Sonntag, 2. Mai 2021

Der Mensch

von Voltaire

Wenn man den Menschen in physischer Hinsicht kennenlernen will, muss man Werke über Anatomie und die Artikel von Venel in der Encyclopédie studieren oder, noch besser, an einem anatomischen Kolleg teilnehmen.
Wenn man den Menschen in moralischer Hinsicht kennenlernen will, muss man vor allem Lebenserfahrung sammeln und nachdenken. Sind nicht alle Bücher über Moral in den Worten Hiobs enthalten: "Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht."
Wir haben bereits gesehen, dass der Mensch im Durchschnitt nur etwa 22 Jahre zu leben hat, wenn man diejenigen, die an der Brust ihre Amme sterben, mit einbezieht so wie alle jene, die bis zu 100 Jahren die Reste eines elenden Lebens mit sich herumschleppen, dem sie geistig nicht mehr gewachsen sind.
Ein hübsches Gleichnis ist die alte Fabel vom ersten Menschen, der anfangs höchstens 20 Jahre leben sollte, was ein Durchschnittsalter von nur fünf Jahren ergeben hätte. Der Mensch war verzweifelt, er hatte bei sich eine Raupe, einen Schmetterling, einen Pfau, ein Pferd, einen Fuchs und einen Affen.
"Verlängere mein Leben", sagte er zu Jupiter, "ich bin mehr wert als alle diese Tiere hier! Die Gerechtigkeit verlangt, dass ich und meine kinder sehr lange leben, um über alle Tiere zu herrschen."
"Gern", sagte Jupiter, "aber ich kann nur eine bestimmte Zahl von Tagen unter alle diese Wesen verteilen, denen ich das Leben geschenkt habe, was ich dir geben kann, muss ich den anderen abziehen, denn du darfst dir nicht einbilden, dass ich allmächtig sei und mir keine Grenzen gesetzt wären, weil ich Jupiter bin. Auch ich habe meine Natur und mein Maß, ich will dir also gerne ein paar Jahre mehr bewilligen und sie diesen sechs Tieren, auf die du eifersüchtig bist, abziehen, aber unter der Bedingung, dass du nacheinander ihre Lebensformen annimmst."
Der Mensch soll zuerst eine Raupe sein und in seiner frühen Kindheit kriechen wie sie, mit 15 Jahren soll er anmutig sein wie ein Schmetterling und in seiner Jugend eitel wie ein Pfau, im Mannesalter soll er es ebenso schwer haben wie ein Pferd, in den 50er Jahren soll er listig sein wie ein Fuchs und im Alter hässlich und lächerlich wie ein Affe.
Und das ist im allgemeinen auch das Schicksal des Menschen!
 
Gute Nacht!

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