von Marc Aurel
Sooft du an der
Unverschämtheit jemandes Anstoß nimmst, frage dich sogleich: Ist es auch
möglich, daß es in der Welt keine unverschämten Leute gibt? Das ist
nicht möglich. Verlange also nicht das Unmögliche. Jener ist eben einer
von den Unverschämten, die es in der Welt geben muß. Dieselbe Frage sei
dir zur Hand hinsichtlich der Schlauköpfe, der Treulosen und jedes
Fehlenden. Denn sobald du dich daran erinnerst, daß das Dasein von
Leuten dieses Gelichters nun einmal nicht zu verhindern ist, wirst du
auch gegen jeden einzelnen derselben milder gesinnt werden. Auch das
frommt, wenn man sogleich bedenkt, welche Tugend die Natur dem Menschen
diesen Untugenden gegenüber verliehen hat. So verlieh sie ja dem
Rücksichtslosen gegenüber, als eine Art Gegengift, die Sanftmut, und
wieder einem andern eine andere Gegenkraft, und im ganzen steht es in
deiner Gewalt, den Irrenden den rechten Weg zu zeigen. Jeder Fehlende
aber irrt, insofern er sein Ziel verfehlt. Und nun, welchen Nachteil
hast du dadurch erlitten? Du wirst finden, daß keiner von denen, über
die du dich so sehr ereiferst, durch irgendeine seiner Übeltaten deine
denkende Seele hat verschlechtern können, vielmehr haben eben in dieser
dein Übel und dein Schaden ihren vollen Grund. Wenn aber ein
ungebildeter Mensch eben wie ein Ungebildeter sich beträgt, was ist denn
Schlimmes oder Seltsames daran? Sieh zu, ob du nicht vielmehr dich
selbst deshalb anklagen solltest, daß solch ein fehlerhaftes Benehmen
von diesem Menschen dir so unerwartet kam. Gab dir ja doch deine
Vernunft Anlaß genug zu dem Gedanken, daß es wahrscheinlich sei, er
werde sich so vergehen, und dennoch vergaßest du das und wunderst dich
jetzt, daß er sich vergangen hat. Besonders aber, sooft du dich über
Treulosigkeit und Undank von jemand zu beschweren hast, richte deinen
Blick auf dein eigenes Innere. Denn offenbar liegt hier der Fehler auf
deiner Seite, wenn du einem Menschen von dieser Gesinnung zutrautest,
daß er sein Wort halten werde, oder wenn du ihm nicht ohne allerlei
Nebenabsichten eine Wohltat erzeigtest und nicht vielmehr in dem
Gedanken, daß du von deiner Handlung selbst schon alle Frucht
eingeerntet habest. Denn was willst du noch weiter, wenn du einem
Menschen eine Wohltat erwiesen hast? Genügt es dir nicht, daß du deiner
Natur gemäß etwas getan hast, sondern verlangst du noch eine Belohnung
dafür? Als ob das Auge dafür, daß es sieht, oder die Füße dafür, daß sie
gehen, einen Lohn fordern könnten! Denn wie diese Glieder dazu
geschaffen sind, daß sie im Vollzug ihrer natürlichen Verrichtungen
ihren Zweck erfüllen, so erfüllt auch der Mensch, zum Wohltun geboren,
sooft er eine Wohltat erweist oder etwas für den allgemeinen Nutzen
Förderliches leistet, seinen natürlichen Zweck und empfängt damit das
Seinige.
Gute Nacht!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen