Samstag, 25. Mai 2013

Wege zu sich selbst

von Marc Aurel

Sooft du an der Unverschämtheit jemandes Anstoß nimmst, frage dich sogleich: Ist es auch möglich, daß es in der Welt keine unverschämten Leute gibt? Das ist nicht möglich. Verlange also nicht das Unmögliche. Jener ist eben einer von den Unverschämten, die es in der Welt geben muß. Dieselbe Frage sei dir zur Hand hinsichtlich der Schlauköpfe, der Treulosen und jedes Fehlenden. Denn sobald du dich daran erinnerst, daß das Dasein von Leuten dieses Gelichters nun einmal nicht zu verhindern ist, wirst du auch gegen jeden einzelnen derselben milder gesinnt werden. Auch das frommt, wenn man sogleich bedenkt, welche Tugend die Natur dem Menschen diesen Untugenden gegenüber verliehen hat. So verlieh sie ja dem Rücksichtslosen gegenüber, als eine Art Gegengift, die Sanftmut, und wieder einem andern eine andere Gegenkraft, und im ganzen steht es in deiner Gewalt, den Irrenden den rechten Weg zu zeigen. Jeder Fehlende aber irrt, insofern er sein Ziel verfehlt. Und nun, welchen Nachteil hast du dadurch erlitten? Du wirst finden, daß keiner von denen, über die du dich so sehr ereiferst, durch irgendeine seiner Übeltaten deine denkende Seele hat verschlechtern können, vielmehr haben eben in dieser dein Übel und dein Schaden ihren vollen Grund. Wenn aber ein ungebildeter Mensch eben wie ein Ungebildeter sich beträgt, was ist denn Schlimmes oder Seltsames daran? Sieh zu, ob du nicht vielmehr dich selbst deshalb anklagen solltest, daß solch ein fehlerhaftes Benehmen von diesem Menschen dir so unerwartet kam. Gab dir ja doch deine Vernunft Anlaß genug zu dem Gedanken, daß es wahrscheinlich sei, er werde sich so vergehen, und dennoch vergaßest du das und wunderst dich jetzt, daß er sich vergangen hat. Besonders aber, sooft du dich über Treulosigkeit und Undank von jemand zu beschweren hast, richte deinen Blick auf dein eigenes Innere. Denn offenbar liegt hier der Fehler auf deiner Seite, wenn du einem Menschen von dieser Gesinnung zutrautest, daß er sein Wort halten werde, oder wenn du ihm nicht ohne allerlei Nebenabsichten eine Wohltat erzeigtest und nicht vielmehr in dem Gedanken, daß du von deiner Handlung selbst schon alle Frucht eingeerntet habest. Denn was willst du noch weiter, wenn du einem Menschen eine Wohltat erwiesen hast? Genügt es dir nicht, daß du deiner Natur gemäß etwas getan hast, sondern verlangst du noch eine Belohnung dafür? Als ob das Auge dafür, daß es sieht, oder die Füße dafür, daß sie gehen, einen Lohn fordern könnten! Denn wie diese Glieder dazu geschaffen sind, daß sie im Vollzug ihrer natürlichen Verrichtungen ihren Zweck erfüllen, so erfüllt auch der Mensch, zum Wohltun geboren, sooft er eine Wohltat erweist oder etwas für den allgemeinen Nutzen Förderliches leistet, seinen natürlichen Zweck und empfängt damit das Seinige.


Gute Nacht!

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