von Wilhelm Raabe
Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in
der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen
blutig dunkel die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben
Krankheit, Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt; – es ist
eine böse Zeit! Dazu ist's Herbst, trauriger, melancholischer Herbst,
und ein feiner, kalter Vorwinterregen rieselt schon wochenlang herab auf
die große Stadt; – es ist eine böse Zeit! Die Menschen haben lange
Gesichter und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen,
zucken sie die Achsel und eilen fast ohne Gruß aneinander vorüber; – es
ist eine böse Zeit! – Missmutig hatte ich die Zeitung weggeworfen, mir
eine frische Pfeife gestopft, ein Buch herabgenommen und aufgeschlagen.
Es war ein einfaches altes Buch, in welches Meister Daniel Chodowiecki
gar hübsche Bilder gezeichnet hatte: Asmus omnia sua secum portans, der
prächtige Wandsbecker Bote des alten Matthias Claudius, weiland homme de
lettres zu Wandsbeck, und recht ein Tag war's, darin zu blättern. Der
Regen, das Brummen und Poltern des Feuers im Ofen, der Widerschein
desselben auf dem Boden und an den Wänden – alles trug dazu bei, mich
die Welt da draußen ganz vergessen zu machen und mich ganz in die Welt
von Herz und Gemüt auf den Blättern vor mir zu versenken.
Aufs Geratewohl schlug ich eine Seite auf: Sieh! – da ist der
herbstliche Garten zu Wandsbeck. Es ist ebenso nebelig und trübe wie
heute; leise sinken die gelben Blätter zur Erde, als bräche eine
unsichtbare Hand sie ab, eins nach dem andern. Wer kommt da den Gang
herauf im geblümten bunten Schlafrock, die weiße Zipfelmütze über dem
Ohr? – Er ist's – Matthias Claudius, der wackere Asmus selbst! –
Bedächtiglich schreitet er einher, von Zeit zu Zeit stehenbleibend;
jetzt ein welkes Blatt aufnehmend und das zierliche Geäder desselben
betrachtend; jetzt in die nebelige Luft hinaufschauend. Er scheint in
Gedanken versunken zu sein. Denkt er vielleicht an den Vetter oder den
Freund Hein, an den Invaliden Görgel mit der Pudelmütze und dem neuen
Stelzbein, denkt er an die neue Kanone oder an das Ohr des schuftigen
Hofmarschalls Albiboghoi? Wer weiß! – Sieh! wieder bleibt er stehen. Was
fällt ihm ein!? Lustig wirft er die weiße Zipfelmütze in die Luft und
tut einen kleinen Sprung: ein großer Gedanke ist ihm »aufs Herz
geschossen« – das große neue Fest der Herbstling ist erfunden – der Herbstling, so anmutig zu feiern, wenn der erste Schnee fällt, mit Kinderjubel und Bratäpfeln und Lächeln auf den Gesichtern von jung und alt! –
Wenn der erste Schnee fällt – – – wie ich in diesem Augenblick wieder
einmal einen Blick zur grauen Himmelsdecke hinaufwerfe, da – kommt er
herunter – wirklich herunter, der erste Schnee!
Schnee! Schnee! der erste Schnee! –
In großen wässrigen Flocken, dem Regen untermischt, schlägt er an die
Scheiben, grüßend wie ein alter Bekannter, der aus weiter Ferne nach
langer Abwesenheit zurückkommt. Schnell springe ich auf und ans Fenster.
Welche Veränderung da draußen! Die Leute, die eben noch mürrisch und
unzufrieden mit sich und der Welt umherschlichen, sehen jetzt ganz
anders aus. Gegen den Regen suchte jeder sich durch Mäntel und Schirme
auf alle Weise zu schützen, dem Schnee aber kehrt man lustig und
verwegen das Gesicht zu.
Der erste Schnee! der erste Schnee!
An den Fenstern erscheinen lachende Kindergesichter, kleine Händchen
klatschen fröhlich zusammen: welche Gedanken an weiße Dächer und grüne,
funkelnde Tannenbäume! Wie phantastisch die Sperlingsgasse in dem
wirbelnden, weißen Gestöber aussieht! Wie die wasserholenden
Dienstmädchen am Brunnen kichern! Der fatale Wind! –
»Gehorsamster Diener, Herr Professor Niepeguck! Auch im ersten Schnee?«
»Ärztliche Verordnung!« brummt der Weise und lächelt herauf zu mir, so gut es Würde und Hypochondrie erlauben.
Auf der Sophienkirche schlägt's jetzt! – Erst vier? und schon fast
Nacht! – »Vier!« wiederholen die Glocken dumpf über die ganze Stadt.
Jetzt sind die Schulen zu Ende! Hurra – hinaus in den beginnenden
Winter: die Buben wild und unbändig, die Mädchen ängstlich und
trippelnd, dicht sich an den Häuserwänden hinwindend. Hier und dort
blitzt nun schon in einem dunkeln Laden ein Licht auf, immer
geisterhafter wird das Aussehen der Sperlingsgasse.
Da kommt der Lehrer selbst, seine Bücher unter dem Arm; aufmerksam
betrachtet er das Zerschmelzen einer Flocke auf seinem fadenscheinigen
schwarzen Rockärmel. Jetzt ist die Zeit für einen Märchenerzähler, für
einen Dichter.
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