Dienstag, 26. Dezember 2017

Über die Eigenliebe

von François de La Rochefoucauld

Eigenliebe ist Liebe zu sich selbst und zu allen Dingen um seinetwillen. Sie macht die Menschen zu Selbstanbetern und würde sie zu Tyrannen machen über andere, wenn das Schicksal ihnen die Mittel dazu gäbe. Sie verweilt niemals außer sich und streift fremde Gegenstände nur wie die Bienen die Blumen, um das ihr eigene zu gewinnen.
Nichts ist so stürmisch wie ihre Wünsche, nichts so verborgen wie ihre Absichten und nichts so verschlagen wie ihre Handlungsweisen. Ihre Geschmeidigkeit lässt sich nicht darstellen, ihre Wandlungen übertreffen die der Metamorphosen, ihre Verfeinerungen die der Chemie. Man kann weder die Tiefen ihrer Abgründe ermessen noch die Finsternisse durchdringen.
Dort unten lebt sie, den schärfsten Augen verborgen und bewegt sich auf tausend heimlichen Gängen. Dort ist sie oft unsichtbar sich selber, dort empfängt, nährt und bildet sie, ohne es zu wissen, unzählige Regungen von Liebe und Hass, und so ungeheuerliche, dass sie sie nicht erkennt oder sich nicht entschließen kann sie einzugestehen, wenn sie sie ans Tageslicht heraufgelassen hat.
Aus der Nacht, die sie bedeckt, entstehen die lächerlichen Meinungen über sich selbst, in denen sie befangen ist. Dort entspringen ihre Irrtümer, ihre Unwissenheit, Plumpheit und Albernheiten über sich selber. Dorther kommt es, dass sie ihre Gefühle für tot hält, wenn sie nur schlafen, und sich einbildet, keine Lust mehr zu haben zu laufen, wenn sie nur rastet und glaubt, von allen Lüsten frei zu sein, wenn sie sie nur gesteht. Aber diese dichte Finsternis, die sie ihrem Auge verbirgt, hindert sie nicht, alles außer ihr Liegende vollkommen wahrzunehmen. Hierin ist sie ähnlich unseren Augen, die alles entdecken und nur blind für sich selbst sind.


Gute Nacht! 

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