Sonntag, 22. November 2020

Spätherbst in der Sperlingsgasse

von Wilhelm Raabe

Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig dunkel die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krankheit, Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt; – es ist eine böse Zeit! Dazu ist's Herbst, trauriger, melancholischer Herbst, und ein feiner, kalter Vorwinterregen rieselt schon wochenlang herab auf die große Stadt; – es ist eine böse Zeit! Die Menschen haben lange Gesichter und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen, zucken sie die Achsel und eilen fast ohne Gruß aneinander vorüber; – es ist eine böse Zeit! – Missmutig hatte ich die Zeitung weggeworfen, mir eine frische Pfeife gestopft, ein Buch herabgenommen und aufgeschlagen. Es war ein einfaches altes Buch, in welches Meister Daniel Chodowiecki gar hübsche Bilder gezeichnet hatte: Asmus omnia sua secum portans, der prächtige Wandsbecker Bote des alten Matthias Claudius, weiland homme de lettres zu Wandsbeck, und recht ein Tag war's, darin zu blättern. Der Regen, das Brummen und Poltern des Feuers im Ofen, der Widerschein desselben auf dem Boden und an den Wänden – alles trug dazu bei, mich die Welt da draußen ganz vergessen zu machen und mich ganz in die Welt von Herz und Gemüt auf den Blättern vor mir zu versenken. 
Aufs Geratewohl schlug ich eine Seite auf: Sieh! – da ist der herbstliche Garten zu Wandsbeck. Es ist ebenso nebelig und trübe wie heute; leise sinken die gelben Blätter zur Erde, als bräche eine unsichtbare Hand sie ab, eins nach dem andern. Wer kommt da den Gang herauf im geblümten bunten Schlafrock, die weiße Zipfelmütze über dem Ohr? – Er ist's – Matthias Claudius, der wackere Asmus selbst! – Bedächtiglich schreitet er einher, von Zeit zu Zeit stehenbleibend; jetzt ein welkes Blatt aufnehmend und das zierliche Geäder desselben betrachtend; jetzt in die nebelige Luft hinaufschauend. Er scheint in Gedanken versunken zu sein. Denkt er vielleicht an den Vetter oder den Freund Hein, an den Invaliden Görgel mit der Pudelmütze und dem neuen Stelzbein, denkt er an die neue Kanone oder an das Ohr des schuftigen Hofmarschalls Albiboghoi? Wer weiß! – Sieh! wieder bleibt er stehen. Was fällt ihm ein!? Lustig wirft er die weiße Zipfelmütze in die Luft und tut einen kleinen Sprung: ein großer Gedanke ist ihm »aufs Herz geschossen« – das große neue Fest der Herbstling ist erfunden – der Herbstling, so anmutig zu feiern, wenn der erste Schnee fällt, mit Kinderjubel und Bratäpfeln und Lächeln auf den Gesichtern von jung und alt! –
Wenn der erste Schnee fällt – – – wie ich in diesem Augenblick wieder einmal einen Blick zur grauen Himmelsdecke hinaufwerfe, da – kommt er herunter – wirklich herunter, der erste Schnee!
 
Schnee! Schnee! der erste Schnee! –
 
In großen wässrigen Flocken, dem Regen untermischt, schlägt er an die Scheiben, grüßend wie ein alter Bekannter, der aus weiter Ferne nach langer Abwesenheit zurückkommt. Schnell springe ich auf und ans Fenster. Welche Veränderung da draußen! Die Leute, die eben noch mürrisch und unzufrieden mit sich und der Welt umherschlichen, sehen jetzt ganz anders aus. Gegen den Regen suchte jeder sich durch Mäntel und Schirme auf alle Weise zu schützen, dem Schnee aber kehrt man lustig und verwegen das Gesicht zu.
Der erste Schnee! der erste Schnee!
An den Fenstern erscheinen lachende Kindergesichter, kleine Händchen klatschen fröhlich zusammen: welche Gedanken an weiße Dächer und grüne, funkelnde Tannenbäume! Wie phantastisch die Sperlingsgasse in dem wirbelnden, weißen Gestöber aussieht! Wie die wasserholenden Dienstmädchen am Brunnen kichern! Der fatale Wind! –
 
