Sonntag, 19. Januar 2020

Kind

von Elke Heidenreich

Zweimal im Leben hatte sie, die bewusst Kinderlose, so ein winziges Kind im Arm. Einmal in ihrer Stammkneipe. Wirt und Wirtin bedienten, es war voll, der Kleine schrie. Sie hatte so etwas noch nie gemacht, aber was ist schwierig daran, einen Hintern abzuwischen? Sie verzog sich mit dem Kind, säuberte es, sang dabei, wusch, cremte, wickelte, und das Kind lachte und streckte die Ärmchen aus. Sie hatte ein sehr großes Gefühl, das Gefühl: Ich könnte! Sie wollte nicht, aber sie wusste jetzt: Sie könnte. Heute ist das Kind fünfundzwanzig und küsst sie jedes Mal, wenn es sie sieht. Es bedient jetzt auch in der Kneipe.
Das zweite Mal war es im Hotel Adlon, Luxussuite, sie war Preisträgerin von irgendetwas, angereist mit zwei Freundinnen. Eine dritte, ihr nicht bekannte Freundin kam dazu, mit einem sehr kleinen Baby. Ob sie es nehmen könne? Man wolle bummeln gehen. Sie wollte nicht bummeln gehen, sie lag schon im frischen Luxusbett, schaute aufs Brandenburger Tor und trank Champagner. Sie legten das wildfremde Kind zu ihr. Es kuschelte sich an. Die Freundinnen gingen. Das Kind öffnete die Augen, groß, blau, sah sie an, nahm ihren Zeigefinger, umklammerte ihn fest und schlief lächelnd, leicht grunzend, wieder ein.
Und sie lag da, unfassbar glücklich über dieses Vertrauen, dieses zarte kleine Leben, glücklich auch die Verantwortung für dieses Leben nicht übernehmen zu müssen. Aber diese Nähe, die drei Stunden - sie gehören zu den schönsten ihres Lebens.


Gute Nacht!

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