren vorweggenommen hat,
lehrte mich, bescheiden zu sein. Aber auch die Idee der intellektuellen
Bescheidenheit wurde fast ebensolang vorweggenommen. Sie stammt von
Sokrates.
Sokrates war der zweite und viel einflußreichere Gründer
der skeptischen Tradition. Er lehrte: Nur der ist weise, der weiß, daß
er es nicht ist.
Sokrates, und etwa gleichzeitig Demokrit,
machten, unabhängig voneinander, dieselbe ethische Entdeckung. Beide
sagten, fast mit denselben Worten: »Unrecht erleiden ist besser als
Unrecht tun.«
Man kann wohl sagen, daß diese Einsicht – jedenfalls zusammen mit der Einsicht, wie wenig wir wissen – zur Toleranz führt;...
Gute Nacht!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen