Mittwoch, 15. Mai 2013

Von der Einsamkeit

von Michel de Montaigne

Gewiß, der Mensch von Verstand hat nichts verloren, solang er sich selbst besitzt. Als die Barbaren die Stadt Nola verwüsteten, hatte dabei Paulinus, der daselbst Bischof war, alles das Seinige eingebüßt und war obendrein gefangengenommen.
Dennoch betete er folgendermaßen: »Behüte mich, lieber Herr Gott, daß ich diesen Verlust nicht fühle, denn du weißt, daß sie noch nichts von dem berührt haben, was mein ist.« – Die Reichtümer, die ihn reich, die Güter, die ihn gut machten, waren noch unangetastet. Darin eben besteht die Richtigkeit der Wahl der Schätze, die weder Motten noch Rost fressen, und des Orts ihrer Niederlage, wozu niemand gelangen und den niemand verraten kann als wir selbst.
Sorge derjenige, der's vermag, daß er Weib, Kinder, Vermögen und vor allen Dingen Gesundheit habe; aber laß ihn seine Seele nicht so fest daran hängen, daß er sein ganzes Glück darauf baue.
Man muß ein Hinterstübchen für sich absondern, in welchem man seinen wahren Freiheitssitz und seine Einsiedelei aufschlagen kann. Hier müssen wir vernünftigen Umgang mit uns selbst unterhalten; und zwar so abgesondert, daß darin keine andre Bekanntschaft oder Mitteilung fremder Dinge stattfinde. Hier mache man ernsthafte Überlegungen, und hier lache man, als ob man weder Frau noch Kinder, noch Verwandte, noch Hausgesinde hätte, damit, wenn der Fall eintreten sollte, daß man sie verlöre, es einem nicht schwer sei, sich ohne sie zu behelfen.
Unsre Seele ist, ihrer Natur nach, für alle Lagen geschickt. Sie ist fähig, sich selbst Gesellschaft zu sein; fähig anzugreifen; fähig sich zu verteidigen, zu empfangen und zu geben.


Gute Nacht!

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