von Seneca
Wiederum erniedrigst Du Dich und
behauptest, in erster Linie sei die Natur, dann das Schicksal zu hart
mit Dir verfahren. Trotzdem bist Du in der Lage, Dich über den
Lebenszuschnitt des Alltagsmenschen zu erheben und zum höchsten Glück
aufzusteigen. Wenn die Philosophie ein gutes an sich hat, dann dies,
dass sie nicht auf den Stammbaum sieht.
Alle Menschen stammen, wenn
man auf die erste Stufe der Abstammung zurückgeht, von den Göttern ab.
Du bist römischer Ritter, und zu diesem Rang bist du durch deinen Fleiß
gekommen. Vielen aber ist der Zugang zum Ritterstand verschlossen. Die
Kurie läßt nicht jeden zu. Auch im Kriegslager sucht man sich wählerisch
aus, wen man zu gefährlichen Aktionen heranzieht. Edle Haltung aber
bleibt niemandem verwehrt. In dieser Hinsicht gehören wir alle zum Adel,
die Philosophie weist niemanden ab. Sie wählt auch niemanden besonders
aus. Ihr Licht leuchtet allen. Sokrates war kein Patrizier, Kleanthes
schleppte Wasser und legte Hand an, um den Garten zu gießen. Platon kam
zur Philosophie nicht als Adliger, sondern sie machte ihn zu einem
solchen. Wie kannst Du nur behaupten, Du seist nicht in der Lage, es
ihnen gleichzutun? Sie alle sind Deine Ahnen, wenn Du Dich ihrer würdig
erweist. Das wirst Du dann tun, wenn Du von nun an selber davon
überzeugt bist, dass Du Dich an Adel von niemandem übertreffen lässt.
Wir haben alle die gleiche Anzahl Vorfahren. Der Ursprung einer jeden
Familie liegt jenseits von Menschengedenken. Platon sagt, es gäbe keinen
König, der nicht von Sklaven abstammt, und keinen Sklaven, der nicht
Könige unter seinen Vorfahren habe. Alle diese verschiedenen Stände
werden immer wieder durcheinandergewirbelt. Der Weg des Schicksals führt
bald aufwärts, bald abwärts.
Wer ist edel? Wem die Natur die rechte
Veranlagung zur Tugend verliehen hat. Das ist das einzige, worauf man
achten muss. Was die Vergangenheit sonst noch anlangt, so hat ein jeder
seinen Ursprung dort, wo weiter zurück nur das Nichts war. Von diesem
Uranfang der Welt bis auf unsere Zeit führt eine Kette, die abwechselnd
aus prächtigen und armseligen Gliedern gefügt ist. Nicht das feudale
Haus voll rauchgeschwärzter Ahnenbilder verleiht Adel. Niemand hat vor
uns zu unserem Ruhme gelebt. Auch gehört uns nicht, was vor uns war. Es
ist der Geist, der Adel verleiht. Adel, der sich aus jeder Lebenslage
über das Schicksal zu erheben vermag.
Man darf nicht darauf sehen, woher einer kommt, sondern wohin er geht.
Gute Nacht!
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