Sonntag, 8. Oktober 2017

Wahrer Adel

von Seneca

Wiederum erniedrigst Du Dich und behauptest, in erster Linie sei die Natur, dann das Schicksal zu hart mit Dir verfahren. Trotzdem bist Du in der Lage, Dich über den Lebenszuschnitt des Alltagsmenschen zu erheben und zum höchsten Glück aufzusteigen. Wenn die Philosophie ein gutes an sich hat, dann dies, dass sie nicht auf den Stammbaum sieht.
Alle Menschen stammen, wenn man auf die erste Stufe der Abstammung zurückgeht, von den Göttern ab. Du bist römischer Ritter, und zu diesem Rang bist du durch deinen Fleiß gekommen. Vielen aber ist der Zugang zum Ritterstand verschlossen. Die Kurie läßt nicht jeden zu. Auch im Kriegslager sucht man sich wählerisch aus, wen man zu gefährlichen Aktionen heranzieht. Edle Haltung aber bleibt niemandem verwehrt. In dieser Hinsicht gehören wir alle zum Adel, die Philosophie weist niemanden ab. Sie wählt auch niemanden besonders aus. Ihr Licht leuchtet allen. Sokrates war kein Patrizier, Kleanthes schleppte Wasser und legte Hand an, um den Garten zu gießen. Platon kam zur Philosophie nicht als Adliger, sondern sie machte ihn zu einem solchen. Wie kannst Du nur behaupten, Du seist nicht in der Lage, es ihnen gleichzutun? Sie alle sind Deine Ahnen, wenn Du Dich ihrer würdig erweist. Das wirst Du dann tun, wenn Du von nun an selber davon überzeugt bist, dass Du Dich an Adel von niemandem übertreffen lässt. Wir haben alle die gleiche Anzahl Vorfahren. Der Ursprung einer jeden Familie liegt jenseits von Menschengedenken. Platon sagt, es gäbe keinen König, der nicht von Sklaven abstammt, und keinen Sklaven, der nicht Könige unter seinen Vorfahren habe. Alle diese verschiedenen Stände werden immer wieder durcheinandergewirbelt. Der Weg des Schicksals führt bald aufwärts, bald abwärts.
Wer ist edel? Wem die Natur die rechte Veranlagung zur Tugend verliehen hat. Das ist das einzige, worauf man achten muss. Was die Vergangenheit sonst noch anlangt, so hat ein jeder seinen Ursprung dort, wo weiter zurück nur das Nichts war. Von diesem Uranfang der Welt bis auf unsere Zeit führt eine Kette, die abwechselnd aus prächtigen und armseligen Gliedern gefügt ist. Nicht das feudale Haus voll rauchgeschwärzter Ahnenbilder verleiht Adel. Niemand hat vor uns zu unserem Ruhme gelebt. Auch gehört uns nicht, was vor uns war. Es ist der Geist, der Adel verleiht. Adel, der sich aus jeder Lebenslage über das Schicksal zu erheben vermag.
Man darf nicht darauf sehen, woher einer kommt, sondern wohin er geht.


Gute Nacht!

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