»Gehorsamster Diener, Herr Professor Niepeguck! Auch im ersten Schnee?«
 
»Ärztliche Verordnung!« brummt der Weise und lächelt herauf zu mir, so gut es Würde und Hypochondrie erlauben.
Auf der Sophienkirche schlägt's jetzt! – Erst vier? und schon fast Nacht! – »Vier!« wiederholen die Glocken dumpf über die ganze Stadt. Jetzt sind die Schulen zu Ende! Hurra – hinaus in den beginnenden Winter: die Buben wild und unbändig, die Mädchen ängstlich und trippelnd, dicht sich an den Häuserwänden hinwindend. Hier und dort blitzt nun schon in einem dunkeln Laden ein Licht auf, immer geisterhafter wird das Aussehen der Sperlingsgasse.
Da kommt der Lehrer selbst, seine Bücher unter dem Arm; aufmerksam betrachtet er das Zerschmelzen einer Flocke auf seinem fadenscheinigen schwarzen Rockärmel. Jetzt ist die Zeit für einen Märchenerzähler, für einen Dichter.

Montag, 19. Oktober 2020

Ein Traum des Herrn von Schnabelewopski

von Heinrich Heine

Es war ein süßer, lieber, sonniger Traum. Der Himmel himmelblau und wolkenlos, das Meer meergrün und still. Unabsehbar weite Wasserfläche, und darauf schwamm ein buntgewimpeltesSchiff, und auf dem Verdeck saß ich kosend zu den Füßen Jadvigas. Schwärmerische Liebeslieder, die ich selber auf rosige Papierstreifen geschrieben, las ich ihr vor, heiter seufzend, und sie horchte mit ungläubig hingeneigtem Ohr, und sehnsüchtigem Lächeln, und riss mir zuweilen hastig die Blätter aus der Hand und warf sie ins Meer. Aber die schönen Nixen, mit ihren schneeweißen Busen und Armen, tauchten jedesmal aus dem Wasser empor, und erhaschten die flatternden Lieder der Liebe. Als ich mich über Bord beugte, konnte ich ganz klar bis in die Tiefe des Meeres hinabschaun, und da saßen, wie in einem gesellschaftlichen Kreise, die schönen Nixen, und in ihrer Mitte stand ein junger Nix, der, mit gefühlvoll belebtem Angesicht, meine Liebeslieder deklamierte. Ein stürmischer Beifall erscholl bei jeder Strophe; die grünlockigten Schönen applaudierten so leidenschaftlich, dass Brust undNacken erröteten, und sie lobten mit einer freudigen, aber doch zugleich mitleidigen Begeisterung: »Welche sonderbare Wesen sind diese Menschen! Wie sonderbar ist ihr Leben! Wie tragisch ihr ganzes Schicksal! Sie lieben sich und dürfen es meistens nicht sagen, und dürfen sie es einmal sagen, so können sie doch einander selten verstehn! Und dabei leben sie nicht ewig wie wir, sie sind sterblich, nur eine kurze Spanne Zeit ist ihnen vergönnt, das Glück zu suchen, sie müssen es schnell erhaschen, hastig ans Herz drücken, ehe es entflieht - deshalb sind ihre Liebeslieder auch so zart, so innig, so süß-ängstlich, so verzweiflungsvoll lustig, ein so seltsames Gemisch von Freude und Schmerz. Der Gedanke des Todes wirft seinen melancholischen Schatten über ihre glücklichsten Stunden und tröstet sie lieblich im Unglück. Sie können weinen. Welche Poesie in so einer Menschenträne!«
»Hörst du«, sagte ich zu Jadviga, »wie die da unten über uns urteilen? - wir wollen uns umarmen, damit sie uns nicht mehr bemitleiden, damit sie sogar neidisch werden!« Sie aber, die Geliebte, sah mich an mit unendlicher Liebe, und ohne ein Wort zu reden. Ich hatte sie stumm geküsst. Sie erblich, und ein kalter Schauer überflog die holde Gestalt. Sie lag endlich starr, wie weißer Marmor, in meinen Armen, und ich hätte sie für tot gehalten, wenn sich nicht zwei große Tränenströme unaufhaltsam aus ihren Augen ergossen - und diese Tränen überfluteten mich, während ich das holde Bild immer gewaltiger mit meinen Armen umschlang -
Da hörte ich plötzlich die keifende Stimme meiner Hauswirtin und erwachte aus meinem Traum. 
 
Gute Nacht!

Sonntag, 27. September 2020

Zur Feier des Tages

von Frederike Frei
Zur Feier des Tages
Hab ich mich gefragt
Was ich eigentlich
Will auf der Welt

Erreichen dass
Sich das alle
Fragen
Gute Nacht!

Mittwoch, 26. August 2020

Die Erinnerung

von Dietrich Bonhoeffer
 
Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann und man soll das auch gar nicht versuchen; man muss es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie garnicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt, und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren. Ferner: je schöner und voller die Erinnerungen, desto schwerer die Trennung.
Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude.


Gute Nacht!

Sonntag, 2. August 2020

Leise gesponnene Fäden

von Jeannie Ebner
Leise gesponnene Fäden aus Tagtraum
Zieht mein Herz hinter sich her.
Du versuchst es festzuhalten
Und staunst vor den leeren Fingern,
An denen es glitzert wie Spott.
Mach die Tür auf.
Mein Schlafweg führt still hinaus in den Klee.
Und frag mich am Morgen nicht, wieso mein Haar
Duftet nach Wildheit und sanftem Tau.
Vielleicht bringe ich dir einmal die Sterne
Samt ihren Stielen mit heim,
Und du darfst bei ihrem Schein blättern
In einem alten Buch,
In dem das Geheimnis der Liebe,
Schon sehr verblasst, für dich aufgeschrieben steht.

Gute Nacht!

Sonntag, 19. Juli 2020

Woran glaubt der Westen?

von Karl Popper

Wir im Westen glauben an die Demokratie nur in diesem nüchternen Sinn – als eine Staatsform des kleinsten Übels. So hat sie auch der Mann geschildert, der die Demokratie und den Westen gerettet hat. »Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen«, so sagte einst Winston Churchill, »ausgenommen alle anderen Regierungsformen.«
Platons Frage »Wer soll regieren? Wer soll die Macht haben?« ist also falsch gestellt. Wir glauben an die Demokratie, aber nicht, weil in der Demokratie das Volk herrscht. Weder Sie noch ich herrschen; im Gegenteil, Sie sowohl wie ich, wir werden regiert, und manchmal mehr als uns lieb ist. Wir glauben an die Demokratie als die einzige Regierungsform, die mit politischer Opposition und daher mit der politischen Freiheit verträglich ist.
Leider wurde Platons Problem »Wer soll herrschen?« von den Staatstheoretikern niemals klar abgelehnt. Im Gegenteil, Rousseau stellte dieselbe Frage, antwortete aber, umgekehrt wie Platon: »Der allgemeine Wille [des Volkes] soll herrschen – der Wille der vielen, nicht der der wenigen«; eine gefährliche Antwort, da sie zur Mythologie und Vergöttlichung des »Volkes« und seines »Willens« führt. Und auch Marx fragte, ganz im Sinn Platons: »Wer soll herrschen, die Kapitalisten oder die Proletarier?«; und auch er antwortete: »Die vielen sollen herrschen, nicht die wenigen; die Proletarier, nicht die Kapitalisten.«
[...]
Aber, so fragen unsere Gebildeten und Halbgebildeten, kann es recht sein, dass meine Stimme nicht mehr gelten soll als die eines ungebildeten Straßenkehrers? Gibt es nicht eine Elite des Geistes, die weiter sieht als die Masse der Ungebildeten und der deshalb ein größerer Einfluss auf die großen politischen Entscheidungen eingeräumt werden sollte?
Die Antwort ist, dass leider die Gebildeten und Halbgebildeten auf alle Fälle einen größeren Einfluss haben. Sie schreiben Bücher und Zeitungen, sie lehren und halten Vorträge, sie sprechen in Diskussionen und können als Mitglieder ihrer politischen Partei ihren Einfluss ausüben. Ich will aber nicht sagen, dass ich es für gut halte, dass der Einfluss der Gebildeten größer ist als der der Straßenkehrer. Denn die Platonische Idee von der Herrschaft der Weisen und Guten ist meiner Meinung nach unbedingt abzulehnen. Wer entscheidet denn über die Weisheit und Unweisheit? Sind nicht die Weisesten und Besten gekreuzigt worden – und von denen, die als weise und gut anerkannt waren?


