Sonntag, 22. April 2018

Elemente der Bildung

von Ernst Robert Curtius 

Ein gebildeter Mensch ist der, der ein gewisses Maß an Kenntnissen besitzt. Dieses Mindestmaß wird bestimmt durch soziale Konvention und wird darum mit den geschichtlichen Zeitabschnitten wechseln. Im heutigen deutschen Bürgertum trifft man vielfach auf die etwas verschwommene Ansicht, dass dieses Mindestmaß etwa mit dem zusammenfalle, was in der Reifeprüfung der höheren Schulen verlangt wird. Ein gebildeter Mensch ist man angeblich, wenn man sein Abitur gemacht hat oder wenn man auf anderem Wege, etwa auf dem Wege über die Berufsschulung handwerklicher, kaufmännischer oder sonstiger Art Universitätsreife erworben hat. Andererseits aber wissen wir sehr wohl, dass man alle diese Erkenntnisse, ja noch viel mehr haben und doch in tieferem Sinne ein ungebildeter Mensch sein kann, ein Mensch, der die Teile in der Hand hat, dem aber leider das geistige Band fehlt. Was vermissen wir an ihm? Wir vermissen nicht ein bestimmtes Maß an Wissen und Kenntnissen, sondern eine bestimmte Haltung der Persönlichkeit. Wir vermissen eine gestalthafte Einheit seiner Lebensäußerungen: also dasjenige, was in den großen Epochen der Kunst als Gesamtstil einer Zeit bezeichnet wird. Daraus dürfen wir schließen, dass Bildung, wenn wir das Wort vom einzelnen Menschen gebrauchen, eine bestimmte Gestaltqualität bedeutet; dass sie in diesem Sinne von dem Besitz an Kenntnissen weitgehend unabhängig ist, dass sie unmittelbar das Sein der Person betrifft.


Gute Nacht!

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