Gute Nacht!

Sonntag, 28. Juni 2020

Dein blaues Auge

von Ida von Reinsberg-Düringsfeld
Dein blaues Auge, so himmlisch blau,
So lieblich schimmernd im Tränentau,
So lieblich leuchtend erhellt durch mich,
Du süßes Auge, wie lieb' ich dich!

Spiegel voll Treue mir,
All meine Freude erglänzt in dir.
Was mich betrübet, verdunkelt dich,
Du treues Auge, wie lieb' ich dich!

Ja, selig blick' ich in dich hinein.
Du blauer Himmel voll Sonnenschein;
Du lauter Liebe und ganz für mich,
Du liebes Auge, wie lieb' ich dich!
Gute Nacht!

Montag, 22. Juni 2020

Maßnahmen gegen die Gewalt

von Bertolt Brecht

Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt
aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er blickte sich um und sah hinter sich stehen - die Gewalt."Was sagtest du?" fragte ihn die Gewalt."Ich sprach mich für die Gewalt aus", antwortete Herr Keuner. Als Herr Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat. Herr Keuner antwortete: "Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muß länger leben als die Gewalt."
Und Herr Keuner erzählte folgende Geschichte:
In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines Tages in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher ausgestellt war im Namen derer, die die Stadt beherrschten, und auf dem stand, daß ihm gehören solle jede Wohnung, in die er seinen Fuß setzte; ebenso sollte ihm auch jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso sollte ihm auch jeder Mann dienen, den er sähe. Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur
Wand vor dem Einschlafen: "Wirst du mir dienen?"
Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen Schlaf, und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: das war, ein Wort zu sagen. Als nun die sieben Jahre herum waren und der Agent dick geworden war vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Herr Egge in die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und antwortete: "Nein."


Gute Nacht!

Sonntag, 10. Mai 2020

Im Verluste zu gewinnen

von Friedrich Rückert
Im Verluste zu gewinnen,
Ist ein schwieriges Beginnen,
Und gelinget andern nie,
Als der Lieb' und Poesie.

Liebe läßt sich nichts entrinnen,
Hat nicht außen, sondern innen;
Und das Nichts, sie weiß nicht wie,
Macht zum Etwas Poesie.

Nicht dahin ist, was von hinnen,
Bleibt im Sinn, nicht in den Sinnen;
Fest auf ewig halten's die
Beiden, Lieb' und Poesie.

Gute Nacht!

Sonntag, 3. Mai 2020

Die beiden Fuhrleute

von Johann Peter Hebel

Zwei Fuhrleute begegneten sich mit ihren Wagen in einem Hohlweg und konnten einander nicht gut ausweichen. „Fahre mir aus dem Wege!“ rief der eine. „Ei, so fahre du mir aus dem Wege“, rief der andere. „Ich will nicht!“ sagte der eine. „Ich brauche nicht!“ sagte der andere. Weil keiner nachgab, kam es zu heftigem Zank und zu Scheltworten.
„Höre, du“, sagte endlich der erste,“ jetzt frage ich dich zum letzten Mal: Willst du mir aus dem Wege fahren oder nicht? Tust du es nicht, so mache ich es mit dir, wie ich es heute schon mit einem gemacht habe.“Das schien dem andern doch eine bedenkliche Drohung. „Nun“, sagte er, „so hilf mir wenigstens, deinen Wagen ein wenig beiseite schieben; ich habe ja sonst nicht Platz, um mit dem meinigen auszuweichen!“ Das ließ sich der erste gefallen, und in wenigen Minuten war die Ursache des Streites beseitigt.
Ehe sie schieden, fasste sich der, der aus dem Wege gefahren war, noch einmal ein Herz und sagte zu dem andern: „Höre, du drohtest doch, du wolltest es mit mir ma-chen, wie du es heute schon mit einem gemacht hättest! Sage mir doch, wie hast du es mit dem gemacht?“
„Ja, denke dir“, sagte der andere, der Grobian wollte mir nicht aus dem Wege fahren, da – fuhr ich ihm aus dem Wege.“


Gute Nacht!

Sonntag, 22. März 2020

Das Lied des Aussätzigen

von Rainer Maria Rilke
Sieh ich bin einer, den alles verlassen hat.
Keiner weiß in der Stadt von mir,
Aussatz hat mich befallen.
Und ich schlage mein Klapperwerk,
klopfe mein trauriges Augenmerk
in die Ohren allen
die nahe vorübergehn.
Und die es hölzern hören, sehn
erst gar nicht her, und was hier geschehn
wollen sie nicht erfahren.

Soweit der Klang meiner Klapper reicht
bin ich zuhause; aber vielleicht
machst Du meine Klapper so laut,
daß sich keiner in meine Ferne traut
der mir jetzt aus der Nähe weicht.
So daß ich sehr lange gehen kann
ohne Mädchen, Frau oder Mann
oder Kind zu entdecken.

Tiere will ich nicht schrecken.

Gute Nacht!

Montag, 16. März 2020

Betrug und Betrogene

von Ernst Bloch

Man weiß zu gut, die Menschen wollen betrogen werden. Doch dieses nicht nur, weil die Dummen in der Mehrzahl sind. Sondern weil die Menschen, zur Freude geboren, keine haben, weil sie schreien nach Freude. Das erst macht auch die Klügeren zeitweise einsinnig, einfältig, sie fallen auf Glanz herein, und es ist nicht einmal nötig, dass der Glanz Gold verspricht, hier kann bereits genügen, dass er glänzt. Schaden macht klug, doch binnen kurzem arbeitet die Sucht wieder und hofft, dass man sie diesmal nicht betrügt. Sie hält sich für den Ernstfall frisch und will ihn nicht versäumen; unterdessen aber wachsen immer neue, ungebrannte Kinder heran, immer neue Betrüger haken in eine Schwäche ein, die ebenso eine Stärke sein könnte. Denn immerhin hat sie eine Schwäche fürs Glück, fürs Lachen und ist nicht der verprügelten Meinung, selten käme etwas Besseres nach.


Gute Nacht!

Sonntag, 1. März 2020

Wiegenlied für sich selber

von Erich Kästner
Schlafe, alter Knabe, schlafe!
Denn du kannst nichts Klügres tun,
als dich dann und wann auf brave
Art und Weise auszuruhn.
Wenn du schläfst, kann nichts passieren...
Auf der Straße, vor dem Haus,
gehn den Bäumen, die dort frieren,
nach und nach die Haare aus.

Schlafe, wie du früher schliefst,
als du vieles noch nicht wusstest
und im Traum die Mutter riefst.
Ja, da liegst du nun und hustest!

Schlaf und sprich wie früher kindlich:
"Die Prinzessin drückt der Schuh."
Schlafen darf man unverbindlich.
Drücke beide Augen zu!

Mit Pauline schliefst du gestern.
Denn mitunter muss das sein.
Morgen kommen gar zwei Schwestern!
Heute schläfst du ganz allein.

Hast du Furcht vor den Gespenstern,
gegen die du neulich rangst?
Mensch, bei solchen Doppelfenstern
hat ein Deutscher keine Angst!

Hörst du, wie die Autos jagen?
Irgendwo geschieht ein Mord.
Alles will dir etwas sagen.
Aber du verstehst kein Wort...

Sieben große und zwölf kleine
Sorgen stehen um dein Bett.
Und sie stehen sich die Beine
bis zum Morgen ins Parkett.

Lass sie ruhig stehn und lästern!
Schlafe aus, drum schlafe ein!
Morgen kommen doch die Schwestern,
und da musst du munter sein.

Schlafe! Mache eine Pause!
Nimm, wenn nichts hilft, Aspirin!
Denn, wer schläft, ist nicht zu Hause,
und schon geht es ohne ihn.

Still! Die Nacht starrt in dein Zimmer
und beschnuppert dein Gesicht...
Andre Menschen schlafen immer.
Gute Nacht, und schnarche nicht!

Gute Nacht!

Sonntag, 19. Januar 2020

Kind

von Elke Heidenreich

Zweimal im Leben hatte sie, die bewusst Kinderlose, so ein winziges Kind im Arm. Einmal in ihrer Stammkneipe. Wirt und Wirtin bedienten, es war voll, der Kleine schrie. Sie hatte so etwas noch nie gemacht, aber was ist schwierig daran, einen Hintern abzuwischen? Sie verzog sich mit dem Kind, säuberte es, sang dabei, wusch, cremte, wickelte, und das Kind lachte und streckte die Ärmchen aus. Sie hatte ein sehr großes Gefühl, das Gefühl: Ich könnte! Sie wollte nicht, aber sie wusste jetzt: Sie könnte. Heute ist das Kind fünfundzwanzig und küsst sie jedes Mal, wenn es sie sieht. Es bedient jetzt auch in der Kneipe.
Das zweite Mal war es im Hotel Adlon, Luxussuite, sie war Preisträgerin von irgendetwas, angereist mit zwei Freundinnen. Eine dritte, ihr nicht bekannte Freundin kam dazu, mit einem sehr kleinen Baby. Ob sie es nehmen könne? Man wolle bummeln gehen. Sie wollte nicht bummeln gehen, sie lag schon im frischen Luxusbett, schaute aufs Brandenburger Tor und trank Champagner. Sie legten das wildfremde Kind zu ihr. Es kuschelte sich an. Die Freundinnen gingen. Das Kind öffnete die Augen, groß, blau, sah sie an, nahm ihren Zeigefinger, umklammerte ihn fest und schlief lächelnd, leicht grunzend, wieder ein.
Und sie lag da, unfassbar glücklich über dieses Vertrauen, dieses zarte kleine Leben, glücklich auch die Verantwortung für dieses Leben nicht übernehmen zu müssen. Aber diese Nähe, die drei Stunden - sie gehören zu den schönsten ihres Lebens.


Gute Nacht!

Sonntag, 12. Januar 2020

Abendstern-Ghasele

von Hermann von Lingg
Sitzt ein Vöglein unter meinem Dach, es singt,
Wenn ich Morgens noch so früh erwach', es singt,
Und am Abend, wenn die Blumen alle
Sich zum Schlummer legten müd am Bach, es singt,
Wenn es still wird, glaub ich's noch zu hören,
Weil mein Leid und all mein Ach es singt.
Gute Nacht!
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